Das Nationalmuseum von Katar
Das Emirat am Golf präsentiert sich und seine Geschichte hinter einer wild verschachtelten Komposition von 539 Rundscheiben. Der Architekt Jean Nouvel nahm sich eine kristalline Sandrose in der Wüste als Inspiration. Das Museum wurde Ende März eröffnet.
Text: Wainwright, Oliver, London
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Das Museum breitet sich mit seinen Scheiben an der Schnellstraße etwas südlich der Corniche von Doha aus. Ganz in der Nähe liegt das 2008 eröffnete Museum für Islamische Kunst von Ieoh Ming Pei.
Foto: Iwan Baan
Das Museum breitet sich mit seinen Scheiben an der Schnellstraße etwas südlich der Corniche von Doha aus. Ganz in der Nähe liegt das 2008 eröffnete Museum für Islamische Kunst von Ieoh Ming Pei.
Foto: Iwan Baan
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Die stehenden und liegenden Scheiben des Museums sind mit tausenden Paneelen unterschiedlichen Zuschnitts verkleidet.
Foto: Iwan Baan
Die stehenden und liegenden Scheiben des Museums sind mit tausenden Paneelen unterschiedlichen Zuschnitts verkleidet.
Foto: Iwan Baan
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Die Scheiben kippen in alle Richtungen und bilden ein einzigartiges Raumgebilde mit vielen Aus- und Einblicken. Sie haben einen Durchmesser von 14 bis 87 m und sind alle entsprechend ihrer Lage im Gebäude eingeschnitten.
Foto: Iwan Baan
Die Scheiben kippen in alle Richtungen und bilden ein einzigartiges Raumgebilde mit vielen Aus- und Einblicken. Sie haben einen Durchmesser von 14 bis 87 m und sind alle entsprechend ihrer Lage im Gebäude eingeschnitten.
Foto: Iwan Baan
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Die Lamellen sind mit Leichtbeton-Platten verkleidet.
Foto: Iwan Baan
Die Lamellen sind mit Leichtbeton-Platten verkleidet.
Foto: Iwan Baan
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Die Komposition scheint beim nächsten Windstoß zusammenzustürzen.
Foto: Iwan Baan
Die Komposition scheint beim nächsten Windstoß zusammenzustürzen.
Foto: Iwan Baan
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Das Leitbild Wüsten-Sandrose.
Foto: Sebastian Redecke
Das Leitbild Wüsten-Sandrose.
Foto: Sebastian Redecke
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Nur in wenigen Teilen des Gebäudes sind innen die Scheiben erlebbar. Es dominieren Ausstellungsinstallationen.
Foto: HG Esch
Nur in wenigen Teilen des Gebäudes sind innen die Scheiben erlebbar. Es dominieren Ausstellungsinstallationen.
Foto: HG Esch
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Der königliche Palast von 1906 wurde in den Neubau integriert.
Foto: ZRS Ingenieure
Der königliche Palast von 1906 wurde in den Neubau integriert.
Foto: ZRS Ingenieure
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Die Ausstellungskonzeption des Geschichts- und Naturkundemusems dominieren großformatige Projektionen.
Foto: Iwan Baan
Die Ausstellungskonzeption des Geschichts- und Naturkundemusems dominieren großformatige Projektionen.
Foto: Iwan Baan
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Der Parcours der ständigen Ausstellung mit leicht geneigten Wänden und Böden ist 1,5 km lang.
Foto: Iwan Baan
Der Parcours der ständigen Ausstellung mit leicht geneigten Wänden und Böden ist 1,5 km lang.
Foto: Iwan Baan
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Die riesigen Räume auf 7000 m2 sind für eine Sammlung gebaut, die sie noch nicht füllen kann.
Foto: Iwan Baan
Die riesigen Räume auf 7000 m2 sind für eine Sammlung gebaut, die sie noch nicht füllen kann.
Foto: Iwan Baan
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Blick auf das Museum vom westlich gelegenen Stadtquartier Al Hitmi
Foto: Iwan Baan
Blick auf das Museum vom westlich gelegenen Stadtquartier Al Hitmi
Foto: Iwan Baan
Hunderte von riesigen weißen Tellern liegen in einem wirren Haufen an der Schnellstraße von Doha. Es sieht so aus, als hätte jemand einen spektakulären Unfall mit einem gigantischen Geschirrschrank gebaut. Die keramikartigen Scheiben kippen in einem wilden Durcheinander am Rand der Straße in alle Richtungen: Eine unwirkliche Landschaft aus vorspringenden Dächern, Terrassen und rätselhaften Fensterschlitzen.
