2226 revisited: Nach der Prüfung im vorderen Bereich
Hat das Bürogebäude ohne Heizung und Kühlung die großen Erwartungen erfüllt?
Text: Aicher, Florian, Leutkirch
2226 revisited: Nach der Prüfung im vorderen Bereich
Hat das Bürogebäude ohne Heizung und Kühlung die großen Erwartungen erfüllt?
Text: Aicher, Florian, Leutkirch
Vor zehn Jahren begann Dietmar Eberle mit dem Bau des Bürohauses 2226 in Lustenau/Vorarlberg. Ein Jahr später gab er in der Bauwelt zu Protokoll: „Ich will selbst über das Verhältnis zu meiner Umgebung bestimmen.“ Er meinte damit, dass die Energiespar-Technik das Kommando übers Bauen übernommen hat. Als einer der Pioniere ökologischen Bauens stellt er fest, dass unter diesem Label eine Aufrüstung stattgefunden hat, die die ursprünglichen Ziele verschlingt – und den Nutzer gleich mit. „Dieser wird immer mehr zum Störfaktor technischer Systeme“, so seine Diagnose.
Was tun? Sich von all dem verabschieden. Gesagt, getan. Von 2011 bis 2013 entsteht ein Bürobau, ein weißer Würfel mit 24 Meter Seitenlänge, der ohne Heizung, ohne Lüftung, ohne Klimatisierung auskommt (Bauwelt 27–28.12 und 44.13). Der Aufschrei war riesig, die Fachleute – damals vorneweg das Energieinstitut Vorarlberg – prognostizierten ein Desaster.
Was tun? Sich von all dem verabschieden. Gesagt, getan. Von 2011 bis 2013 entsteht ein Bürobau, ein weißer Würfel mit 24 Meter Seitenlänge, der ohne Heizung, ohne Lüftung, ohne Klimatisierung auskommt (Bauwelt 27–28.12 und 44.13). Der Aufschrei war riesig, die Fachleute – damals vorneweg das Energieinstitut Vorarlberg – prognostizierten ein Desaster.
Es folgte der Bezug des Gebäudes. Alle Klimadaten sind aufgezeichnet und belegen, dass das Ziel, die Raumtemperatur zwischen 22 Grad und 26 Grad zu halten – daher sein Name 2226 –, durchgehend erreicht wurde. Mit einer Einschränkung: Während der heißen Sommer der letzten Jahre mit um 35 Grad im Rheintal kletterte die Temperatur einige Male auf 28 Grad.
Wie das? Zuerst ist mit dem Nutzer zu rechnen. Der trägt Temperatur, Feuchtigkeit, Geräte (mit Abwärme), eigene Gewohnheiten ins Haus. Dann gilt es, sich nicht nur statisch an Dämmung zu orientieren, sondern auch Speicherung in dynamischer Wechselwirkung in Rechnung zu stellen; einfache Konstruktionen (Außenwand: Kalkputz, 75 Zentimeter Ziegel, Kalkputz. Decke: Beton) werden möglich. Schließlich spielen Raum- und Wandproportionen mit; ausgeglichene Befensterung und hohe Räume ergebenzusammen ein zuträgliches Raumklima. Sensorgesteuerte Lüftungsklappen sichern bei Querlüftung den Luftaustausch. Architekt Eberle sagt dazu: „Raumproportion, Massivität, Trägheit, inneres Strahlungsverhalten, maßvolle Befensterung und wenige Materialien gehören zusammen“. Für Dietmar Steiner, seinerzeit Direktor des Architekturzentrums Wien, lehrt dieses Haus: „Befreien wir uns vom Irrweg einer Herrschaft der Technologie über das Bauen und folgen wir dem Weg einer Architektur, die wieder ganzheitlich das Bauen in eine gesellschaftliche und kulturelle Verantwortung einbindet. 2226 zeigt, dass es heute eine Architektur gibt, die allein kraft ihrer Materialität und Bauweise energetisch nachhaltig ist.“
Soweit die Kurzfassung der Geschichte, die hinlänglich bekannt ist. Erstaunlich ist nur, dass in Zeiten eines grün-beschwingten und einem Friday-for-Future-bewegten Deutschland sich niemand sonderlich dafür zu interessieren scheint.
Das ist in Vorarlberg etwas anders. Grundlagen ökologischen Bauens sind dort Standard, und um die Umsetzung wird gerungen. Und wenn etwas überzeugt, kann man einen alten Streit beilegen. So kommt es, dass heute die größten Kontrahenten von einst zusammenarbeiten.
