Architektur in unserem neuen Klimaregime
In der Klimakrise bekommt die Architektur eine besondere, transformative Rolle, sagt der Soziologe und Autor Nikolaj Schultz.
Text: Schultz, Nikolaj, Kopenhagen
Architektur in unserem neuen Klimaregime
In der Klimakrise bekommt die Architektur eine besondere, transformative Rolle, sagt der Soziologe und Autor Nikolaj Schultz.
Text: Schultz, Nikolaj, Kopenhagen
Als Laie im Bereich der Architektur reflektiert er über die Bedeutung von Ästhetik, um für die ökologische Frage zu sensibilisieren. Schultz wird im November auf dem Bauwelt-Kongress sein Buch „Landkrank“ vorstellen.
Dieser Text soll einige Hypothesen über Architektur in unserem neuen Klimaregime aufstellen. Ich bin kein Experte in der Disziplin der Architektur. Da ich jedoch kürzlich eine Juniorprofessur für soziale und ökologische Theorie an der Architekturschule in Aarhus angenommen habe, drängt sich das Thema gewissermaßen auf. Wer sich in neue Gefilde begibt, muss mit Rückschlägen rechnen. Ein Amateur zu sein, hat aber auch Vorteile. Weniger anfällig für Dogmen, ist der Laie manchmal offener für Experimente, die zu Innovationen führen können. Vielleicht wird dies bei einigen der hier vorgestellten Ideen der Fall sein. Ob sie jedoch weiterverfolgt werden sollten oder nicht, müssen die Fachleute beurteilen.
Ein neues Klima für die Architektur
Unser Planet durchläuft eine ungeheure Metamorphose, die von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern häufig als Anthropozän beschrieben wird. In dieser jüngsten Periode der Erdgeschichte begannen die Handlungen der Menschen die geophysikalischen Prozesse der Erde erheblich zu verändern. Die Erde reagiert auf unser kollektives Handeln, und die Bedingungen für ihre Bewohnbarkeit sind bedroht. Wir sind also in ein „neues Klimaregime“ eingetreten, in dem das oberste Ziel der Politik eine nachhaltige Verbindung zwischen uns Menschen und dem instabilen Planeten sein muss. In diesem Kontext sind alle Disziplinen zur Selbstkritik gezwungen, und die Architektur bildet da keine Ausnahme. Vielmehr haben diese sozioökologischen Transformationen gerade für die Architektur weitreichende Konsequenzen: Sie muss verstehen, dass unser Planet darauf reagiert, wie wir auf ihm leben, ihn bewohnen und ihn bebauen. Sie muss sich als Teil einer Reihe sozialer und natürlicher Prozesse verstehen, die sie sowohl mitgestaltet als auch mitzerstört. Aus sozialtheoretischer Sicht hält das sozialökologische Denken eine Menge wertvoller Erkenntnisse für die Architektur bereit, um sich auf einem klimageschädigten Planeten neu zu orientieren. Ein Beispiel ist die Analyse der „geosozialen Klasse“, die ich zusammen mit dem französischen Philosophen Bruno Latour entwickelt habe („Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“, Suhrkamp 2022). Diese Theorie versucht, eine neue Art von Klassenkonflikt zu beschreiben, der sich unserer Meinung nach in den kommenden Jahrzehnten verschärfen wird. Im Gegensatz zu den Klassenkämpfen in vergangenen Jahrhunderten geht es in diesem Konflikt nicht um die Übernahme von Produktionsmitteln oder die gerechte Verteilung des Produktionsergebnisses. Klassenkämpfe im Kontext des globalen Klimawandels richten sich gegen die Produktion an sich, mit ihren fatalen ökologischen Folgen, angetrieben von Kollektiven, die sich für die Sicherung der Bewohnbarkeit unseres Planeten einsetzen.
Anhand einiger Beispiele aus meinem Heimatland Dänemark lassen sich diese neuen Konflikte veranschaulichen. In den letzten Jahren führte der geplante Bau der künstlichen Insel Lynetteholm zu einer hitzigen öffentlichen Auseinandersetzung. Die Insel soll in etwa fünfzig Jahren Wohnungen, Arbeitsplätze, Verkehrserschließung und Küstenschutz im Norden Kopenhagens bereitstellen. Da der Bau jedoch mit zerstörerischen Folgen für die Meeresumwelt und die Ökosysteme, der Verklappung von Hafenschlamm und enormen CO2-Emissionen einherzugehen droht, stieß er früh schon auf Widerstand (Bauwelt 9.2024). Zur gleichen Zeit entbrannte einige hundert Kilometer entfernt, in Aarhus, ein ähnlicher Konflikt. Der Plan der Stadt, den Industriehafen für noch mehr Wirtschaftswachstum auszubauen, stieß auf starken kollektiven Widerstand wegen der ökologischen Auswirkungen auf die biologische Vielfalt der Bucht, der Lärmbelästigung, der Luftverschmutzung und der CO2-Emissionen, die dieses Projekt mit sich bringen würde.
