Perspektiven der Straße
Im Willy-Brandt-Haus in Berlin wird derzeit eine sozialkritische Ausstellung der Fotografin Debora Ruppert präsentiert. Unter dem Titel „Stimmen der Straße“ erhalten obdach- und wohnungslose Menschen hier die Möglichkeit, ihre Geschichten zu erzählen.
Text: Schäfer, Theresa, Berlin
Perspektiven der Straße
Im Willy-Brandt-Haus in Berlin wird derzeit eine sozialkritische Ausstellung der Fotografin Debora Ruppert präsentiert. Unter dem Titel „Stimmen der Straße“ erhalten obdach- und wohnungslose Menschen hier die Möglichkeit, ihre Geschichten zu erzählen.
Text: Schäfer, Theresa, Berlin
„Ich fliege über den Wolken. Der Boden fehlt mir unter den Füßen. Ich bin nackt. Ich bin hilflos. Ich bin ab jetzt obdachlos“, schreibt Jana. Philipp erzählt: „In der Zeit meiner Obdachlosigkeit war ich allein und durchsichtig. Niemand hat mich gesehen – Albtraum.“ Die Worte berühren. Sie stehen unter kleinen Analogfotos, die die Erzählerinnen und Erzähler selbst mit Einwegkameras aufgenommen haben. Eins zeigt eine Bank im Park, auf ihr ein Brötchen und ein Buch. Ein anderes zeigt ein Duschmobil. Ein weiteres ein WG-Zimmer. Sie hängen dicht neben- und untereinander, ergänzt durch ein großes Portrait, einen Namen, eine Kurzvorstellung, einen QR-Code zu einem Video und eine handschriftliche Notiz darüber, was „Zuhause“ bedeutet. Grace schreibt: „Zuhause ist für mich ein Ort, an dem ich mich sicher und geliebt fühle. Ich bin mit Familie und Menschen zusammen, denen ich vertraue. Zuhause sollte ein Ort sein, an dem Menschen sich umsorgt fühlen und sie selbst sein können.“
16 Menschen berichten von ihre Erfahrungen mit Obdach- und Wohnungslosigkeit. Dabei befinden sie sich in ganz unterschiedlichen Situationen – manche sind erst seit kurzem wohnungslos, auf der Straße, in Notunterkünften, im Übergangswohnen, in besetzten Häusern. Einige sind endlich wieder in eine eigene Wohnung gezogen. Der persönliche und emotionale Zugang ermöglicht es den Besuchern Anknüpfungspunkte zu finden.
Fotografin Debora Ruppert spricht von der „Fragilität des Lebens“. Sie hält uns mit ihren Gesellschaftsportraits stets den Spiegel vor und weist unermüdlich auf Missstände hin. So steht die Ausstellung „Stimmen der Straße“ in einer Reihe von Projekten mit obdach- und wohnungslosen Menschen. Während frühere Arbeiten wie „Kein Raum“ (2017–2021) oder „Home Street Home“ (2023) Portraits der Menschen zeigten und Momente des Aufblühens festhielten, nachdem diese wieder eine Wohnung gefunden hatten, tritt die Fotografin in ihrer aktuellen Arbeit als Künstlerin bewusst in den Hintergrund. Vielmehr bietet sie eine Plattform und Werkzeuge und fungiert als eine Art Verstärkerin.
Die Videos dokumentieren die aktuelle Lebenssituation der Menschen und den gemeinsamen Prozess, in dem sie die Fotos auswählen. Die schlichte und einheitliche Aufmachung gibt eine Struktur vor, ohne vom Thema abzulenken, und verleiht der Ausstellung eine ernste, sachliche Ebene und Glaubwürdigkeit. Zugleich lebt sie von den Erzählungen und der Verdichtung von prägenden Erfahrungen. „Jahrelang habe ich eine Wohnung gesucht, eine neue für mich selbst. Weil ich habe im Fünften gewohnt. Ich schaffe es nicht mehr nach oben, weil mir tun alle Knochen weh. Dann habe gesagt, naja, dann gibt man halt mal eine Wohnung auf“, erzählt Björn in einem der Videos, das Debora Ruppert in einer Berliner Notunterkunft aufgenommen hat.
Alle Beteiligten kämpfen mit systemischen Problemen: hohe Mietpreise, psychische und körperliche Erkrankungen, Gewalt gegen Frauen. Zu den Ursachen des Wohnungsverlustes kommen dann noch Hindernisse bei der Wohnungssuche hinzu, wie eine schwerfällige, wenig flexible Bürokratie, Unterstützungsangebote, die oft nicht auf die Lebensrealität der Betroffenen zugeschnitten sind, sowie Diebstahl und der Verlust von Papieren im Leben auf der Straße. Gleichzeitig stehen sie in Konkurrenz zu Alleinerziehenden, Auszubildenden und Studierenden um bezahlbaren Wohnraum.
Passenderweise hat die Ausstellung im Willy-Brandt-Haus aktivistische Züge und ist im hinteren Bereich der Regine-Hildebrandt-Galerie zu finden, wo sie neben der ständigen Sammlung präsentiert wird. Die Platzierung wirkt fast wie ein Sinnbild – wenig Raum für ein gesellschaftlich dringliches Thema. „Als Kind lernte ich in der Schule, dass man das Einkommen folgendermaßen aufteilt: 25% für Miete, 25% für Instandhaltungskosten, 25% für Ersparnisse und Rente, und 25% für Konsum, um die Wirtschaft anzukurbeln. Die Realität heute sieht ganz anders aus. Steigende Mietkosten verschlingen oft 60 bis 70 Prozent des Einkommens“, beklagt David.
0 Kommentare