Dieser Haufen ist das neue Nationalmuseum von Katar, ein erstaunliches Werk des Architekten Jean Nouvel, und der neueste Coup im kulturellen Wettrennen der Golfstaaten. Im Kampf um immer ausgefallenere Kunstschauplätze hat sich Nouvel als der Lieblingsarchitekt der Region etabliert. Vor zwei Jahren erst eröffnete er das glitzernde „Sieb“ des Louvre Abu Dhabi, dessen metallische Kuppel einen Kulturpalast von unerhörter Opulenz überspannt (
Bauwelt 2.2018). Jetzt meldet sich der Architekt erneut mit einem weiteren gigantischen Kulturgebäude für den Erzrivalen der Emirate zurück. Im weitläufigen 1,5 Kilometer langen Galerierundgang erzählt das Museum jene Geschichte nach, wie aus dieser winzigen Nation von Beduinen-Nomaden und Perlentauchern durch die Entdeckung natürlicher Erdgasvorkommen in nur fünfzig Jahren das Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt geworden ist.
„Architektur ist die Zeitzeugin der Epochen“, sagt Nouvel, der in der altbekannten Kluft – schwarze Lederjacke und breitkrempiger schwarzer Hut – unter seinen himmelwärts strebenden Betonscheiben steht. „Dieses Gebäude hier ist Zeuge für einen ganz besonderen historischen Moment für Katar – für diese entscheidende Zeit der gewaltigen Umbrüche.“ Heute ist der phänomenale Einfluss des Erdgas-Giganten in der ganzen Welt deutlich spürbar. In London kaufte das kleine Land alles auf, was irgend ging – von Canary Wharf über das Olympic Village bis zu Chelsea Barracks und Elephant and Castle, dazu Harrod’s als dem symbolischen Kronjuwel im Luxusportfolio – und mittlerweile besitzt Katar in Großbritannien mehr Grund als die Queen. Die in Deutschland getätigten Investitionen von deutlich über 25 Milliarden Euro konzentrieren sich in erster Linie auf den Automobilbau, auf Informations-Technologien und das Bankwesen. Auch auf dem internationalen Kunstmarkt sucht die Kaufkraft des Landes ihresgleichen. Welche Form, so die Frage an Nouvel, könnte also am besten diese wundersame nationale Erfolgsstory repräsentieren?
Nouvels erster Impuls war, den Komplex zur Gänze unter die Erde zu legen. Wie eher zu erwarten, stieß diese Idee allerdings nicht auf die ungeteilte Begeisterung seiner Auftraggeber, die sich deutlich mehr Sichtbarkeit erwarteten, einen Entwurf, der klar an Nouvels bisherige Erfolge in der Region anknüpfen sollte. Seinen Ruf für auffällige Architektur hatte sich Nouvel immerhin längst erarbeitet. Als Katars ehemaliger Kultusminister, Scheich Saud, der Torre Agbar des Architekten in Barcelona ansichtig wurde, fasste er den Entschluss, so etwas wolle er für seine Hauptstadt ebenfalls haben. Das war die Geburtsstunde des 2012 fertig gestellten Doha Tower, dessen stolzem Phallus ein schimmernder Maschrabiyya-Überzieher verpasst worden war. Es folgte, auch aus der Feder von Nouvel, eine – allerdings nicht umgesetzte – Masterplanung für die Strandpromenade an der Doha Corniche.
