Bauwelt

Wohnhaus in Almere


In Almere wurde ein Konzept umgesetzt, das den Bewohnern größtmögliche Gestaltung ermöglicht. Ein 100 Meter langer Wohnbau führt den Beweis


Text: Bokern, Anneke, Amsterdam


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    Der 100 Meter lange Riegel auf dem ehemaligen Kar­toffelacker steht direkt am Wald.
    Foto: Filip Dujardin

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    Der 100 Meter lange Riegel auf dem ehemaligen Kar­toffelacker steht direkt am Wald.

    Foto: Filip Dujardin

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    Die gesamte Infrastruktur ist von den Eigentümern vorzusehen und entsteht nach und nach.
    Foto: Filip Dujardin

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    Die gesamte Infrastruktur ist von den Eigentümern vorzusehen und entsteht nach und nach.

    Foto: Filip Dujardin

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    Gartenfassade: Die Bewohner konnten bis zu sieben Fenster- und Türmodule ...
    Foto: Filip Dujardin

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    Gartenfassade: Die Bewohner konnten bis zu sieben Fenster- und Türmodule ...

    Foto: Filip Dujardin

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    ... frei kombinieren mit Elementen aus rahmenloser Festverglasung.
    Foto: Filip Dujardin

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    ... frei kombinieren mit Elementen aus rahmenloser Festverglasung.

    Foto: Filip Dujardin

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    Die Innenräume variieren von Familie zu Familie, die selbst für den Innenausbau zuständig waren.
    Foto: Filip Dujardin

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    Die Innenräume variieren von Familie zu Familie, die selbst für den Innenausbau zuständig waren.

    Foto: Filip Dujardin

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    Exemplarische Darstellung von Almere Oosterwold nach dem Rahmenplan von MVRDV: Die Raumstruk­turen entspringen der individuellen Kreativität der Grundstücksbesitzer.
    Abb.: MVRDV/© VG Bild-Kunst, Bonn 2020

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    Exemplarische Darstellung von Almere Oosterwold nach dem Rahmenplan von MVRDV: Die Raumstruk­turen entspringen der individuellen Kreativität der Grundstücksbesitzer.

    Abb.: MVRDV/© VG Bild-Kunst, Bonn 2020

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    Luftaufnahme des 100-Meter-Baus und Umgebung
    Foto: GEO Almere

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    Luftaufnahme des 100-Meter-Baus und Umgebung

    Foto: GEO Almere

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    Die Baugruppe um Frode Bolhuis
    Foto: Paul Cupido

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    Die Baugruppe um Frode Bolhuis

    Foto: Paul Cupido

Oosterwold, im äußersten Südosten von Almere, etwa 35 Kilometer von Amsterdam entfernt gelegen, war vor wenigen Jahren noch ein einfacher Kartoffelacker. Wie überall in der Polderprovinz Flevoland durchzogen schnurgerade Wege ein Agrargebiet, in dem jeder Wassergraben, jeder Baum, ja eigentlich jeder Grashalm von Menschenhand geplant und am orthogonalen Raster ausgerichtet ist. Dass ausgerechnet hier einmal ein Experiment im städtebaulichen Laissez-Faire durchgeführt werden würde, hätte 1977, bei Fertigstellung des künstlichen Polders, vermutlich niemand gedacht. Und doch ist in Oosterwold nun ein 43 km² großer neuer Stadtteil mit 15.000 Wohnungen im Entstehen, der die niederländische Raumplanungskultur auf den Kopf stellen will.
Den Masterplan für Oosterwold hat MVRDV entwickelt und recht unbescheiden als „Revolution in der niederländischen Stadtplanung“ bezeichnet. Denn einziges Ordnungsprinzip ist die Funktionsverteilung: 18% des Grundes dürfen bebaut werden, 8% sind für Erschließung re­serviert, 13% für öffentlichen Grünraum, 2% für Wasserflächen und satte 59% für Urban Gardening. Es gab keinerlei Vorgaben zu den Bebauungsformen, außer dass die Gebäude möglichst konzentriert auf den Grundstücken realisiert werden mussten. So soll sich auf organische Weise ein Flickenteppich aus nachhaltigen Initiativen entwickeln und aus dem monofunk­tionalen Ackerland ein multifunktionales Wohngebiet machen.

