Antananarivo: Gefährdete Nahrungsversorgung durch Wachstum
Die Hauptstadt Madagaskars ist eine der ältesten afrikanischen Städte im Indischen Ozean und schon seit langer Zeit geprägt vom Reisanbau. Doch breitet sich die moderne Stadt unaufhaltsam ins Umland aus und gefährdet die Existenzgrundlage vieler ehemaliger Bauern und die Ernährungssicherheit der Stadt. Wie lassen sich die Ansprüche einer wachsenden Metropole mit ökologischen Notwendigkeiten und dem Schutz marginalisierter Bevölkerungsgruppen in Einklang bringen – und zugleich der einmalige Charakter der Stadt bewahren?
Text: Razafimaharo, Joan, Madagaskar
Antananarivo: Gefährdete Nahrungsversorgung durch Wachstum
Die Hauptstadt Madagaskars ist eine der ältesten afrikanischen Städte im Indischen Ozean und schon seit langer Zeit geprägt vom Reisanbau. Doch breitet sich die moderne Stadt unaufhaltsam ins Umland aus und gefährdet die Existenzgrundlage vieler ehemaliger Bauern und die Ernährungssicherheit der Stadt. Wie lassen sich die Ansprüche einer wachsenden Metropole mit ökologischen Notwendigkeiten und dem Schutz marginalisierter Bevölkerungsgruppen in Einklang bringen – und zugleich der einmalige Charakter der Stadt bewahren?
Text: Razafimaharo, Joan, Madagaskar
Andrianampoinimerina (circa 1747–1810), der zur Merina-Dynastie gehörte, ging nicht nur als Begründer des geeinten Königreichs Madagaskar in die Geschichte ein, sondern galt auch als vorausschauender Herrscher, der um die Bedeutung des Reisanbaus für sein Land wusste. So veranlasste er die Urbarmachung der ausgedehnten Schwemmlandgebiete in der Betsimitatatra-Ebene, die die Hauptstadt Antananarivo umgibt und sie seitdem mit Reis, dem wichtigsten Grundnahrungsmittel Madagaskars, versorgt.
Auch heute, mehr als zwei Jahrhunderte später, spielt die Betsimitatatra-Ebene eine entscheidende Rolle für den Großraum Antananarivo. Denn einerseits leben inzwischen hunderttausende Menschen auf den ehemaligen Reisfeldern, der sogenannten „Unterstadt“, die noch immer von zahlreichen Kanälen und Deichen durchzogen ist. Und andererseits liegt eine der Hauptursachen für die heutige soziale und ökologische Instabilität dieser Teile der madagassischen Hauptstadt in der mangelnden Aufmerksamkeit der Stadtplaner für das öffentliche Wassermanagement.
Die in der ehemaligen Schwemmebene gelegenen Wohnviertel gelten als überbevölkert und sozial instabil; viele Haushalte sind äußerst einkommensschwach: Entweder sind sie vom informellen Sektor abhängig oder aber auf staatliche Unterstützung angewiesen, sobald saisonale Arbeitsangebote wegfallen. Allen prekären Faktoren zum Trotz leistet dieser marginalisierte Randbereich der Stadtbevölkerung allerdings einen erheblichen Beitrag zur Gesamtwirtschaft Antananarivos.
Was einst sichere Ernten und stabile Lebensverhältnisse für die Städter garantierte, gibt heute Anlass zur Sorge: die Infrastruktur für das Wassermanagement. Durchfluss-Regulierung, Entwässerung und kontrollierte Steuerung der Pegelstände sollten für Antananarivo eigentlich oberste Priorität haben, aber seit Langem wächst die Stadt auf Kosten der ehemaligen Anbauflächen im Umland. Die Selbstversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln wird somit immer schwieriger, eine soziale Destabilisierung ist die Folge. Gegen Ende der 2010er Jahre wandten internationale Investoren beachtliche Summen für eine Sanierung dieser Areale auf, darunter etwa das PRODUIR-Projekt der Weltbank.1 Dessen Ziel war es, die Infrastrukturen für das Wassermanagement und den öffentlichen Nahverkehr zu verbessern, um so die armen Wohngegenden im größeren Einzugsbereich der Hauptstadt Antananarivo für den Fall von Umweltkatastrophen zu ertüchtigen.
