Bauwelt

Public Library in Birmingham von Mecanoo


Mit der neuen Public Library kann sich die zweitgrößte Stadt des UK nicht nur der größten Bücherei Europas rühmen. Das Gebäude in Birmingham von Mecanoo ist auch ein zentraler Baustein für den Umbau des Stadtzentrums.


Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin


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    Foto: Paul Raftery

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Es ist ein bewegender Augenblick um kurz vor elf Uhr an diesem 3. September auf dem Centenary Square in Birmingham. Die bei einem solchen Anlass zu erwartenden Redner – Bürgermeister, Politiker, Nutzer, Architekt – haben bereits gesprochen, als eine 16-Jährige die neue Stadtbibliothek schließlich eröffnen darf: Malala Yousafzai. Einen besseren Ehrengast hätten die für die Planung der Zeremonie Verantwortlichen nicht finden können als die gebürtige Pakistanerin, die es gewagt hatte, gegen das von den Taliban über die Frauen und Mädchen des Swat-Tals verhängte Bildungsverbot zu handeln und sich auch weiterhin allmorgendlich in den Schulbus setzte – und dafür am 9. Oktober letzten Jahres fast mit dem Leben bezahlt hätte. Sechs Tage nach dem Attentat wurde die am Kopf schwer Verwundete nach Großbritannien ausgeflogen, wo die Ärzte in Birminghams Queen Elizabeth Hospital ihre Schussverletzung erfolgreich behandelten; seitdem lebt sie mit ihrer Familie in der mittelenglischen Stadt. „Books are the weapons to defeat terrorism“, ruft die junge Frau ihren „fellow Brummies“ zu, und dann öffnen sich die Türen für die tausende Bürger, die vor der Glasfassade des 188 Millionen Pfund Sterling (rund 222 Millionen Euro) teuren Neubaus warten.

