Bauwelt

Oberlandesgericht Stuttgart-Stammheim


Die Justizvollzugsanstalt ist ein Ort der Zeitgeschichte und wurde stetig ergänzt. Im Juni eröffnete nebenan das bestens gesicherte Prozessgebäude. Eine Veröffentlichung ist nur begrenzt möglich. Auf Grundrisse mussten wir ganz verzichten.


Text: Marquart, Christian, Stuttgart


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    Im Vordergrund der Neubau, dahinter das Mehrzweckgebäude.Rechts oben der JVA-Neubau von karlundp Archi­tekten von 2017. Links oben der alte Zellentrakt.
    Luftfoto: Werner Kuhnle

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    Im Vordergrund der Neubau, dahinter das Mehrzweckgebäude.Rechts oben der JVA-Neubau von karlundp Archi­tekten von 2017. Links oben der alte Zellentrakt.

    Luftfoto: Werner Kuhnle

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    Jean-Paul Sartre und Daniel Cohn-Bendit auf der Pressekonferenz nach dem Besuch in Stammheim 1974.
    Foto: akg-images

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    Jean-Paul Sartre und Daniel Cohn-Bendit auf der Pressekonferenz nach dem Besuch in Stammheim 1974.

    Foto: akg-images

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    Das Mehrzweckgebäude mit dem alten ...
    Foto: Andreas Magdanz

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    Das Mehrzweckgebäude mit dem alten ...

    Foto: Andreas Magdanz

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    ... Sitzungssaal der RAF-Verhandlungen von 1975. Davor steht heute der Neubau.
    Foto: dpa

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    ... Sitzungssaal der RAF-Verhandlungen von 1975. Davor steht heute der Neubau.

    Foto: dpa

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    Südfassade mit Haupteingang. Im Erdgeschoss musste aus Sicherheitsgründen auf Fenster verzichtet werden. Im Obergeschoss sind über dem Eingang Blindfenster.
    Foto: Oliver Rieger

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    Südfassade mit Haupteingang. Im Erdgeschoss musste aus Sicherheitsgründen auf Fenster verzichtet werden. Im Obergeschoss sind über dem Eingang Blindfenster.

    Foto: Oliver Rieger

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    Raum mit Schließfächern neben den Kontrollen am Haupteingang.
    Foto: Stefan Müller

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    Raum mit Schließfächern neben den Kontrollen am Haupteingang.

    Foto: Stefan Müller

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    Wartebereich des großen Sitzungssaals mit Fensterflächen nur im Obergeschoss.
    Foto: Stefan Müller

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    Wartebereich des großen Sitzungssaals mit Fensterflächen nur im Obergeschoss.

    Foto: Stefan Müller

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    Aufenthaltsraum für die Hundertschaft der Polizei, die bei besonders sicherheitsrelevanten Sitzungen erforderlich ist.
    Foto: Stefan Müller

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    Aufenthaltsraum für die Hundertschaft der Polizei, die bei besonders sicherheitsrelevanten Sitzungen erforderlich ist.

    Foto: Stefan Müller

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    Der große und kleine Sitzungssaal im Inneren des Gebäudes ...
    Foto: Stefan Müller

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    Der große und kleine Sitzungssaal im Inneren des Gebäudes ...

    Foto: Stefan Müller

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    ... werden mit Oberlichtern in der Dach­ebene belichtet. Auf dem Monitor sind die Beweisstücke groß zu sehen.
    Foto: Stefan Müller

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    ... werden mit Oberlichtern in der Dach­ebene belichtet. Auf dem Monitor sind die Beweisstücke groß zu sehen.

    Foto: Stefan Müller

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    Gliederung der Fassade mit hellem Wellenputz und den Fensterflächen im Obergeschoss. Das zweiteilige Kunstwerk „Das Schwere und das Leichte“ ist von Markus F. Strieder.

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    Gliederung der Fassade mit hellem Wellenputz und den Fensterflächen im Obergeschoss. Das zweiteilige Kunstwerk „Das Schwere und das Leichte“ ist von Markus F. Strieder.

Ein kalter Hauch wehte dem Berichterstatter entgegen bei der feierlichen Schlüsselübergabe des neuen Gerichtsgebäudes in Stuttgart-Stammheim im größeren der beiden Sitzungssäle; eben hatte er sich auf einem der 60 Plätze fürs Publikum und die Presse niedergelassen. Diesmal war es nicht jene Klimaanlage, die in den 70er Jahren all die Verfahren gegen Eierdiebe und Heiratsschwindler herunter zu kühlen hatte, über die der Autor damals als Volontär einer winzigen Lokalzeitung zu berichten hatte. Frösteln ließen ihn eher die düsteren Zeitdiagnosen, mit denen der baden-württembergische Justizminister Guido Wolf bei diesem Anlaß aufwartete.
Nach ihm droht mannigfaches Unheil: Der internationale Terrorismus verschärft auch in Deutschland die bereits „angespannte Sicherheitslage“ – und diese Bedrohung sei heute vielleicht größer als jene, die damals von den Mitgliedern der Bader-Meinhof-Bande und ihren Nachfolgern ausgegangen war. Kein Wort notabene über die aktuell anwachsende Gewalt von Rechts, über die durchgeknallten „Reichsbürger“, auch kein böses Wort über die Vielzahl an Ermittlungspannen jener „Dienste“, ohne die der eine oder andere Islamist in Deutschland schon vor seiner Tat in Gewahrsam hätte gebracht werden können.

