Markthal Rotterdam
Wohnzeile plus Wohnzeile plus Wochenmarkt gleich bewohnbare Markthalle? In bester niederländischer Manier schieben MVRDV Typologien zusammen, die bislang nicht zusammengehörten. Ohne Scheu vor der Großform ist in Rotterdam etwas Realität geworden, das anderswo Konzept geblieben wäre
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
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Nach fünfjähriger Bauzeit wurde die neue Markthalle am 1. Oktober eröffnet: die Ostseite, im Hintergrund die Laurenskerk
Foto: Scagliola/Brakkee
Nach fünfjähriger Bauzeit wurde die neue Markthalle am 1. Oktober eröffnet: die Ostseite, im Hintergrund die Laurenskerk
Foto: Scagliola/Brakkee
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Lageplan im Maßstab 1:5000
Zeichnung: MVRDV
Lageplan im Maßstab 1:5000
Zeichnung: MVRDV
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Blick über die Station „Blaak“ hinweg.
Foto: Ossip van Duivenbode
Blick über die Station „Blaak“ hinweg.
Foto: Ossip van Duivenbode
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Ausblick auf die Laurens-kerk von einer der Wohnungen im nördlichen Trakt
Foto: Scagliola/Brakkee
Ausblick auf die Laurens-kerk von einer der Wohnungen im nördlichen Trakt
Foto: Scagliola/Brakkee
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Die Innenverkleidung der Halle besteht aus 4500 Alu-Paneelen, je 1,52 x 1,52 m groß.
Foto: Scagliola/Brakkee
Die Innenverkleidung der Halle besteht aus 4500 Alu-Paneelen, je 1,52 x 1,52 m groß.
Foto: Scagliola/Brakkee
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Erdgeschoss
Zeichnung: MVRDV
Erdgeschoss
Zeichnung: MVRDV
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1. Obergeschoss
Zeichnung: MVRDV
1. Obergeschoss
Zeichnung: MVRDV
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2. Obergeschoss
Zeichnung: MVRDV
2. Obergeschoss
Zeichnung: MVRDV
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10. Obergeschoss
Zeichnung: MVRDV
10. Obergeschoss
Zeichnung: MVRDV
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11. Obergeschoss
Zeichnung: MVRDV
11. Obergeschoss
Zeichnung: MVRDV
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Schnitt im Maßstab 1:750
Zeichnung: MVRDV
Schnitt im Maßstab 1:750
Zeichnung: MVRDV
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Die Gläser der Stirnseiten hängen an einem Netz aus Stahlseilen, jedes unter 30.000 kg Spannung, um die Windlasten aufnehmen zu können (bis zu 70 cm in beiden Richtungen)
Foto: Scagliola/Brakkee
Die Gläser der Stirnseiten hängen an einem Netz aus Stahlseilen, jedes unter 30.000 kg Spannung, um die Windlasten aufnehmen zu können (bis zu 70 cm in beiden Richtungen)
Foto: Scagliola/Brakkee
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Die zentrale Verbindung zu den vier Untergeschossen, in denen sich 1200 Auto-Stellplätze und ein Supermarkt befinden
Foto: Scagliola/Brakkee
Die zentrale Verbindung zu den vier Untergeschossen, in denen sich 1200 Auto-Stellplätze und ein Supermarkt befinden
Foto: Scagliola/Brakkee
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Eine Wohnung mit Innenfenster im Rohbau
Foto: MVRDV
Eine Wohnung mit Innenfenster im Rohbau
Foto: MVRDV
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Beiderseits der 96 Marktstände (á 20 m2) sind in Erdgeschoss und 1. Obergeschoss zwanzig Läden und acht Gastronomie-Einheiten untergebracht. Darüber liegen die 228 Wohnungen.
Foto: Scagliola/Brakkee
Beiderseits der 96 Marktstände (á 20 m2) sind in Erdgeschoss und 1. Obergeschoss zwanzig Läden und acht Gastronomie-Einheiten untergebracht. Darüber liegen die 228 Wohnungen.
Foto: Scagliola/Brakkee
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Der Bautyp der Markthalle, lange Zeit als Relikt des 19. Jahrhunderts betrachtet und – traurigstes Beispiel Paris – abgerissen, erlebt in den letzten Jahren eine Wiederentdeckung. Märkte mit frischen, unverpackten Produkten aus dem Umland ziehen, zumal in den Trend-Metropolen, ob London oder Berlin, eine kaufkräftige Schicht umweltbewusster Mittelständler an, finden jedoch in der Regel nur ein- oder zweimal pro Woche statt. Die Alternative ist die Markthalle – mit fest installierten und vermieteten Ständen, mit täglicher Öffnung und – im Konkurrenzkampf gegen Shoppingcenter als gewichtiges Argument hochaktuell – mit Schutz vor Wind und Wetter.