Diese Fälle zeigen nicht nur, wie sich soziale Konflikte in Zeiten des Klimawandels verändern und vermehrt gegen die Rahmenbedingungen der Produktion richten. Sie veranschaulichen auch eine Reihe geosozialer Konflikte, in denen es darum geht, wie wir bauen, was wir bauen und wo wir bauen. Oder andersherum: Wenn man heute die Kontroversen um das Bauen und die Stadtentwicklung verstehen will, muss man sie im Rahmen sozialer Konflikte betrachten, die sich um Existenzbedingungen drehen. Die alte Frage nach der „Form der Stadt“ ist nun Bestandteil eines geosozialen Klassenkampfes, der wiederum in einen Konflikt um die städtische Form mündet. Diese Gemengelage macht Architektinnen und Architekten zu Protagonisten in diesem neuen, konfliktreichen sozialen Umfeld.
Ein Schlachtfeld und Labor der Ökologie
Dies ist nur ein Beispiel von vielen, wie sozioökologische Theorien Einfluss auf die Architektur nehmen können. Ich habe gerade dieses Beispiel gewählt, weil es illustriert, wie Architektur sowohl zum Schlachtfeld als auch zum Labor der Nachhaltigkeit geworden ist – oder wie sie sowohl Teil des Problems als auch der Lösung ist. Diese Tatsache sollte nicht nur allen Praktizierenden des Fachs bewusst sein, sie sollte auch Auswirkungen auf die Inhalte der Ausbildung junger Architektinnen und Architekten haben.
Ich glaube, diese Situation erfordert eine Architekturausbildung, die ein Verständnis für das neue geosoziale Umfeld des Berufsstands vermittelt. Konkret sollten alle Studierenden der Architektur einen Einführungskurs über die Herausforderungen und Perspektiven ökologischen Denkens belegen, der ihnen vermittelt, wie ihre Disziplin auf einer Erde operiert, die auf ihre Praktiken respondiert. Dabei sollte es sich um einen interdisziplinären Hybridkurs handeln, der Natur- und Sozialwissenschaften miteinander verbindet und auf Erkenntnisse aus beiden Bereichen zurückgreift. Ein breiter sozioökologischen Rahmen, der Einblicke in die Erdsystemforschung, Umweltgeschichte, Philosophie und Soziologie gibt, könnte die Studierenden für das neue Umfeld ihrer Disziplin sensibilisieren.
Ein solcher Kurs könnte sich bestenfalls auf den Rest ihres Studiums und auf ihre anschließende Praxis auswirken. Außerdem würde er den Studierenden ein Verständnis dafür vermitteln, wie interessant und wichtig ihre Disziplin ist, aber auch, mit welcher großen Verantwortung sie einhergeht. Daraus ergibt sich der pädagogische Gedanke, der hinter einem solchen Studiengang steht: Was Architektinnen und Architekten heute brauchen, ist ein Rahmen, um zu verstehen, dass wir uns in einem neuen „Zeitalter der Entdeckungen“ befinden. Einmal mehr erkunden wir das Land – diesmal jedoch nicht in seiner Ausdehnung, sondern in seiner Tiefe (siehe Bruno Latour, „Kampf um Gaia – Acht Vorträge über das neue Klimaregime“, Suhrkamp 2020). Wir stehen vor einer neuen „Terra incognita“, denn wir wissen einfach nicht, was ein Erdsystem leisten kann. Aber wir wissen, um seine Funktionsweise zu verstehen, bedarf es Werte und Tugenden wie kontinuierliche Reflexivität, Demut und Neugier. Nur so können wir ergründen, was „planetare Bewohnbarkeit“ in Theorie und Praxis für die Architektur bedeutet.
Zweifellos lastet eine enorme Verantwortung auf den Schultern dieser neuen Generation Architekturschaffender. Aber das ist nicht nur eine Last – es ist auch eine unglaubliche Möglichkeit. Denken Sie darüber nach: Kann man sich einen faszinierenderen Moment vorstellen, um Architektin zu werden? Gibt es etwas Spannenderes, als zu der Architektengeneration zu gehören, die ihre Disziplin mit der Erde in Einklang bringen und lernen muss, innerhalb der planetaren Grenzen zu bauen? Wahrscheinlich nicht – und dies sollte in der Ausbildung neuer Architektinnen und Architekten vermittelt werden, mit dem Ziel, ihnen die gegenwärtige und künftige zivilisatorische Bedeutung ihrer Disziplin zu vermitteln.