Die größte Herausforderung für die Hauptstadtregion besteht darin, das Stadtwachstum mit dem Erhalt dieses – für die Nahrungsversorgung der Städter so wichtigen – ländlich-urbanen Gürtels in Einklang zu bringen. Hinzu kommt, dass die Reisfelder lange Zeit sowohl das Ansehen der Stadt als auch die Identität seiner Bewohner prägten. Entzieht man dem Areal diese grundlegende Bedeutung, geht ein Stück von Antananarivo unwiderruflich verloren.
Die „Stadt der Tausend“ zwischen Reisfeldern und Stadtwachstum
Im März 2020, unmittelbar nach der Ankündigung der Hygiene-Maßnahmen wegen der Covid-19-Pandemie durch die madagassische Regierung, verließ mehr als ein Drittel aller Anwohner die dichten bevölkerten Viertel Antananarivos, um abseits der Hauptstadt bessere Zeiten abzuwarten. Allerdings wird dieser Bevölkerungsrückgang temporär bleiben, denn alle Zeichen stehen auf Wachstum: Lebten 1993 noch 1,1 Millionen Einwohner in „Tana“, so der Spitzname der Stadt, wurde 2012 bereits die Drei-Millionen-Marke überschritten.
Die Planer stellt Antananarivo seit Generationen vor komplexe Probleme. Die Stadt ist im Westen durch den Lauf des Ikopa begrenzt, dem zweitgrößten Fluss Madagaskars. Die ursprüngliche Kernsiedlung entstand in mehr als 1200 Metern Höhe auf einem gut drei Quadratkilometer großen Höhenzug (der heutigen Oberstadt), welcher die zweihundert Meter tiefer gelegene umgebende Betsimitatatra-Ebene dominiert. Bereits vor dem 15. Jahrhundert war der Ort vom austronesischen Stamm der Vazimba besiedelt worden, im 17. Jahrhundert prägte dann der Merina-König Andrianjaka mit seinen eintausend Soldaten den Namen Antananarivo als der „Stadt der Tausend“. Er war es auch, der die landwirtschaftliche Nutzung an die systematische Parzellierung der Ebene koppelte und in die traditionelle Gesellschaftsordnung der Bewohnerschaft einband. Jede Familie musste ihren Pflichtbeitrag zu königlichen und gemeinschaftlichen Arbeiten leisten. So waren etwa ganze Hundertschaften als „Wächter über den Wasserbau“ eigens für die Sicherheit der Ebene zuständig. Ihre Aufgabe war es, Deichbrüchen vorzubeugen und die Deichanlagen zu unterhalten. Insofern war die Unterstadt zwar in landwirtschaftlich genutzte Parzellen unterteilt, zugleich aber nach militärischen Gesichtspunkten organisiert. Dieses althergebrachte Bewässerungssystem erschloss mehr als 180 Quadratkilometer Reisanbaufläche, wird aber heute längst nicht mehr regelmäßig instandgehalten.
Nach der Errichtung der französischen Kolonialherrschaft im Jahr 1896 wurden Erweiterungen der Stadt vor allem entlang zentraler Verkehrsadern (der späteren Routes nationales) geplant, aber auch in die Betsimitatatra-Ebene hinein. Damals entstanden in der Oberstadt die kreolischen Backsteinbauten, genannt „Trano Gasy“, die heute typisch sind für das Stadtviertel rund um den königlichen Palastbezirk, den Rova von Antananarivo, der den höchsten Punkt des Bergrückens dominiert. Die Bauten passten sich der natürlichen Topografie an und bildeten ein Labyrinth aus eng verwinkelten Gassen, während unten in den Tälern und der Ebene große Boulevards und auf dem Reißbrett geplante Viertel Gestalt annahmen.