Das mit „Wind und Wetter“ mussten sich insbesondere die Rotterdamer Investoren, Architekten und Stadtplaner zu Herzen nehmen, die die Markthal erdachten und errichteten. Zum maritimen Klima der Stadt gehören heftige Windböen und viel Regen sowieso. Dagegen galt es, die Markthalle zu präparieren, die doch zugleich durch ihre zumindest optische Offenheit ein Gegenmodell sein will zur herkömmlichen, vierseitig geschlossenen und von oben mit Tageslicht erhellten Markthalle.
Immerhin handelt es sich um den ersten überdachten Markt in den Niederlanden. Der Immo-bilienentwickler Provast aus Den Haag suchte sich nach einem ersten Ideenwettbewerb im Jahr 2004 mit dem Rotterdamer Büro MVRDV – dem später das Büro Inbo aus Amsterdam zur Seite gestellt wurde – eine für überraschende Lösungen bekannte Architekturfirma mit inter-nationalem Renommee. Für die Markthalle hatten MVRDV eine bislang einzigartige Lösung vorgeschlagen. Statt über die ebenerdige Grundfläche, auf der später die Marktstände stehen sollten, lediglich ein Dach zu spannen, verban-den sie die beiden völlig unterschiedlichen, ja eher gegensätzlichen Gebäudetypen „Halle“ und „Geschossbau“ zu einer hybriden Form, die in einer zweijährigen Entwurfsphase zwischen 2006 und 2008 ihre endgültige Gestalt annahm.
Die insgesamt 100.000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche umfassende Attraktion hat sich der Developer 175 Millionen Euro kosten lassen. Die Stadt ebnete alle baurechtlichen Wege, galt es doch, ein gegen Ende des 20. Jahrhunderts immer stärker heruntergekommenes Quartier gründlich aufzuwerten. Die nach dem Bau
eines Tunnels Richtung Rotterdam-Süd aufgelassene und später abgerissene Viaduktstrecke der Eisenbahn, die ihrerseits Ende des 19. Jahrhunderts den namengebenden Fluss Rotte verdrängt hatte, gab zwar einem Wochenmarkt Platz, der sich – anders als die neue Markthalle – an ein erkennbar wenig kaufkräftiges Publikum richtete, doch zugleich verkam die Gegend, immerhin die Keimzelle Rotterdams im späten Mittelalter, zu einer No-go-Area von Drogenhandel und Kriminalität. Das hat sich nach Eingriffen wie dem Abriss von vernutzten Gebäuden der Nachkriegszeit bereits stark verbessert, und so soll das Quartier im Schatten der Laurenzkirche, verkehrlich durch die in Rufweite liegende Metro-, Tram- und Eisenbahnstation „Blaak“ hervorragend erschlossen, nunmehr einen Schub in Richtung prosperierenden Mittelstands bekommen – jener Klientel, die Lokalpolitiker allerorten für den urban renewal umwerben.
Thermik und Windlast
Zwei parallel zueinander stehende Gebäuderiegel von jeweils 120 Metern Länge wachsen elf Obergeschosse in die Höhe und lassen zwischen sich eine 40 Meter breite Fläche für den Markt frei. Mit zunehmender Höhe neigen sich die Riegel nach innen, bis sie einander auf der Höhe des obersten Geschosses berühren. Konstruktiv gesehen sind sie miteinander verbunden. Die Grundfläche ist vollständig überdacht. Das Gebäude ist 40 Meter hoch und steht auf 2500 Bohrpfählen. Die beiden Schmalseiten bleiben unverbaut, denn irgendwoher muss das Tageslicht für die Marktstände kommen. Da kommen Wind und Wetter ins Spiel: Wegen des Klimas, aber auch wegen der unvermeidlichen thermischen Winde im Inneren einer solchen Röhre, mussten die Schmalseiten geschlossen werden. MVRDV wählten dafür eine Verglasung auf Stahlseil-Gitternetz, das eine maximale Verformung durch Windlast von 70 Zentimetern gestattet. Ansonsten ruht das Bauwerk fest in der Masse seiner – der Developer hat’s berechnet – exakt 117.112 Tonnen Gesamtgewicht.