Infrastruktur aus eigener Hand

Wirklich experimentell ist im niederländischen Zusammenhang vor allem, dass die Gemeinde nicht in die Bauvorbereitung des Geländes investiert hat. Zukünftige Bewohner mussten sich verpflichten, selber archäologische Bodenuntersuchungen anstellen zu lassen, müssen ihre eigenen Pfahlfundamente anlegen, und sind für die gesamte Infrastruktur zuständig. Anlage und Unterhalt von Straßen, Energieproduktion, Abwasserbehandlung, Müllentsorgung, Pflege des öffentlichen Grüns – alles ist Aufgabe der Bewohner, die hier dementsprechend nicht als Bauherren, sondern als „Initiatoren“ bezeichnet werden. Im Gegenzug bezahlten sie für ihr Stück Kartoffelacker nur 30 Euro pro Quadratmeter. Aber da auch in den Niederlanden nichts so heiß gegessen wie gekocht wird, verläuft die Entwicklung von Oosterwold doch nicht ganz so anarchisch, wie MVRDV sich das ursprünglich vorstellten. Auf halbem Weg bekam die Stadt Almere kalte Füße und beschloss, einen Gebietsregisseur einzusetzen und einen Flächennutzungsplan zu entwickeln. Das Resultat sind viele erstaunlich konventionelle Einfamilienhäuser (da­runter auch Projekte von kommerziellen Entwicklern), unterbrochen von Experimenten, wie etwa einem Haus mit Wänden aus ausgemusterten Autoreifen. Hier und dort steht auch noch immer ein Wohnwagen auf einem Grundstück, dessen „Initiatoren“ unterwegs die Muße oder das Kleingeld ausgegangen ist.

100 Meter für neun Familien

Auch der Künstler Frode Bolhuis fand den Standort und das Konzept attraktiv, hatte aber nicht genug Budget für ein Einfamilienhaus. Er kontaktierte die Architekten Peter van Assche (Bureau SLA) und Mathijs Cremer (Zakenmakers), die ihm rieten, sich mit anderen Interessenten zusammenzutun und eine Baugruppe zu gründen. Um noch mehr Geld zu sparen, sollte nur das Äußere des Gebäudes entworfen und der Innenausbau den Bewohnern überlassen werden. Innerhalb kurzer Zeit fand Bolhuis acht befreundete Familien, die mitziehen wollten. Gemeinsam kauften sie ein 11.000 m2 großes Grundstück am Waldrand.
Am östlichen, dem Ort zugewandten Rand dieses Grundstücks entwarfen van Assche und Cremers einen 100 Meter langen, eingeschossigen Riegel mit neun Reihenwohnungen, der Anspielungen an Mies van der Rohes Farnsworth House aufweist. Das liegt unter anderem daran, dass das Gebäude um etwa einen Meter aufgeständert ist und ein wenig über der matschigen Straße zu schweben scheint. Auf der anderen Seite teilen alle Wohnungen eine lange, gemeinsame Veranda, die zum großen Garten und dahinter liegenden Wald orientiert ist.
Im Inneren gab es die Wahl zwischen einem 160 m2 und einem 120 m2 großen Wohnungstyp, die jeder Bauherr selber einteilen durfte: einer wollte ein Atelier, ein anderer lieber ein großes Wohnzimmer; einer bevorzugte eine pragmatische Gliederung, ein anderer eigenwillig verspringende Wände. Möglich wurde diese Flexibilität durch die Aufständerung des Volumens, denn alle Leitungen und Rohre verlaufen unter dem Gebäude, dessen Boden, Dach und Trennwände aus hölzernen Kassettensytemen mit Einblasdämmstoff bestehen. Um ein spielerisches Element in den Riegel zu bringen, erhielt jede Familie einen Satz von sieben Fenster- und Türmodulen, die sie frei in der Gartenfassade platzieren durften. Dazwischen wurde rahmenlose Festverglasung angebracht. Eine Pflanzenkläranlage im Garten säubert das Abwasser, und Elektrizität wird von Sonnenpaneelen erzeugt. Nur die Heizung hat letztlich jeder selber installiert, da ein gemeinsames Heiznetz für mehrere Verbraucher in den Niederlanden nicht erlaubt ist. Nun haben einige Einheiten eine Luft-Wasser-Wärmepumpe, eine andere eine Bodenwärmepumpe, eine kommt mit einem Holzofen aus.

