Gebilde von hoher Zwecklosigkeit
Wie lassen sich Kirchen neu nutzen? Die Heilig Geist-Kirche soll verkauft werden.
Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig
Gebilde von hoher Zwecklosigkeit
Wie lassen sich Kirchen neu nutzen? Die Heilig Geist-Kirche soll verkauft werden.
Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig
Deutschland ist christlich. Rund 45,75 Millionen Christen verzeichnet die Statistik zum Jahresende 2019, also 55 Prozent der Bevölkerung. 22,6 Millionen Angehörige zählt die römisch-katholische Kirche, gefolgt von 20,7 Millionen evangelisch Gläubigen sowie orthodox und freikirchlich Bekennenden. Allerdings schwindet die Mitgliederzahl: Um die 500.000 verlassen jährlich christliche Gemeinden. Beweggründe sind nicht nur die individuelle Glaubensentfremdung oder, trivial, die Kirchensteuer. Auch die Kirchen verspielen ihre Glaubwürdigkeit: Die Skandale in der katholischen Kirche reißen nicht ab. Martin Kaufhold, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Augsburg, sieht die katholische Kirche in Deutschland sogar in ihrer Existenz bedroht: Wenn es so weitergehe, würde er ihr als Institution noch etwa zwanzig Jahre geben, sagte er im Februar der „Augsburger Allgemeinen“.
Selbst wer dieses Szenario für übertrieben hält, stellt sich doch die Frage, was mit Gotteshäusern geschehen könnte, die aktuell und zukünftig nicht mehr benötigt werden. Denn auch unter den Kirchentreuen gehört der sonn- und feiertägliche Gang zum Gottesdienst oft schon lang nicht mehr zum christlichen Ritual. Allerdings gibt es die paradoxe Situation: Trotz kontinuierlicher Kirchenaustritte steigt die Einnahme aus der Kirchensteuer fast jedes Jahr. Für 2019 verzeichnete Statista in Köln Rekordwerte: 6,76 Milliarden Euro für die katholische und 5,95 Milliarden Euro Einnahmen für die evangelische Kirche.
Was ist, wenn nun eine Schließung für unvermeidbar erachtet wird? Und der Verkauf von Kirchen, weiterer Immobilien und Grundstücke ins Auge gefasst werden muss? Dieses Problem stellt sich dem Evangelisch-Lutherischen Kirchenkreis Wolfsburg-Wittingen. Er ist Eigentümer der Wolfsburger Heilig-Geist-Kirche und zu ihr gehörender Gebäude: ein Gemeinde- sowie ein kleines Pfarrwohnhaus und ein Kindergarten. Seit Ende letzten Jahres wird ein „Investor“ gesucht – die milde Umschreibung für die Absicht, den Baubestand zu veräußern. Alvar Aalto (1898–1976) ist Architekt des denkmalgeschützten Ensembles und errichtete es 1959 bis 1962; ergänzt dann 1964 um die Kindertagesstätte. Der Kirchenraum ist eine einzige dynamische Geste, geprägt durch die markante „Wogendecke“, in ungewohnt nordischer Lichte. Architekturhistoriker und-historikerinnen sehen im Kirchenbau ein wichtiges Werk Aaltos. Wolfsburg verfügt mit dem gleichzeitig erbauten Kulturhaus sowie einem zweiten Kirchenzentrum – Stephanus, eine Ausgründung der Heilig-Geist-Gemeinde Ende der 1960er-Jahre – über drei Werke Aaltos: Die Stadt ist damit das Zentrum seines Schaffens außerhalb Finnlands. Dessen Kulturministerium forciert derzeit einen Antrag auf Listung des nationalen Baunachlasses Aaltos als UNESCO-Welterbe, beginnend mit 13 Einzelbauten und städtebaulichen Realisierungen (Bauwelt 5.2021).
In Wolfsburg hat man sich entschieden. „Das Landeskirchenkirchenamt empfehle, in der gesamten Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers den Gebäudebestand zu reduzieren“, so Werner Lemke, Baudirektor der Landeskirche, im Januar. Die Entscheidung über eine Veräußerung liege allerdings bei der jeweiligen Kirchengemeinde, nicht bei der Landeskirche. „Wir wünschen uns eine denkmalgerechte Nachnutzung, um den Erhalt dieses hochkarätigen Baudenkmales langfristig zu sichern.“ Eine Machbarkeitsstudie ist beauftragt worden, anschließend soll die Klosterkammer Hannover einen Investorenwettbewerb ausloben.
Wie gerufen kam da im Februar das zweieinhalbtägige „Herrenhäuser Symposium“ der VW-Stiftung zum Thema „Kirchenumnutzung, neue Perspektiven im internationalen Vergleich“. Alle Referenten und Referentinnen betonten die Rolle eines Kirchenbaus als Wahrzeichen und Identitätsmerkmal in einem größeren gesellschaftlichen Kontext. Hinzu komme die spirituelle Dimension des Sakralen, die Besonderheit kirchlicher Orte mit einem hohen Maß substanzlosen Wertanteils. Kirchen stellen öffentliche Räume bereit, konsumfreie Strukturen und jedem zugängliche Schutzfunktionen. Sie sind „Gebilde von hoher Zwecklosigkeit“, wie der Schweizer Kunsthistoriker und Professor für Denkmalpflege an der TU Wien Nott Caviezel seinen Landsmann und großen Nachkriegskirchenbauer Walter Maria Förderer zitierte. Kirchen dieser Zeit stellen mit neuartigen Bauform- und Raumvorstellungen ein anspruchsvolles, mitunter exaltiertes sowie schwer zu entschlüsselndes, oft wenig geschätztes Erbe dar. Folglich stehen unter den gut 45.000 Kirchen in Deutschland vorrangig Objekte dieses Baualters zur Disposition.
Die Referierenden waren sich einig, dass die Kirchenumnutzung keine Schnellschuss-Maßnahme ist, sondern ein Prozess, ein „Recasting“ gemäß Paul Post von der Universität Tilburg, der langen Atem benötigt sowie neutrale oder externe Begleitung. In den Niederlanden und Belgien ist sie längst als gesellschaftliche Aufgabe nationaler Tragweite identifiziert.
Eine Funktionskontinuität als religiöser Ort ist eine glückliche Lösung. Das Kultur- und Gemeindezentrum „Etz Chaim“ der liberal jüdischen Gemeinde in Hannover war einst Kirche und wurde 2009 durch die Architekten Ahrens & Grabenhorst umgebaut. Die Kapernaumkirche von 1961 in Hamburg-Horn wurde 2018 zur „Al-Nour-Moschee“. Noch glücklicher ist die Kooperation des verbleibenden kirchlichen mit weltlichen, kulturellen Partnern. Die historistische Christuskirche in Hannover nutzt seit 2014 der „Mädchenchor“ als zahlender Mieter für Proben und Konzerte. Ein Verkauf des Kulturgutes Kirche – und seine profane Nachnutzung – sollte die Ultima Ratio bleiben, brachte Rainer Nagel, Bundesstiftung Baukultur, den (impliziten) Konsens des Symposiums auf den Punkt.
Am Ende des Prozesses kann überhaupt ans Bauen gedacht werden: Kirchenumnutzungen sind also keine flotte Projekt-Akquise für Architekten und Architektinnen. Und nur bedingt Fingerübungen für Studierende, wie Projekte zur Heilig Geist-Gemeinde im Rahmen des zweijährlichen studentischen Ideenwettbewerbs „Wolfsburg Award“ von 2020 zeigen.
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