Abriss-Moratorium
Am 19. September hat eine vom Autor gestartete Initiative einen offenen Brief an Klara Geywitz, Bundesministerin für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, veröffentlicht. Über 170 Erstunterzeichner fordern darin einen temporären Abrissstopp.
Text: Stumm, Alexander, Berlin
Abriss-Moratorium
Am 19. September hat eine vom Autor gestartete Initiative einen offenen Brief an Klara Geywitz, Bundesministerin für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, veröffentlicht. Über 170 Erstunterzeichner fordern darin einen temporären Abrissstopp.
Text: Stumm, Alexander, Berlin
Damit die Bauwende gelingt, bedarf es vieler Schritte: die Verwendung biobasierter, CO2-bindender Baustoffe, die Wiederverwendung von Bauteilen, eine aktive und passive Nutzung solarer Energie sowie Dach- und Fassadenbegrünung; auch können innovative Technologien zur Klimaneutralität beitragen. All das ist wichtig und muss vorangetrieben werden. Nichts aber ist einfacher und zugleich wirkungsvoller, als mit dem schon existierenden Bestand sorgsamer umzugehen. Wenn wir die Abrisspraxis einschränken, reduzieren wir den Bedarf an Baumaterialien, schonen Rohstoffe, sparen Energie, produzieren weniger Abfall und begegnen mitunter sogar sozialen Problemen wie Gentrifizierung und Verdrängung in Ballungsräumen, wo Investoren Gebäude abreißen, um bessere und selbstverständlich teurere Wohnungen verkaufen zu können.
2021 entstanden in Deutschland 230 Millionen Tonnen Bau- und Abbruchabfälle, was 55 Prozent des gesamten deutschen Abfalls ausmacht. 14.090 Gebäudeabrisse wurden statistisch erfasst. Dies entspricht 1,9 Millionen Quadratmetern Wohnfläche und 7,5 Millionen Quadratmetern Nutzfläche. Recherchen des Bundesarbeitskreises Wohnungsmarktbeobachtung vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) deuten nun darauf hin, dass im Bundesdurchschnitt lediglich ein Viertel der tatsächlichen Verluste erfasst werden. Dies liegt daran, dass ein großer Teil der Abrisse nicht genehmigungs-, sondern nur anzeigepflichtig ist und dieser Anzeigepflicht nicht nachgekommen wird. Die Abrisspraxis hat also mit über 50.000 Gebäuden eine deutlich größere Dimension, als wir bisher angenommen haben.
Unsere Städte in Mitteleuropa sind gebaut. Der Gebäudebestand in Deutschland stellt im Hochbau ein anthropogenes Materiallager in Höhe von 15,3 Milliarden Tonnen dar. Erhalt, Sanierung, energetische Verbesserung, aber auch Aufstockungen, Erweiterungen und die Anpassung an zukünftige Nutzungsanforderungen sind konstruktive Antworten auf die Wohnungsfrage. Auch in Metropolen stehen viele Büro- und Verwaltungsbauten leer, die dank flexibler Grundrisse zum größten Teil mit geringem oder mittlerem Aufwand zu Wohnungen umgebaut werden könnten.
Das Abreißen ist tief mit der auf fossilen Brennstoffen basierenden Moderne verquickt. Als Startpunkt können die gigantischen Neustrukturierungen von Paris unter Georges-Eugène Haussmann ab 1853 gelten. Gründe damals waren Hygiene – die mittelalterliche Stadt galt als krankmachend –, aber auch Polizeisicherheit, denn auf breiten Boulevards ließen sich anders als in engen Gassen nur schwerlich Barrikaden errichten. Le Corbusiers ikonischer Plan Voisin (1925) zementierte den Tabula-rasa-Abriss als ideologisches Fundament des modernistischen Städtebaus. Im New York der 1920er Jahre hielt parallel die Finanzialisierung der Stadt Einzug. Unter dem Druck steigender Bodenpreise begann man Hochhäuser abzureißen, um noch höhere Wolkenkratzer zu errichten. In anderen Fällen war es schlicht Rassismus, der zur Zerstörung von Wohnbauten oder ganzen Stadtteilen führte. Bekanntestes Beispiel ist die 1949–54/56 von Minoru Yamasaki erbaute Großwohnsiedlung Pruitt-Igoe in St. Louis (Missouri), die, als schwarzes Ghetto gebrandmarkt, 1972 nach weniger als 20 Jahren wieder plattgemacht wurde.
Kritik an der Abrisspraxis regte sich zuerst in den 1970er Jahren. Damals stand man unter dem Eindruck der Ölpreiskrise. Energie war plötzlich ein knappes Gut. Lucius Burckhardt schlug vor, dass man „das Bauen in Kalorien“ ausdrücken müsse. „Dadurch könnten auch die buchhalterischen und geschäftlichen Umstände eliminiert werden, die es den potentiellen Bauherren so leicht machen, die Zerstörung von Bausubstanz als Gewinn darzustellen und zu behaupten, man könne sich die Erhaltung des Altbaus nicht leisten. Energiemäßig ist Zerstörung allemal ein Verlust.“ Burckhardt hatte verstanden, dass die Lebenszyklusanalyse eine ehrlichere Grundlage für die Berechnung des Energieverbrauchs ist als die Verkürzung auf die Betriebsenergie.
Heute sind wir nicht nur mit einer Energiekrise konfrontiert, sondern auch mit der Klima- und Biodiversitätskrise. In Deutschland werden für die Baubranche jährlich 522 Millionen Tonnen mineralische Rohstoffe abgebaut; die Produktion von Zement ist bekanntlich äußerst energieintensiv und für weltweit acht Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich. Der Gebäudesektor in Deutschland hat zum zweiten Mal in Folge sein Emissionsminderungsziel verfehlt. Um das Sektorziel 2030 zu erreichen, ist eine jährliche Minderung von Treibhausgasemissionen um 5,5 Millionen Tonnen nötig – mehr als das Doppelte als der derzeit erreichte Wert.
Ein klares regulatorisches Rahmenwerk der Politik ist deshalb zum Nutzen für alle Akteure in der Baubranche. Zentrale Vorgabe muss dabei sein, nicht mehr beziehungsweise nur im Ausnahmefall abzureißen. Bei einem aus ökologischen und sozialen Gründen sinnvollen Gebäuderückbau gilt es, das Material zum größtmöglichen Teil wiederzuverwenden. Die Förderung von Re-Use-Konzepten, zum Beispiel die Errichtung dezentraler Bauteillager und digitaler Bauteilbörsen, würde zu einer echten Kreislaufwirtschaft verleiten. Bundesbauministerin Geywitz steht in der Pflicht, den derzeit für circa 40 Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlichen Gebäudesektor in die Klimaneutralität zu führen.
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Auf abrissmoratorium.de ist der offene Brief an Bundesministerin Klara Geywitz veröffentlicht. Außerdem können Sie dort Kontakt aufnehmen, wenn Sie als Unterstützerin oder Unterstützer des Abriss-Moratoriums auf der Website namentlich genannt werden wollen.
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