Das Pathos der Einweihungsfeier hängt an diesem Tag der offenen Tür auch später noch in der Luft. Neugierig und freudestrahlend, aber auch mit einer gewissen Ehrfurcht und Vorsicht bewegen sich die Besucher allem Gedränge zum Trotz durch das vom niederländischen Architekturbüro Mecanoo geplante Gebäude, wie im Wissen um die Kostbarkeit dieser Räume und dessen, was sie bergen. Bildung als Voraussetzung für ein gelingendes Leben und eine funktionierende Gemeinschaft – in der zweitgrößten Stadt des Vereinigten Königreichs mit ihrer multiethnischen und jungen Bevölkerung ist das nicht nur eine Floskel. Der Bau der größten Stadtbibliothek Westeuropas ist auch ein wichtiger Baustein für die Stadtentwicklung von Birmingham.
Die Bücherei und der Big City Plan
Wer Birmingham zuletzt vor zehn Jahren besucht hat, wird sich einer Stadt erinnern, an der Jahrzehnte des Niedergangs und Strukturwandels gezehrt haben, so dass trotz einer Einwohnerzahl von rund einer Million Melancholie die Szenerie prägte. Wer heute in die Stadt kommt, gewinnt einen anderen Eindruck, nicht nur am Centenary Square, am westlichen Rand der Innenstadt, sondern auch in deren Peripherie (s. Seite 1). Birmingham hat sich manches vorgenommen: Bis zum Jahr 2031 will man sich als eine der 20 lebenswertesten Städte der Welt etablieren und die wirtschaftliche Basis auf neue Füße stellen. Damit verbunden sind mehrere Bauprojekte vor allem im Zentrum, das, neben einigen Überbleibseln der viktorianischen Epoche, vor allem vom autogerechten Umbau nach dem Zweiten Weltkrieg gezeichnet ist. Die neue Stadtbibliothek soll dieses Bild nicht nur als ikonographische Architektur einer „Stadt des Lernens und der Kultur“ umprägen, sondern, mit erwarteten 10.000 Besuchern am Tag, ganz konkret Forschung und Innovation in Birmingham beflügeln, wie es der Ratsvorsitzende Ian Ward in seiner Ansprache zur Eröffnung formulierte.
Ob sich diese Erwartung erfüllt, wird sich zeigen. Eine bemerkenswert andere Perspektive auf das Thema „Stadtbücherei“ als die in Deutschland landläufige – aus der eine Bibliothek eher als freiwillige Kulturausgabe der Kommune wahrgenommen wird, die in Zeiten knapper Kassen auch schon mal infrage steht –, ist es allemal. Bemerkenswert ist das Projekt aber auch, weil sich Birmingham erst vor vierzig Jahren eine ambi­tionierte Stadtbibliothek errichtet hat, die Central Library. Der 1969–73 nach Plänen des Birminghamer Architekten John Madin am Chamberlain Square gleich neben dem Rathaus errichtete Komplex ist ein durchaus repräsentativer Vertreter des britischen Brutalismus, dessen Denkmalwert in der Stadt auch diskutiert wurde. Mit abschlägigem Ergebnis: 2014 wird die Central Library für eine kommerzielle Neuentwicklung im Rahmen des Big City Plan abgerissen.
Neuer Zielpunkt für den Passantenstrom
Eins ist mit der Fertigstellung der Public Library bereits gelungen: Das am Centenary Square, am Ende der stark freqentierten Fußgängerzone, die bis zum Bull Ring Centre reicht (Bauwelt 46.2003), über Jahrzehnte auf Grundlage unterschiedlicher Planungen gewachsene „Civic Centre“ aus mehreren öffentlichen Gebäuden ist mit der Bücherei komplett. Dominant, aber nicht erdrückend fügt sich der voluminöse Neubau mit seiner auffälligen Kringel-Fassade – mit den in Deutschland gefertigten Dekor-Elementen aus Stahl will Architektin Francine Houben an die Goldschmiede-Tradition von Birmingham erinnern – zwischen das 1938 errichtete „Baskerville House“ und das 1971 eröffnete Gebäude des Repertory Theatre, kurz REP genannt. Im Zuge des Bibliotheksbaus haben Mecanoo das bereits leicht postmodern angehauchte Gebäude renoviert und auf der Nordseite um einen strahlend weißen Anbau mit Werkstätten und Probenräumen erweitert. Das Theatergebäude zu erhalten, obwohl sein Abriss den Teilnehmern des Wettbewerbs 2008 freigestellt war, erscheint heute als glückliche Entscheidung, und zwar nicht nur aus Gründen der Stadtgeschichte: Ein gemeinsamer Neubau für Bibliothek und Theater, der sich über beide Grundstücke erstreckt hätte, hätte den Platzraum unweigerlich in Unwucht gebracht. Auf einem Teil des Platzes steht der Passant jetzt bereits auf der Bibliothek, denn deren Untergeschoss greift weit nach Süden aus, um Platz für die Kinder- und Jugendabteilung zu gewinnen. Der kreisrunde Ausschnitt in der Platzfläche – die Architekten nennen ihn Amphitheater – bringt nicht nur Tageslicht ins Untergeschoss und eröffnet Ausblicke, er verschränkt das Gebäude auch mit dem Stadtraum – eine Ambition, die auch anhand der beiden Dachgärten deutlich wird, die auf den Terrassen angelegt wurden, für die die Rücksprünge der Kubatur sorgten.
Zentrales oder dezentrales Raumgefüge?
Wer auf der Terrasse im dritten Obergeschoss steht, hat das räumliche Herz der Bibliothek bereits passiert: Die Bücherrotunde. Der zylinderförmige Raum erstreckt sich über mehrere Ebenen und wird von einem kreisrunden Oberlicht mit Tageslicht versorgt. Unweigerlich erinnert er an den zentralen Lesesaal einer Bibliothek, wie er bis Asplunds Stockholmer Bau (1918–27) mit seinem ebenfalls zylindrischen Saal unabdingbar war, dann von den unhierarchischen Raumkonzepten der Moderne verdrängt, von der Postmoderne wieder entdeckt und in den letzten zehn Jahren, vor dem Hintergrund neuer Anforderungen, Medien und Lesegewohnheiten, wieder infrage gestellt wurde. Diese Entwicklung wurde etwa vor einigen Jahren auf einem Kongress in Frankfurt am Main von Bibliothekaren und Architekten erörtert (Bauwelt 44.2008). Das Gebäude von Mecanoo verhält sich zu dieser Geschichte neutral. Francine Houben sagt ganz offen, dass die akademische Diskussion sie nicht inter­essiere. Neben dem Shakespeare Memorial Room, der aus dem 1882 eröffneten und für die Central Library abgerissenen viktorianischen Bibliotheksbau gerettet wurde, ist die Rotunde der einprägsamste Raum im Gefüge der ansonsten offenen Lese- und Arbeitsbereiche. Ein Aufenthaltsort aber ist sie nur bedingt: Die umlaufenden Galerien sind viel zu schmal, um sich dort niederzulassen; sie sind dafür auch gar nicht vorgesehen, der Leser erreicht nur die Bücher, die ganz unten in den Regalen der Rotunde stehen – es treffen sich in diesem Raum Freihand- und Archivbereich. Die Rotunde ist vor allem ein Durchgangsraum; von Rolltreppen durchschnitten und mit Ein- und Ausgängen zu den ringsum angeordneten Bereichen versehen, die für den Benutzer die Hauptnutzflächen des Gebäudes bilden. Auf ihnen wurden die verschiedenen, gegenwärtig gefragten Arbeitssituationen geschaffen: lange Lesetresen gleich hinter der gläsernen Südfassade, offene und abgeschlossene Einzel- und Gruppenarbeitsplätze; Arbeitsplätze an Tischen und zur Entspannung einladende Lounges; Orte mit viel (und viel zu viel) Licht und Schatten und solche mit gedämpfter, von Kunstlicht dominierter Stimmung – in der Public Library dürfte jeder Besucher schnell seinen bevorzugten Platz finden. Und die wenigen trennenden Wände, die diese Flächen zerschneiden, machen es den Bibliothekaren leicht, in einigen Jahren auf neue Wünsche zu reagieren.



Fakten
Architekten Mecanoo, Delft
Adresse Cambridge St, Birmingham, West Midlands B1 2EP, Vereinigtes Königreich


aus Bauwelt 41-42.2013
Artikel als pdf

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