Vier Staatsschutz-Senate

Dieses neue Gerichtsgebäude in Stammheim ist elegant und überraschend freundlich. Vollendet wurde jetzt, „worauf die Justiz seit Ewig­keiten gewartet hat“, schwärmte Guido Wolf. Vier Staatsschutz-Senate werden hier Recht sprechen können. Auch für mehr Sicherheit ist gesorgt, denn das Kontingent an Wachtmeistern wurde deutlich aufgestockt. Die Festredner jubelten: „ein Meilenstein“ sei das Haus und zugleich „Zeichen für eine moderne Justiz“; in der Tat klug entworfen und mit Sorgfalt in allen Details realisiert von den Architekten Thomas Müller und Ivan Reimann. Vergessen das alte Provisorium der 70er Jahre, wie es jahrzehntelang nach den Worten des RAF-Chronisten Stefan Aust auf dem Kartoffelacker stand „wie eine Gesamtschule“. Immerhin – „Stammheim“ reichte hin, um einen ausgewachsenen Mythos zu begründen, zu dessen Schlüsselbegriff schon bald das Wörtchen „klammheimlich“ werden sollte. Klammheimlich blieb damals nicht nur das Unbehagen über die so hinterhältig wie falsch adressierten Gewaltexzesse „linker“ Revolutionäre, sondern auch die lässig-beifällige Kenntnisnahme seitens einer damals linksliberalen, kritisch sich aufgeklärt wähnenden „Intelligenz“, wenn die RAF-Genossen einen Ex-Nazi mit SS-Vergangenheit umgebracht hatten.
Der Ort und ein Mythos: In meinen schon alterssichtigen Augen und nach dem vormittäglichen Festakt ähnelte plötzlich so mancher Juristen-Schlips einer virtuellen Carl-Schmitt-Gedächtniskrawatte: obwohl viele der anwesenden Richter und Staatsanwälte in den Tagen der RAF noch zur Schule gegangen sein dürften. Die Anspielung auf den Staatsrechtler Carl Schmitt im NS-Regime ist hier nicht zwingend zu erläutern; man kann sich leicht schlau machen über manche fragwürdigen Verknüpfungen deutscher Geschichte und Rechtssprechung um 1933 – und später unter anderem in den 70er Jahren im Fall Hans Filbinger.
Viel fehlte nicht, und die Besichtigung des Neubaus wäre ausgefallen: Dem Vernehmen nach gab es Anlaß zu akuten Sicherheitsbedenken. Der lange Arm des „Islamischen Staats“? Vielleicht war jene in arabischer Schrift hingekritzelte Notiz auf einem harmlos wirkenden Pappkarton, der in einer an Sitzungstagen genutzten Häftlingszelle des Untergeschosses vorgefunden wurde, eine geheime Botschaft? Die Wachleute blieben cool. Die Veröffentlichung wird jedoch nur ohne Grundrisse zugelassen.
Das neue Gerichtsgebäude ist in seiner Struktur recht einfach und leicht lesbar. Die beiden unterschiedlich großen Sitzungssäle sind links und rechts der Mittelachse zwischen einem fast quadratischen, mit Bäumen bepflanzten Innenhof angeordnet. Direkt hinter der Gebäudefront mit dem Entree und zwei axial gespiegelten Kontrollbereichen befinden sich links und rechts zwei Foyers bzw. Wartezonen, angenehm gestaltet mit gut gelauntem Farbdekor. Ein zweiter, kleinerer, schmaler und ebenfalls begrünter Innenhof befindet sich im rückwärtigen Teil des Gebäudes; von der Kantine im Obergeschoss kann man dort hineinblicken.
Zwischen die Atrien positionierten die Architekten den großzügig geschnittenen Aufenthaltsbereich des Wachpersonals und der Bereitschaftspolizei. Nicht ohne Grund. Von hier aus lassen sich praktisch alle Bereiche des Hauses kontrollieren, und jedes Eingreifen ist über kurze Wege – Korridore, Treppenhäuser, Aufzüge – schnell möglich. Büro- und Nebenräume sind teils entlang der Rückfront des Gebäudes, teils an seiner Westflanke untergebracht. Die innere Erschließung und Sicherheitstüren sorgen dafür, dass öffentliche und interne Bereiche sowie das Justizpersonal, Wachleute, Häftlinge, Besucher usw. sich nicht überschneiden respektive in die Quere kommen. Über die beiden offenen Atrien sind Stahlnetze gespannt, die illegale Interventionen von oben und außen zuverlässig unterbinden sollen.