Prüfung
Das Energieinstitut Vorarlberg hat sich des Hauses 2226 angenommen und eine umfangreiche Studie erstellt, die im April dieses Jahres präsentiert wurde. Untersucht wurde: Wie verhält sich die dynamische Gebäudesimulation, die im Vorfeld von jedem 2226-Projekt erstellt wurde, im Verhältnis zu den real gemessenen Werten. Dabei wurde aufbauend auf der reale Nutzung 2018 (Energieeinträge durch Nutzer, Computer, Beleuchtung) und dem realen Wetterverlauf von 2018 eine neue dynamische Gebäudesimulation durchgeführt. Im Anschluss wurden die simulierten Ergebnisse von Temperaturen, CO2-Werte, Luftfeuchtigkeit und der Energieverbrauch mit den real gemessenen Werten abgeglichen und eine 97prozentige Übereinstimmung erzielt, wodurch das Planungsverfahren vor zehn Jahren und die Sicherheit der Funktionalität bestätigt worden sind.
Beim Energiebedarf pro Quadratmeter und Jahr wurde das Haus 2226 unter Zugrundelegung der tatsächlichen Nutzung simuliert (2226 Sim) und gemessen (2226 M) mit einem Haus nach Passivhausstandard (PH) und mit einem Haus nach geltenden bautechnischen Verordnungen (BTV) verglichen. Das Ergebnis: Die Messung liegt etwas unter der Simulation und geringfügig (3,8 kWh/(m2a) über dem Passivhaus, jedoch deutlich (13,9 kWh/(m2a) unter dem nach bautechnischen Verordnungen. Bedenkt man, dass das Haus, bei dessen Konzeption die Nutzung eine wesentliche Rolle spielte, derzeit kaum zur Hälfte des zulässigen Maßes genutzt wird, so ist zu erwarten, dass es den niedrigsten Wert aufweisen würde. Festgestellt wird in jedem Fall, dass das Haus im vorderen Bereich sehr effizienter Bürogebäude liegt.
Bei der Ökobilanz wurde auf einen Zeitraum von 100 Jahren gerechnet. Die Frage, wie Ziegel oder Holz zu Buche schlagen, wird bei dieser Berechnung durch entsprechende Beiwerte beantwortet. Das Ergebnis: Das Haus 2226 M liegt beim Global Warming Potential (GWP) vor dem Passivhaus (PH) und dem Haus nach bautechnischen Verordnungen (BTV). Die Studie spricht bei dieser Wertung allerdings von einer groben Einordnung, da Betrieb und Einrichtung unterschiedlich bewertet werden können. Zu bedenken ist, dass beim PH als auch BTV Dämmung und Energietechnik im Zyklus von 30 Jahren ausgetauscht werden müssen; das entfällt beim gemessenen Haus 2226 M, wo es schlicht nichts auszutauschen gibt.
Damit kommt das Energieinstitut Vorarlberg zudem Schluss, dass das „konsequente, in sich geschlossene und stimmige Konzept“ von 2226 energie- und CO2-sparendem Bauen gerecht wird und die dynamische Simulation anderen Berechnungsverfahren rechtlich gleichzustellen sei. Die nach diesem Konzept geplanten Gebäude sind konsequenterweise in die Förderkulisse des Landes aufzunehmen.
Die Beweisführung von 2226 heißt Praxis. Dietmar Eberle setzt trotz mancher Hindernisse um wo andere sich mit Eindruck heischender Theorie sperren und meint dazu: „Heute herrscht Digitale Determinierung, Verabsolutierung der Berechenbarkeit; empirisches Wissen dagegen können wir erleben, es lebt als Erfahrungswissen leibhaftiger Menschen.“ Aus Erfahrung kommt der Anstoß. Wenn dann das Ding in der Welt ist, hat die Theorie ein neues Niveau. Und auf den Initialbau folgen andere.