Noch 1954 propagierte der neue Masterplan, nach seinem Urheber Maurice Rotival „Plan Rotival“ genannt, einen Interessenausgleich zwischen dem organisch gewachsenen Bestand und der Schaffung eigenständiger urbaner Zentren, um eine regional fokussierte Entwicklung zu stützen. Rotival befürwortete die Gründung von Satellitenstädten auf den umliegenden Erhöhungen und beabsichtigte, die Bautätigkeit in der Ebene gänzlich einstellen zu lassen, da bereits damals die Dörfer und alten Hangsiedlungen entlang der Überlandstraßen auf reine Kleingarten- und Schlafsiedlungen reduziert waren.
Der Ursprung der Betsimitatatra-Ebene als Schwemmland des Ikopa geriet mit der zunehmenden Bebauung seit der Kolonialzeit in Vergessenheit, machte sich aber in der Regenzeit in Form regelmäßiger Überschwemmungen wieder bemerkbar, da die Stadt noch über kein Abwassersystem verfügte. Im Nachgang der großen Flutkatastrophe 1959 wurden schließlich in großem Stil Sozialwohnungsbauten in der Ebene errichtet. Dabei wurde in Kauf genommen, dass die nun systematisch bebauten Flächen meist nur unzureichend durch Eindeichungen geschützt waren. Auch das seinerzeit entstandene Areal „67 ha“, benannt nach der für das Neubauviertel verbrauchten Fläche, wird immer häufiger überschwemmt, sobald die Dämme nicht mehr standhalten – eine zusätzliche Belastung für die ohnehin schwierige soziale Situation in der Unterstadt.
Heute konzentrieren sich städtebauliche Investitionen in Madagaskar in erster Linie auf die Hauptstadt. Allerdings verschwendet man im privaten Sektor kaum Gedanken an Pegelstände oder gesamtgesellschaftliche Fragen. Der behördliche Druck ist gering, also werden auf den ohnehin bereits dicht bebauten Flächen der Betsimitatatra-Ebene auch weiterhin eifrig Fabriken und Lagerhallen errichtet.
Zwar gibt es unter dem Label „Grand Tana“, also Groß-Antananarivo, inzwischen wieder verstärkt Bestrebungen, ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen der eigentlichen Innenstadt und den umgebenden, formal eigenständigen Kommunen herzustellen. Insbesondere letztere, bislang vornehmlich für den Nachschub an saisonalen Bauarbeitern und Markt- und Erntehelfern zuständig, sehen sich aktuell mit ungewohnten Verantwortlichkeiten konfrontiert. So müssen die von ihrer neuen Aufgabe überforderten Kommunalverwaltungen den rasanten Anstieg der Bauanträge in ihren Zuständigkeitsbereichen bewältigen oder auf einmal Fragen zu Umweltauflagen entscheiden, ohne dass es jenseits der Hauptstadtverwaltung hierfür spezialisierte Fachkräfte gäbe.
In jüngster Zeit ließ der madagassische Staat mehrere ambitionierte Stadtentwicklungspläne aufstellen, die aber nur in Teilen umgesetzt wurden, was zu Schlafstädten und langen Umgehungsstraßen geführt hat. Die Diskrepanz zwischen den städtebaulichen Vorgaben und der tatsächlichen Flächennutzung ist und bleibt groß. „Im Jahr 2020 wurde einmal mehr ein Plan mit einer dezentralen Ausrichtung und regional integrierten, peripheren Stadtzentren erstellt. Die Umsetzung soll diesmal jedoch
weniger oberflächlich, sondern näher an der Realität, d.h. bei den Bedürfnissen der Bewohner sein“, sagt der Stadtplaner Haja Rasolofojaona.
weniger oberflächlich, sondern näher an der Realität, d.h. bei den Bedürfnissen der Bewohner sein“, sagt der Stadtplaner Haja Rasolofojaona.
Urbanität, Landwirtschaft, Ernährungssicherheit
In Antananarivo leben mehr als vierzig Prozent aller Stadtbewohner Madagaskars, aber seit 2015 gibt es keine aktualisierten Daten darüber, ob der agrarische Primärsektor entsprechend mitgewachsen ist. Auf gerade einmal 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts schätzt das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen dessen Wert – und zwar für eben jene Stadtregion, welche knapp ein Drittel des gesamten BIP des Landes generiert. Die Landwirtschaft im Großraum der Hauptstadt schrumpft schneller als man gucken kann.
Noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein bildete der Reisanbau die Grundlage für eine autarke Subsistenzwirtschaft der Stadt. Heute sind mehr als neun Zehntel aller Stadtbewohner im sekundären und tertiären Sektor beschäftigt. Insbesondere der Handel trägt zunehmend zum finanziellen Auskommen der Einwohner Antananarivos bei, und sowohl Ausmaß und Bedeutung der informellen Wirtschaftsformen als auch die damit verbundenen Probleme sind unübersehbar. Märkte und fliegende Straßenhändler schlucken immer mehr Flächen, was durch die täglich wechselnden Standorte der Lokalmärkte zusätzlich angeheizt wird.
Wenn heute also die agrarisch bewirtschafteten Täler und Felder der Ebene – bislang bedeutende Elemente im Gefüge der Hauptstadtregion – aus dem urbanen Raum verschwinden, kommt den Einwohnern zugleich das Konzept eines gemeinschaftlich genutzten Allgemeingutes oder das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem städtischen Ganzen abhanden: Mit dem charakteristischen Landschaftsbild geht auch die gelebte Erfahrung verloren.
Stadtgemeinschaft und Teilhabe
Einst galt die landwirtschaftlich genutzte Ebene als Symbole für Macht und Einfluss der Stadt Antananarivo. Die ungebremste Bevölkerungsexplosion, begleitet von großen Versäumnissen bei Instandhaltung und Anpassung der Infrastrukturen, rückte stattdessen politische und organisatorische Aspekte in den Vordergrund. Was bedeutet das für das Wohl und die Zukunftsaussichten der Bewohnerinnen und Bewohner?
Lange waren sie auf sich allein gestellt, seit den 1970er Jahren wurden so gut wie keine neuen Programme im sozialen Wohnungsbau mehr aufgelegt, insbesondere bei Schulen und öffentlichen Grünflächen waren die krassen Mängel bezüglich jeglicher Grundausstattung unerbittlich ablesbar. Während die Zuständigkeit für die Verwaltung von Gemeinschaftsarbeiten, etwa für die jährliche Instandhaltung der Kanäle, früher direkt bei der Dorfgemeinschaft beziehungsweise den Bewohnern der Stadtviertel lag, sind die Anwohner heute weder in die Entscheidungen der unmittelbaren Nachbarschaft noch in Belange einer städtebaulichen Entwicklung eingebunden. Gerade aber bei Vorhaben mit weitreichenden Folgen sollte der öffentlichen Meinung, unterstützt von der freien Presse, großes Gewicht zukommen. Es gilt, die Bevölkerung neu zu sensibilisieren und einzubeziehen. Das muss gerade auch auf kommunaler und nachbarschaftlicher Ebene geschehen – allerdings anders als zu Zeiten der Monarchie, als die Städter zwar öffentliche Arbeitsdienste leisten mussten, aber ansonsten kein Mitspracherecht hatten.
Doch die jährliche Regenzeit von Dezember bis April fordert auch im ohnehin schwierigen Jahr der Corona-Pandemie ihren Tribut. Alle üblichen Bemühungen, die Unterstadt vor den Auswirkungen der Überschwemmungen zu schützen, werden zusätzlich auf eine harte Probe gestellt. Seit der Rückkehr zu einer Art „Normalität“ nach den ersten strikten Ausgangssperren des letzten Jahres ließen sich bisher nur sehr wenige Vorhaben in die Tat umsetzen. Stattdessen steht Madagaskar am Rande einer unerbittlichen Rezession, die das Land noch weiter in Armut stürzen und die Landflucht weiter verstärken wird.
Die Suche nach angemessenen Antworten muss also dringend weitergehen. Denn obwohl Antananarivos jahrhundertealte, pittoreske Altstadt keinen internationalen Vergleich zu scheuen braucht, wird in der madagassischen Hauptstadt noch immer versucht, das „Recht auf Stadt“ für die Elendsviertel der Außenbezirke und deren schutzbedürftige Einwohner in der flutgefährdeten Ebene angemessen zu definieren.
Aus dem Französischen von Agnes Kloocke
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