Flacher Quader

Die architektonische Detaillierung des neuen Prozessgebäudes entspricht ganz unaufgeregt dem Respekt und dem hohen Eigenwert, den ein funktionierendes demokratisches Gemeinwesen seiner Justiz billigerweise entgegenbringt. Die stadtseitige Front ist seine Schauseite. Der mittige Eingangsbereich setzt mit seiner großflächigen Natursteinverkleidung aus lebendig strukturiertem „Dorfergrün“, der in der Bergwelt Osttirols zuhause ist, einen markant wertigen, noblen Akzent (Seite 46). Der Stein mit der fachlichen Bezeichnung Chloritgneis kommt auch im Inneren des Gerichtsgebäudes in öffentlichen Bereichen als Boden- und Treppenbelag wirkungsvoll zur Geltung – in Verbindung mit Eichenholz, als Mobiliar und als Täfelung in den Sitzungssälen, auch als Handläufe an den Treppenaufgängen oder Türen.
In der Großform präsentiert sich das Gerichtsgebäude als flacher Quader mit hellem Sockel aus verputztem Mauerwerk mit einer scheinbar textilen Struktur, die man Wellenputz nennt, und einer im Obergeschoss umlaufenden, dunkelgrau und vertikal stark gegliederten Verglasung. Formbestimmend sind hier Fassadenelemente aus markanten, plastisch profilierten Metallrahmen; im Gesamtbild evoziert das eine eigentümliche, fast schon exzentrische und doch ganz selbstverständlich anmutende Mixtur aus Eleganz, Wuchtigkeit und filigraner Raffinesse.

Kein Fegefeuer, nur Sachlichkeit

Wäre da nicht im Hintergrund die einschüchternde Kulisse der Justizvollzugsanstalt – das neue Gebäude des Oberlandesgerichts könnte aus fernerer Distanz auch eine gediegene Wellness-Oase sein: freundlich und einladend auch noch beim zweiten Blick ins Innere des Hauses, wenn man nicht gleich seinen Weg sucht in die Sitzungssäle oder hinunter in den properen Hades, wo die Delinquenten auf ihren Auftritt vor den Richtern warten. Kein Fegefeuer hier, nur Sachlichkeit.
Ähnlich ist es auch in den Sitzungssälen, deren Atmosphäre wesentlich geprägt ist von der kassettierten Decke, deren Verglasung Tageslicht und Helligkeit in Überfülle spendet. Auch hier hat avancierte Technik Einzug gehalten: zwei große Monitore in jedem Saal ersparen es den Richtern und (Staats-)anwälten, den Zeugen, Gutachtern und Protokollanten, umständlich Beweisstücke zu befingern – die sind in jeglicher Auflösung und aus jeder beliebigen Perspektive künftig einfach oben an den Wänden zu sehen.

Ausblick

Bliebe noch die Frage nach der notwendigen Fortentwicklung des Rechts – und wo dafür der richtige Ort wäre. Stuttgart-Stammheim? Wenn der amtierende Justizminister des Landes Baden-Württemberg bei der Einweihung von einer neuen Konjunktur des Staatsterrorismus spricht, von der zunehmend dezentralisierten Selbst­organisation international agierender Terroristen und von einem „zunehmenden Auslandsbezug“ juristischer Verfahren und staatsanwaltlicher Aufklärungsmethoden, stellt sich möglicherweise schon übermorgen die Frage, ob an die Stelle eifernder Steinzeit-Terroristen nicht demnächst eine jüngere Tätergeneration tritt, die dann gelernt haben wird, „ihre“ Feindstaaten viel radikaler, raffinierter und effizienter zu destabilisieren als je zuvor. Schließlich zielt Terrorismus ja immer aufs Ganze. Wenn wir Pech haben, sind die allerneuesten Terroristen längst schon unterwegs, um all das, was noch halbwegs „ganz“ ist, endgültig kaputt zu kriegen, den Planeten zum Beispiel.
Moment mal – aus diesem Blickwinkel treten als Terroristen genau jene Figuren ins Bild, die wir als bestimmte Staatsmänner, als Würdenträger und skrupellose Strippenzieher ja längst kennen. Doch wer zerrt diese Typen vor Gericht?



Fakten
Architekten Thomas Müller Ivan Reimann Architekten, Berlin
Adresse Asperger Str. 60, 70439 Stuttgart


aus Bauwelt 15.2019
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