Für das äußere Erscheinungsbild charakteristisch ist das Zurücktreten eines jeden Obergeschosses gegenüber dem darunter liegenden um zunächst wenige, dann immer mehr Zentimeter. Die Bogenform des Gebäudes ist an seinen Längsseiten deutlich ablesbar. Nun beherbergen die beiden Gebäuderiegel nicht, wie man vermuten könnte, ausschließlich Büroräume, sondern überwiegend Apartments. Nur die beiden ersten und tageslichtärmsten Obergeschosse sind für Büronutzung ausgelegt. 128 Eigentums- und 102 Mietwohnungen in Größen von 80 bis 140 Quadratmetern zur Miete und bis zu 300 Quadratmetern zum Kauf sind insgesamt vorhanden, wobei die größten Einheiten als Penthouses wie üblich auf den beiden obersten Ebenen platziert worden sind. Die Herausforderung des architektonischen Entwurfs bestand darin, die Wohnungsgrundrisse so anzuordnen, dass die tageslichtabhängigen Räume auf den Außenseiten liegen, nach innen, zur Halle hin, mithin nur Serviceräume und Verkehrswege. Der Clou ist, dass auch diese Räume Fenster haben und die Bewohner so auf den Marktbetrieb hinunterschauen können. Aus Brandschutzgründen sind die Fenster nicht zu öffnen; mit zunehmender Geschosszahl neigen sie sich immer stärker zur Halle, müssen also gegebenenfalls Belastungen standhalten. Bei der Besichtigung des Gebäudes warnte in den Penthouse-Wohnungen ein Schild davor, die dort oben fast waagerecht in den Boden eingelassenen Fenster zu betreten. Hoffentlich halten sich später auch die Bewohner daran.
Als Kompensation für die ansonsten einseitige Befensterung haben alle 228 Wohnungen großzügige, bündig in die Fassade eingelassene Loggien. Die Außenseiten der Halle sind vollständig verglast, einschließlich der Balkonbrüstungen, so dass der Blick aus den fließend angeordneten Wohnräumen ungehindert nach draußen geht. Das ist auf der Nordseite, wo eine weite Grünfläche bis zur gegenüberliegenden Bebauung im Schatten der nach dem Krieg wiederaufgebauten Laurenskerk reicht, angenehm bis spektakulär, allerdings ohne direkte Sonnenstrahlen; auf der Südseite hingegen hat man zwei benachbarte Bürogebäude vor Augen. Trotzdem waren die 102 Mietwohnungen lange vor Fertigstellung des Gebäudes vergeben. Bei den Eigentumswohnungen hielt sich das Interesse verständlicherweise zurück, bis Erfahrungen mit dem Marktbetrieb und der vermuteten Belästigung durch Geräusch und Geruch vorliegen. Wer zahlt schon bis zu 1,2 Millionen Euro (für die größten Einheiten), wenn er andauernd den Ausrufer vom Käsestand hören und die Ausdünstungen der Ware riechen muss?
96 Markstände und acht Restaurants teilen sich die 4000 Quadratmeter Hallenfläche so, dass zwischen den Standreihen angenehm breite Wege verbleiben. In der Mitte der Halle führt ein nach unten gerichtetes Atrium mit Treppen und Rolltreppen in die vier Untergeschosse des knapp 15 Meter tief reichenden Bauwerks. Die Untergeschosse bergen 1200 Kfz-Stellplätze, die über eine Zufahrt an der westlichen, eng umbauten Schmalseite zu erreichen sind. Im ersten Untergeschoss belegt allerdings auch die landesweit führende Supermarktkette Albert Heijn eine große Fläche, für all das, was die Marktstände nicht anbieten – eine Konzession an den aufs Auto versessenen Mittelstand, der in den vergangenen Jahrzehnten in der Peripherie Rotterdams heimisch geworden ist und nun – so das von Bau-Bürgermeister Roland Schneider unterstrichene stadtplanerische Ziel – mit der Attraktion Markthal wenigstens zum Einkaufen in die Stadt zurückgelockt werden soll.
Und auf solche, auch ästhetisch anspruchsvolle Kunden zielt die größte Überraschung der Markthal: das die gesamten 11.000 Quadratmeter Innenfläche des Gewölbes bedeckende Werk „Hoorn des Overfloeds“ (Füllhorn) der beiden ortsansässigen Künstler Arno Coenen und Iris Roskam. Die fotorealistische, insgesamt 1,4 Tera-byte große 3D-Simulation stellt auf 4500 Alu-minium-Paneelen Blumen, Getreide, Früchte und Gemüse im Sonnenlicht dar, alles scheint auf den Betrachter herabzuregnen. Ein paar Insekten sind auch zu sehen, aber nur eine Raupe. Es galt offenbar, Rücksicht auf empfindliche Kundschaft zu nehmen.
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