Für das Museum erhielt der Architekt den Auftrag, eine spektakuläre, eine unverwechselbare Form zu entwickeln, doch bitte keine unsichtbareunterirdische Galerie. Zurück am Zeichenbrett nahm sich das Team die Wüstenrose als Inspiration. Diese auch Baryt- oder Sandrose genannte filigrane Gesteinsformation bildet sich, wenn Mineralien unter der Hitze der Wüste im lockeren Sandboden direkt unter der Oberfläche flacher Salzpfannen auskristallisieren. „Es ist eine Form, die aus dem Zusammenwirken von Wüste und Zeit entsteht, eine Struktur aus unendlich wiederholten Über- und Unterschneidungen“, erklärt Nouvel. „Die Form ist vollkommen irrational. Und es war eine große Herausforderung, denn niemand weiß, wie es im Inneren aussieht.“
Der Architekt verfolgte sein Sandrosen-Konzept mit beinahe absurder Konsequenz. Das Gebäude ist keine Metapher, sondern „echt“, ein Nachbau in tausendfacher Vergrößerung. Jeder Teil des Komplexes wird durch die einander schneidenden Scheiben gebildet, deren Durchmesser von 14 bis hin zu 87 Metern beträgt. Die Scheiben bilden Stützen, Querbalken, Wände, Böden, Fensterrahmen und vorspringende Schatten-Dächer aus. Ein derartig wörtlich genommener Ansatz könnte auch übertrieben wirken, wie häufig in Arbeiten von Architekten, die eine geometrische Grundidee (etwa Honigwaben oder Bubbles) rigide durchexerzieren, doch erstaunlicher Weise funktioniert es dieses Mal tatsächlich. Der Bau schließt an die surreal-konkrete Objekthaftigkeit von Claes-Oldenburg-Skulpturen an, zugleich sorgte die fließende Platzierung der Scheiben für eine gewisse Flexibilität im Grundriss, und für Entdeckerfreude an jenen zufälligen Raumen, welche die Konstruktion sowohl außen als auch im Gebäudeinneren bereithält.
Die kristalline Riesenrose wächst unmittelbar neben einem königlichen Palast aus den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts, der von Ziegert Roswag Seiler, Berlin, restauriert wurde. Neben den zerstörerischen Auswirkungen von Feuchtigkeit und Salz musste man dabei auch gegen die Verheerungen des in einer früheren Restaurierung aus den 1970er Jahren eingesetzten Gipsbetons anarbeiten. Der Palast gilt als das bedeutendste Baudenkmal in Katar und war einst Wohnsitz von Scheich Abdullah bin Jassim Al-Thani, Sohn des Staatsgründers, und diente ehemals als Regierungssitz. Zu einem späteren Zeitpunkt sollen hier weitere Ausstellungsräume Platz finden, doch bisher wirkt der leere Palast noch als unberührtes Relikt, wie ein weiteres von Nouvels Scheiben gefasstes Exponat.
539 Scheiben
Achtzehn Jahre lang dauerten die Arbeiten für den Bau, das Projekt erwies sich in der Umsetzung als höllisch komplexes Vorhaben. Die 539 Scheiben sind mit 76.000 fiberglas-verstärkten Paneelen aus Beton verkleidet. Dies machte technische Verrenkungen erforderlich, die nur durch eine in Frank Gehrys Büro entwickelte Software (und ein Budget von mehr als 400 Millionen US-Dollar) überhaupt möglich wurden. Vom häufigen Manko computergenerierter „Blobitecture“ ist hier nichts zu spüren: Das Museum ist geprägt von geometrischer Schlüssigkeit und der wuchtigen materiellen Kraft gewachsener Bodenständigkeit. Mühelos hält der Bau die Balance zwischen rau und zart: zwar sind die Scheiben geprägt von einer kristallinen Präzision mit rasiermesserscharfen Kanten, doch gleichzeitig bilden sie einen weiten Innenhof mit einer angenehm sandigen Fläche aus – eine Reverenz an die Karawanserai-Bauten aus der Region, wo die Handelskarawanen ihre Waren abluden.
Der Eintritt in das Museum fühlt sich an wie das Betreten einer Felsgrotte. Aus den ineinander geschobenen Scheiben bildet sich eine labyrinthische Raumfolge, wo sich die Foyer-Decken in luftiger Höhe verlieren und sich anderswo zu intimen Nischen und niedrigen Kabinetten verschachteln. Zusätzlich verstärkt wird das Drama der Raumfolgen durch die Tatsache, dass auch die Böden aus leicht geneigten Ebenen gebildet sind, wodurch die Besucher in allmählichem Anstieg durch die Galerien geleitet werden. Eine gekippte Scheibe bildet im Außenraum zusätzlich eine geneigte Terrasse aus, die einen weiten Blick über die Bucht ermöglicht. Nouvel kommentiert, er habe diese Idee seinem Mentor, dem französischen Architekten und Architekturtheoretiker Claude Parent zu verdanken; Parent hatte sich eine Welt erdacht, in der alle Gebäude aus stark geneigten Flächen zusammengesetzt wären – eine wilde Vision.