Architektur, Ästhetik und Ökologie
Zu guter Letzt sollten wir nicht vergessen, welche Rolle die Architektur bei der Bewahrung und Veränderung von Affekten, Werten und Idealen spielt. Wie Latour und ich argumentiert haben, dürfen wir die Bedeutung der Kultur und der Künste nicht unterschätzen, wenn es darum geht, politische Affekte für die Ökologie zu konstruieren. Ökologen vergessen oft, dass „objektive“ Interessen nicht ausreichen, um Ökologie mit einer positiven Konnotation zu versehen und eine Bewegung in Gang zu setzen. Nur mit einem kulturellen Spektrum aus Bildern, Erzählungen, Vorstellungen, Visionen und Ästhetiken kann die Ökologie Enthusiasmus auslösen, und nur mit diesen kulturellen Ressourcen können die Menschen sich als Teil der Ökologie und deren politischen Horizonts begreifen.
Vor diesem Hintergrund beginnen wir zu verstehen, dass Architektur nicht nur wichtig ist, um die Welt auf nachhaltige Weise neu zu gestalten. Das ästhetische Schaffen der Architektinnen und Architekten – und anderer kultureller und künstlerischer Akteure – ist auch von entscheidender Bedeutung, wenn unsere Gesellschaft einen Ausdruck für das finden will, mit dem wir konfrontiert sind. Ästhetik bedeutet eine Übertragung von Empfindsamkeit, die dazu führt, dass wir etwas fühlen und spüren können, das sich uns vorher nicht erschlossen hat. Da wir uns zweifellos auch in einer Krise der Empfindsamkeit befinden, sind heute die Visionen, Illustrationen, Karten, Bilder, Vorstellungen und die Ästhetik, die Architektur seit jeher geschaffen hat, wichtiger denn je. Sie verhilft uns, die Welt in einem kollektiven Maßstab anders ergründen, fühlen und denken zu können.
Architektinnen und Architekten haben also die Fähigkeit und die Verantwortung, das zu schaffen, was Donna Haraway „responseability“ nennt – also die Fähigkeit, zu respondieren. Und warum? Weil ihre Arbeit uns immer Dinge spüren, fühlen und imaginieren ließ, die wir uns vorher nicht vorstellen konnten. Was wir gerade erleben, ist sicherlich auch eine Krise der Vorstellungskraft.
Architektinnen und Architekten haben also die Fähigkeit und die Verantwortung, das zu schaffen, was Donna Haraway „responseability“ nennt – also die Fähigkeit, zu respondieren. Und warum? Weil ihre Arbeit uns immer Dinge spüren, fühlen und imaginieren ließ, die wir uns vorher nicht vorstellen konnten. Was wir gerade erleben, ist sicherlich auch eine Krise der Vorstellungskraft.
Ein neues Architekton
Daher einige Vorschläge zu den Aufgaben und der Neuausrichtung der Architektur in unserem neuen Klimaregime. Im Kontext des Klimawandels muss die Disziplin mithilfe sozialökologischer Denkweisen Informationen über die Welt gewinnen, in der sie baut und die sie mitgestaltet. Über die Welt, in der die Architektur sowohl ein Labor als auch ein Schlachtfeld der Ökologie ist. Als Teil des Problems und der Lösung ökologischer Veränderungen, müssen Architektinnen und Architekten die natürlichen und sozialen Prozesse verstehen, mit denen sie umgehen. Sie müssen begreifen, dass diese Veränderungen sowohl eine Herausforderung als auch eine faszinierende Perspektive darstellen. Die Architektur steht einem neuen Architekton gegenüber – dem System Erde. Diese Begegnung erfordert von Architekturschaffenden nicht nur neue Kenntnisse, sondern auch Tugenden wie Reflexivität, Demut und Neugier. Wenn die Disziplin diese Fähigkeiten und diese Ethik in ihren Kern integriert, darf man die transformative Kraft der Architektur im Hinblick auf das Anthropozän nicht unterschätzen. Es ist nicht nur ihre Aufgabe, die Welt innerhalb der planetaren Grenzen neu zu gestalten. Ihre ästhetische Arbeit ist entscheidend, um die Erde, die unter unseren Füßen bebt, zu spüren und neu zu denken, in einer Zeit, in der die alte architektonische Frage, wie wir die Welt bewohnen, mit unglaublicher Wucht zurückgekehrt ist.
Aus dem Englischen von Hanna Sturm
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