2018 wird in Emmen, einer Gemeinde im Umbruch im Industriegebiet Luzern Nord, ein Bürogebäude nach dem Prinzip 2226 bezogen (Bauwelt 24.2019). Der viergeschossige Neubau mit ausgebautem Dach geht auf einen Wettbewerb zurück und ersetzt auf einem historischen Industrieareal präzise den 100 Jahre alten, baufälligen „Crinolbau“ in Volumen und Silhouette; mit dem Walmdach reiht es sich in die umliegenden Industriebauten ein; mit knappen Details, tiefliegenden Fenstern und hellem Kalkputz ist es ein 2226-Bau nach Lustenauer Vorbild, diesem baukonstruktiv und in technischen Details verpflichtet. Der Emmener Baudirektor Josef Schmidli befindet: „Für Emmen als Energiestadt ist dieser innovative Bau zukunftsweisend“. Die Jury beton-te damals: „Das selbstbewusste Gebäude verhilft dem Ensemble zu einer neuen, starken Identität.“
2019 eröffnet in der Dorfmitte von Lingenau im Bregenzerwald ein weiterer Neubau nach dem Prinzip 2226 – ein Therapiezentrum mit Wohnungen. Der Unterschied zum Vorgenannten könnte kaum krasser sein: Dort Industriekonversion mit Steinbau, hier Bauernland mit Fremdenverkehr und ausgeprägter Holzbaukultur. Der Bau bleibt mit drei Geschossen (das Erdgeschoss wird hangseitig zum Untergeschoss), Dachausbau und Walmdach im Rahmen der großen Bauernhäuser und Amtsbauten. Ebenso ortsgebunden ist sein Kleid aus typischen Schindeln, das 45 Zentimeter Ziegelwand umhüllt anstelle des harten Sumpfkalks. Hohe Fester mit Schiebeläden aus Holzschalung sind mit traditionellen Details wie „Wurf“ und Vordach mit Hohlkehle kombiniert. Die automatische Lüftungsklappe ist in die Laibung integriert, dafür gibt es händisch bedienbare Fensterflügel. Flache Schleppgauben im Alm-erprobten Blechdach erschließen tief eingeschnittene Balkone hinter dem Vordach. Im Unterschied zu den beiden Vorgängerbauten, bei denen die Beleuchtung Temperaturdefizite ausgleicht, übernimmt das hier der Badezimmerspiegel mit Infrarot-Heizfunktion.
2020 wird in Dornbirn eine kleine Wohnanlage mit acht Einheiten auf zwei Geschossen bezogen – das erste reine Wohnhaus nach dem Prinzip 2226. Da beim Wohnen nutzungsbedingt mit geringerem Energieeintrag zu rechnen ist, ist auf dem flachen Dach eine Photovoltaik-Anlage integriert mit Batterie im Keller für Brauchwasser und Gebäudetemperierung, ergänzt um Infrarotpaneele für Spitzenlast – annähernd energetisch autark. Die Wände bestehen aus 50 Zentimeter gedämmtem Ziegel mit beidseitigem Kalkputz. Die Fenster im französischen Format haben gewöhnliche Drehflügel, ergänzt durch automatischen Lüftungsmechanismus und Jalousien. Das 30 Meter lange Gebäude am Rand der Rheintal-Agglomeration ist städtischem Charakter verpflichtet, folgt gestaffelt dem Gelände und Straßenverlauf und verfügt über eine Tiefgarage. Die finanzielle Auswirkung eines weitgehenden Verzichts auf herkömmliche Haustechnik erleichtert Wohnungsbau gerade in Ballungsräumen. Fragt man Bewohner, so hört man: Gutes Wohnklima, gehobener Standard, grün, ruhig und bei Stromkosten für Licht, Warmwasser, Heizung von 30 Cent pro Quadratmeter ein guter Grund zur Freude. 2021 steht ein Wohnquartier in Lustenau vor der Genehmigung; in vier Häuser, erdgeschossig öffentliche und gewerbliche Nutzung, in vier Obergeschossen 86 Wohnungen. Ebenfalls in Planung: ein Komplex von 20.000 Quadratmeter Bürofläche auf dem NZZ-Areal in Schlieren bei Zürich, ein „Think- und Work-Tank für Wissens-transfer, Innovation und Unternehmertum“, Fertigstellung 2023; laut Projektentwickler JED ist der Neubau nach dem Prinzip 2226 „der wohl ökologisch fortschrittlichste Arbeitsraum der Schweiz“. Ebenfalls in Planung ist ein Komplex von drei Bauten in der Seestadt Aspern in Wien, zwei Bürobauten sowie ein Bau mit Lehrsälen für die Universität Wien. In Straubing ist ein Wohnquartier in Planung; zwei gleichgroße Anlagen werden sich gegenüber liegen – die eine konventionell errichtet, die andere folgt 2226.
Die Projekte werden jeweils von Regionalbüros der Architekten geplant. In die Bürostruktur ist als eigenständiges Büro die „2226 AG“ integriert, die Fachplanung zu bauphysikalischen Aspekten, Bauteilekatalog und Haussteuerung anbietet – eine Leistung, die auch hausfremden Planern zur Verfügung steht, etwa Gigon/Guyer Architekten mit einem Projekt in Luzern.
Ein Jahrzehnt Entwicklung: 2226 belegt, dass CO2-Reduktion mit einfachem und kostensparendem Bauen vereinbar ist.
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