Kunst-, Musik- und Drogenmekka
Berlin in den 90ern: Nach dem Fall der Mauer befindet sich die Stadt in einem Transitraum zwischen Vergangenheit und Zukunft. Das C/O Berlin zeigt derzeit eine Schau, die ein breites Panorama jenes Jahrzehnts aufzieht.
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Kunst-, Musik- und Drogenmekka
Berlin in den 90ern: Nach dem Fall der Mauer befindet sich die Stadt in einem Transitraum zwischen Vergangenheit und Zukunft. Das C/O Berlin zeigt derzeit eine Schau, die ein breites Panorama jenes Jahrzehnts aufzieht.
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Kürzlich radelte ich durch die Berliner Friedrichstadt und bemerkte, dass das Eckhaus Friedrichstraße/Französische Straße eingerüstet und ohne Fassade dasteht. Dabei handelt es sich um einen Teil des Blocks „Hofgarten am Gendarmenmarkt“, der Mitte der 1990er Jahre entwickelt wurde und als eines der prägenden Projekte der damals umstrittenen „Neuen Berlinischen Architektur“ gilt, die Senatsbaudirektor Stimmann propagierte und für die vor allem Neubauten von Architekten wie Josef Paul Kleihues, Max Dudler, Jürgen Sawade und Hans Kollhoff standen. Hier fanden sie in schönster Eintracht zu einem Geviert vereint zusammen.
Kollhoff hatte bei seinem Projektteil das erste Mal die Schichtung von Natursteinfassadenplatten zu einem Bild von klassizistischer Tektonik erprobt, die er bei späteren Projekten noch plastischer ausarbeiten sollte. Der Block bietet sich geradezu als Baudenkmal der Nachwende-Architektur an und zeigt wie die Konzepte der „Kritischen Rekonstruktion“, wie sie während der Internationalen Bauausstellung 1984/87 entwickelt wurden, in der Nachwendezeit für neue Bauaufgaben in der Berliner Mitte – Büro- und Geschäftshäuser statt Sozialer Wohnungsbau – weiterentwickelt wurden. Wie immer man zu den damals so umstrittenen Resultaten stehen mag – dass die für die Berliner Architekturgeschichte bedeutende Fassade des Kollhoff-Baus nun demontiert wurde, zeigt, wie weit diese für die Stadtentwicklung so entscheidenden Jahre inzwischen in der Vergangenheit liegen.
„Träum weiter – Berlin, die 90er“ heißt eine Fotoausstellung im C/O Berlin, die das breite Panorama jenes Jahrzehnts aufzieht, und zwar anhand von etlichen lange nicht oder gar noch nie gesehenen Bildern der Fotoagentur Ostkreuz (ein paar bekannte Ikonen sind freilich auch darunter). Die 1990 von Ost-Berliner Fotografen gegründete und schnell respektierte Agentur setzte sich dafür ein, die Autorschaft der Fotografen auch im neuen kapitalistischen System zu verteidigen und eine Plattform für ihre Positionen im Metier zu schaffen – bald auch für Kollegen aus dem Westen. Sibylle Bergemann, Annette Hauschild, Harald Hauswald, Ute und Werner Mahler, Thomas Meyer, Jordis Antonia Schlösser, Anne Schönharting und Maurice Weiss sind die Namen der in der Schau im ehemaligen Amerikahaus präsenten Fotografinnen und Fotografen. Kuratiert von Boaz Levin und Annette Hauschild, ist „Träum weiter“ unbedingt einen Besuch wert – egal, ob man diese Jahre in Berlin erlebt hat oder nicht. Die damaligen Erfahrungen von Spontaneität und Improvisation, von urbanen Freiräumen und den sich rasch in ihnen etablierenden Clubs und Galerien, Kneipen und Theatern, Ateliers und Studios, legten schließlich den Grundstein für Berlins Aufstieg zum Kunst-, Musik- und Drogenmekka.
Auf der anderen Seite aber wurde bereits die Verwandlung und Verwertung all dieser Nischen und Brachen geplant. Dass diese Aufgabe auch tausende Architektinnen und Ingenieure aus aller Welt nach Berlin zog, ist ein Anlass, im C/O genauer hinzuschauen und zu reflektieren, welchen Anteil unser Berufsfeld daran hat, was Berlin heute ist – und was es nicht mehr ist. Anlass zum Stolz auf das Geleistete besteht ja durchaus: Man denke nur an die gelungene Sanierung von Stadtvierteln in Mitte und Prenzlauer Berg, die 1989 noch Ruinenlandschaften glichen.
Andererseits: Wo Licht ist, ist auch Schatten, in diesem Fall etwa der Preis, der für die in den späten 70er Jahren in Kreuzberg 36 erdachte „behutsame Stadterneuerung“ im Zuge ihrer Übertragung auf die neuen Verhältnisse zu zahlen war, nämlich die Verdrängung existierender Milieus zugunsten jener längst sprichwörtlichen Latte-Macchiato-Generation, die heute diese Quartiere prägen.
Ein anderes Beispiel ist die baulich-räumliche Wiederherstellung des Berliner Zentrums entlang der Schneise, die die Mauer in die Stadt geschlagen hatte. Wer heute vom Hauptbahnhof zum Checkpoint-Charlie dem Verlauf der Mauer folgt und nicht die Bilder im Kopf hat, wie es hier vor 34 Jahren aussah, sollte unbedingt einen Abstecher in die Hardenbergstraße machen, etwa um Sibylle Bergemanns Serie „Berlin. 1990-96“ zu betrachten, in der sich der einstige Todesstreifen nun unter dem grauen Berliner Himmel in Erwartung des Kommenden dehnt, oder die in klirrender Kälte entstandenen Bilder der Serie „Mauerland, 1998-99“ von Thomas Meyer. „Eine Stadt verschwindet, eine Stadt entsteht“, lautet der Titel dieses Ausstellungsteils, und die Verwandlung, die Berlin innerhalb von zehn Jahren durchlief, lässt einen noch heute staunen.
Mit all diesen Neubauten verschwanden allerdings auch Orte, die in ihren Anfangstagen noch als Subkultur galten, bald aber weltweites Renommee genossen, wie der Club „Tresor“ in jenem winzigen Rest von Messels Warenhaus Wertheim am Leipziger Platz. Thomas Meyer hielt das Geschehen dort im Jahr 2000 fest, und seine Serie ist nur ein Beispiel dafür, mit welcher Neugier und Empathie sich die Ostkreuz-Fotografinnen und -Fotografen der Techno-Szene widmeten.
Die Verhüllung des Reichstags durch Christo und Jean Claude im Sommer 1995 ist vielleicht das Ereignis, dass diese Verpuppung in einem dreiwöchigen Happening konzentrierte. Annette Hauschild hat „Die letzte Nacht, 1995“ dieses Kunstevents festgehalten, das Berlin in jenem Juni vielleicht zum fröhlichsten und heitersten Ort Europas machte.
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