Die Freiraum-Debatte

Dank der Casco-Strategie und einfachen Bauweise haben die Baukosten letztlich gerade einmal 483 Euro zzgl. MWSt pro Quadratmeter Bruttogeschossfläche betragen. Blieb die Frage, wie man die unbebauten 9600 Quadratmeter des Grundstücks nutzen sollte. Dem Masterplan zufolge muss mindestens die Hälfte der Parzelle für Urban Gardening genutzt werden. Nur wie gestaltet man das mit neun Parteien? Wohin mit dem Geräteschuppen? Wie groß muss der Gemüsegarten sein? Anfänglich versuchten sich die Bewohner in „gemeinsam getragener Entschlussfindung“: grüppchenweise trugen sie ihre Ideen vor und versuchten, Entscheidungen zu treffen, die von allen unterstützt wurden. Laut Frode Bolhuis hat sich diese Methode jedoch nicht bewährt, weshalb man letztendlich zum urniederländischen Poldermodell überging: Wer ein Anliegen hat, probiert alle anderen davon zu überzeugen und trägt dann auch die Verantwortung für die Durchführung. So entstanden im (noch immer wilden) Garten eine gemeinsame Fahrradgarage, ein Geräteschuppen, ein Teich, ein Obstbaumhain, ein Hühnerstall und sogar ein kleines Amphitheater, auf das die Bewohner von ihrer leicht erhöhten, geteilten Veranda blicken.
Kollektivität ist in der Inselsituation von Oosterwold aber auch eine schlichte Notwendigkeit. Noch immer sind einige Straßen nur Lehmpfade, und Geschäfte sucht man vergeblich – auch wenn es inzwischen immerhin eine kleine Kneipe gibt. Nachbarskinder werden gemeinsam zur Schule in einem anderen Stadtteil gefahren, und als ein Bewohner der neun Wohnungen krank war, kochten alle anderen abwechselnd für die Familie. In den Niederlanden gilt: Gerade, wer individuell wohnen will, muss oft besonders so­zial eingestellt sein. Dieses Spannungsfeld versinnbildlichen die neun Wohnungen, die trotz aller Serialität unterschiedlicher nicht sein könnten.

Von der Pioniergemeinschaft zur individuellen Verbrauchergruppe

Das Bosveld-Projekt, dem wir als Architekten zur Seite standen, erwies sich als großer Erfolg. Der Erfolg war so groß, dass sich bald eine zweite und dann eine dritte Gruppe für zwei weitere Projekte zusammenfanden. Die Pioniere der ersten Gruppe mussten alles selbst regeln. Dies hing damit zusammen, dass die Vorgaben auf dem Papier noch interpretierbar waren, aber auch damit, dass sie als Pioniere eine der ersten Ankömmlinge in Oosterwold waren. Denn – das war ganz im Sinne des Masterplan von MVRDV – nicht die Baubeamten, sondern die Bürger bestimmen den Stadtplan. Der Antrag für die erste Baugenehmigung dauerte dann nicht wie vor­gesehen acht Wochen, sondern zwei Jahre. Die Pioniere von Bosveld wären schneller gewesen, aber die zuständige Gemeinde musste sich erst an die Regulierungsfreiheit gewöhnen und setzte eine Reihe von „prozeduralen Bremsen“ ein. Die erste Gruppe wurde so durch Schaden und Selbsterkenntnis weise. Sie hat das Verfahren in einer Art Try-and-Error-Verfahren mit großem Erfolg bestanden.

Die zweite Gruppe konnte sich auf die Erfahrungen der Pioniere der ersten Stunde stützen. Diese Bewohner wussten bereits ziemlich genau was sie bekommen würden. Sie erkannten aber, dass es immer noch genug zu entscheiden gäbe. Wer zieht in welchen Gebäudeteil? Wie machen wir es mit den Abstellräumen? Was tun wir, wenn einem der Haushalte die (finanzielle) Luft ausgeht? Wie halten wir es mit den Gärten? Die zweite Gruppe organisierte so eine entsprechende Methodik, um von Allen getragene Entscheidungen zu treffen und umzusetzen. Durch sorg­­fäl­tige Überlegungen im Vorfeld hatten sie den Prozess im Griff, ohne den Entwurf in Frage zu stellen.

Während diese ersten beiden Gruppen noch als Abenteurer mit Träumen und Entschlossenheit auftraten, bestand die dritte Gruppe aus Bauherren und Baufrauen, die sich eher als Verbraucher verstanden. Mit dem Begriff der Kollektivität hatten sie ihre Schwierigkeiten. Während des Planungs- und Realisierungsprozesses ging es viel um individuelle Anforderungen, die im Ganzen gesehen nicht wirklich zu besseren Lösungen führten. So wurde beispielsweise auf eine gemeinsame Lagerhütte verzichtet. Stattdessen befindet sich jetzt eine Reihe von Holzschuppen direkt vor dem Gebäude. Zusätzliche Fassadenelemente zu den von uns vorgeschlagenen wurden hinzugefügt und die rückseitigen Gärten wurden so weit privatisiert wie es die Regeln von Oosterwold eben noch zulassen.

Peter van Assche und Mathijs Cremers



Fakten
Architekten bureau SLA, Amsterdam; ZakenMaker, Utrecht
Adresse Emile Durkheimweg, Almere


aus Bauwelt 5.2020
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