Bauwelt

Beirut, fluctuat nec mergitur

Die Ausstellung „Beirut Residential Architectures 1840–1940 – at the Sources of Modernity“ zeigt die Genese der vielfältigen lokalen Wohnarchitektur und ruft zu ihrem Schutz auf

Text: Altaner, Jan, Münster

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In direkter Anschauung: Medium und Gegenstand der Ausstellung fusionieren im Stadtteil Gemmayze.
Foto: Jan Altaner

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Beirut, fluctuat nec mergitur

Die Ausstellung „Beirut Residential Architectures 1840–1940 – at the Sources of Modernity“ zeigt die Genese der vielfältigen lokalen Wohnarchitektur und ruft zu ihrem Schutz auf

Text: Altaner, Jan, Münster

Vor zwei Jahren, am 4. August 2020, erschütterte die Explosion von rund 2750 Tonnen Ammoniumnitrat, die unzureichend gesichert im Hafen lagerten, die libanesische Hauptstadt Beirut. Neben den menschlichen Opfern – es gab über 215 Tote, tausende Verletzte und hunderttausende Wohnungslose – verwüstete die Explosion ganze Stadtviertel und beschädigte große Teile von Beiruts vielfältigem und einzigartigem Architekturerbe. Zuvor hatten zuerst ein 15 Jahre währender Bürgerkrieg (1975–1990), dann ein neoliberales Wiederaufbauprojekt, im Zuge dessen fast die gesamte Innenstadt abgerissen wurde, schließlich massive Bauspekulation bei nahezu abwesender staatlicher Kontrolle die Zahl der erhaltenen Bauten stark dezimiert. In den vergangenen zwei Jahren wurde viel restauriert und wiederaufgebaut – doch zugleich ließ eine hausgemachte massive Wirtschafts- und Währungskrise 80 Prozent der Bevölkerung Libanons in die Armut hinabgleiten; der längst nicht abgeschlossene Wiederaufbau, aber auch der Staat und die Gesellschaft als solche sind auf ausländische Hilfen angewiesen.
Auf einem unbebauten Grundstück im Ostbeiruter Ausgehviertel Gemmayze, nur wenige hundert Meter vom Epizentrum der Explosion entfernt, hat zum zweiten Jahrestag der Katastrophe nun die Ausstellung „Beirut Residential Architectures 1840–1940 – at the Sources of Modernity“ eröffnet. Ein Dutzend geschwungener Panels mit Fotoserien, Architekturzeichnungen und dreidimensional hervorgehobenen Stilelementen sind so konzipiert und platziert, dass sie mit ihrer direkten architektonischen Umgebung interagieren: restaurierte spätosmanische Villen, verfallende, von Einschusslöchern übersäte Bauten aus der französischen Mandatszeit, nach dem Bürgerkrieg errichtete Hochhäuser und überwachsene osmanische Ruinen. „Die Ausstellung behandelt die Ursprünge und die Entwicklung von Beiruts charakteristischer Wohnarchitektur und damit einen Teil des kulturellen Reichtums unserer Stadt, zu dessen kontinuierlicher Wiederherstellung, Pflege und Schutz wir aufrufen“, so ihr Kurator Robert Saliba, Architekturhistoriker an der amerikanischen Universität von Beirut.
Ab 1840 wurde die osmanische Kleinstadt Beirut zunehmend in den internationalen Handel eingebunden, fungierte als Hafen für Damaskus und das syrische Hinterland und entwickelte sich innerhalb weniger Jahrzehnte zu einer boomenden Großstadt. „Das Besondere an Beiruts Architektur ist, dass die wachsende, außergewöhnlich diverse merkantile Ober- und Mittelschicht westliche Elemente und Einflüsse mit lokalen Traditionen und Erfordernissen verband und auf kleinstem Raum mit neuen Formen experimentierte“, erklärt Kurator Saliba. So entstand der Idealtyp des bürgerlichen ‚Beiruti‘ Haus, welches heute in der Vorstellung der Mittel- und Oberschicht des Landes als Inbegriff nationaler Architektur gilt: Die repräsentativen, um einen Innenhof angeordneten Empfangsräume im Erdgeschoss, welche die Grundrisse von arabischen Pracht- und Palastbauten in der Levante bestimmten, wurden zu überdachten, zentralen Empfangssalons. Diese wurden mit großzügig verzierten Balkons in Nord- und Südrichtung und den drei charakteristischen verglasten Spitzbögen versehen, welche neben repräsentativen Zwecken einer ausreichenden Luftzirkulation in der Sommerhitze der Hafenstadt dienten.
Die Genese und weitere Entwicklung dieser für Beirut so charakteristischen Bauform zeichnet die Schau in außergewöhnlichem Detailreichtum nach. Mit der Niederlage des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg wurde Frankreich bis zur Unabhängigkeit Libanons 1943 Mandatsmacht im Libanon. „Während der Mandatszeit betrachtete Frankreich Beirut als seine ‚Vitrine des Orients‘ und setzte in der Innenstadt eine Hauss­- mannisierung durch“, erläutert Saliba. Mit der zunehmenden Verdichtung der Stadt wurden Häuser nicht mehr freistehend, sondern entlang der Straßenführung gebaut. Aber auch die neuen Wohnungen orientierten sich weiterhin am alten Bauideal.
Überzeugend zeichnet die Ausstellung nach, wie sehr die Einführung von Beton die Wohnungsarchitektur veränderte: Man konnte nun nicht nur höher und dichter bauen, man war auch in der Gestaltung der Fassaden, Balkone und Erker freier, da der Beton einige tragende Elemente von ihrer Funktion befreite. Auch machte seine Verwendung die Herstellung von ornamentalen Elementen erschwinglicher und so der breiten Bevölkerung zugänglich – ein großer stilistischer Pluralismus bildete sich heraus.
„Der Schock der Hafenexplosion und der drohende endgültige Verlust unseres Architekturerbes lösten eine Welle des Wiederaufbaus aus“, stellt Robert Saliba fest. Die Erfolge seien beeindruckend – die meisten Anwohner der betrof­fenen Viertel kehrten seither in ihre Wohnungen zurück und hunderte architekturhistorisch wertvolle Gebäude wurden restauriert – doch der Wiederaufbau und Schutz des kulturellen Erbes müsse auch in Zukunft fortgeführt werden. Angesichts der schweren Wirtschaftskrise im Land sowie der anhaltenden Folgen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine ist jedoch unklar, inwiefern die Mittel dafür bereitgestellt werden können. Doch für den Großteil der Bevölkerung stehen andere Sorgen an der Tagesordnung, wie die Ausstellungseröffnung eindrücklich vor Augen führte: An die Gäste traten Menschen heran, die von der Wirtschaftskrise niedergedrückt wurden und baten um Spenden für Brot und Medikamente.

Beirut Residential Architectures 1840–1940 – at the Sources of Modernity
Beirut (Gernmayzeh, Gouraud Street, gegenüber der St.-Nicolas-Treppen)
Bis 16. August

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