„Jean Nouvels Architektur ist unglaublich“, sagt Scheicha Al-Mayassa bint Hamad bin Khalifa Al Thani, die Vorsitzende der Katar Museen, „aber es ist enorm schwierig, an diesen Wänden etwas zu hängen.“ Dementsprechend greift die Ausstellungskonzeption immer wieder auf großformatige Projektionen zurück, die meist die gesamten Wandflächen bespielen und eine Art Bewegt-Hintergrund für die eher konventionellen Schaukästen und Objekt-Vitrinen bilden.
Der Rundgang aus elf aufeinanderfolgenden Ausstellungssälen beginnt mit einem 400 Millionen alten fossilen Fisch und führt über naturkundliche Exponate zu Geologie und Tierwelt des Landes, archäologischen Funden, kulturellen Traditionen und der Perlenfischerei bis hin zur gegenwärtigen Förderung von Erdgas und Öl, welche das Land von Grund auf veränderte. Auch die familiengeschichtlichen Stammbäume kluger Scheichs werden nach allen Regeln der Kunst präsentiert, einschließlich der Vitrinen mit Objekten aus dem persönlichen Besitz und den von anderen Ländern verliehenen Orden. Die Exponate sind allgemein gut präsentiert, bislang allerdings fühlt sich alles noch ein wenig leer an: Die riesigen Räume sind für eine Sammlung gebaut, welche sie noch nicht füllen kann.
Das Highlight findet sich in einem Seitenkabinett in Form einer temporären Sonderausstellung, kuratiert von OMA, Rotterdam, und der örtlichen Architektin Fatma Al-Sahlawi. Die Schau stellt den außergewöhnlichen Bau-Boom von Doha in einen dringlich erforderlichen Kontext; hier sind die frühen Masterpläne der Stadt zum heutigen Stand in Bezug gesetzt. Anhand der Dokumentation lässt sich eindrücklich nachverfolgen, wie nicht weniger als elf Pritzker-Preisträger mit immer raffinierter ausgefeilten Visionen eine Identität für Katar erfunden haben.
Nirgendwo allerdings thematisiert das Museumeine Anerkennung für jene Menschen, die diese Nation in jahrelanger Plackerei errichtet haben. Es fällt auf, dass der Beitrag jener 88 Prozent der Bevölkerung nicht katarischer Herkunft vollkommen ausgespart bleibt. Neben den 300.000 Kataris – deren Zahl damit deutlich unter den 590.000 Staatsbürgern Luxemburgs liegt – rekrutiert sich die Mehrzahl der Arbeiter über Einwanderer aus Südostasien, die hier als Bürger zweiter Klasse behandelt werden. Heikle Inhalte wie Menschenrechtsfragen oder mögliche Kehrseiten des rasanten Wachstums im Land werden in der Ausstellung wohlweislich nicht berührt.
Das jedenfalls ist ein Thema, dem sich der Wüstenstaat deutlich aktiver zuwenden müsste. Im Jahr 2016 deckte die britische Tageszeitung Guardian in einer Umfrage zu den Arbeitsbedingungen der Bauarbeiter in Katar massive Missstände auf. Die Vorwürfe reichen von willkürlichen Gehaltskürzungen bis hin zum Einbehalt der Reisedokumente, dazu kommen Löhne, die deutlich unter den Versprechungen bleiben, mit denen man Gastarbeiter ursprünglich ins Land gelockt hatte. So berichteten einige Arbeiter von der Baustelle des Nationalmuseums, man habe ihnen bei der Anwerbung in ihrer Heimat Nepal deutlich höheren Verdienst versprochen. Laut ihrer Aussage liegt der Grundlohn bei umgerechnet etwa 155 Euro im Monat. Bei Krankheit würde der Lohn gekürzt. Kosten einer medizinischen Versorgung über den Sockelbetrag von 22,50 Euro hinaus müssten sie selbst aufbringen. Katar, das im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaften 2022 zunehmend unter internationaler Beobachtung steht, hat nun einen Mindestlohn eingeführt und das Einbehalten von Reisedokumenten soll künftig verboten sein.
Der letzte, dem heutigen Katar vorbehaltene Ausstellungssaal im Museum ist noch nicht bestückt. Der Preis, den die Menschen für die unersättlichen Begehrlichkeiten des Landes bezahlen, wäre durchaus ein Thema, über das sich einmal nachdenken ließe.
Aus dem Englischen von Agnes Kloocke
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