Reparāre – ein Modell für die Stadt
Abriss und Neubau sind die herrschenden Treiber des heutigen Bauwesens. Sie stehen weltweit für die dramatische Ressourcenverschwendung, an der das Bauen maßgeblichen Anteil hat. Eine Transformation der Routinen braucht nicht nur ein verändertes Baurecht, sondern auch neue Narrative für den Umgang mit dem Bestand. Berufen könnten sich diese auf eine vormoderne Haltung, in der die Ressourcenknappheit zum Alltag gehörte und für Erfindungsreichtum sorgte.
Text: Baum, Martina, Stuttgart
Reparāre – ein Modell für die Stadt
Abriss und Neubau sind die herrschenden Treiber des heutigen Bauwesens. Sie stehen weltweit für die dramatische Ressourcenverschwendung, an der das Bauen maßgeblichen Anteil hat. Eine Transformation der Routinen braucht nicht nur ein verändertes Baurecht, sondern auch neue Narrative für den Umgang mit dem Bestand. Berufen könnten sich diese auf eine vormoderne Haltung, in der die Ressourcenknappheit zum Alltag gehörte und für Erfindungsreichtum sorgte.
Text: Baum, Martina, Stuttgart
„Reparieren aus lat. reparāre ‘wiedererwerben, wiederherstellen, erneuern’; vgl. lat. re- ‘bezeichnet ein Verbringen bzw. Gelangen an den alten, gehörigen Ort’ und parāre ‘(zu)bereiten, Vorkehrungen treffen, erwerben’.“ 1
Gesellschaftliche Debatten manifestieren sich immer auch räumlich, im Städtebau, im Freiraum und in der Architektur. Da gibt es auf der einen Seite Akteure der Stadtentwicklung, die vor allem für Abriss und Neubau von Gebäuden einstehen, während andere für ein historisierendes Bild von Stadt plädieren, welches so nie existierte. Diesen beiden weit verbreiteten und raumbildenden Positionen wird in diesem Text eine offenere Perspektive hinzugefügt: Das Bestehende bildet dabei die Grundlage für das Gegenwärtige und Zukünftige. Umnutzung und Weiterverwertung, basierend auf einem tiefgehenden Verständnis für Ort, Geschichte, Material und Fügung, sind die Grundlagen einer solchen, städtebaulichen und architektonischen Herangehensweise, für die sich das lateinische Wort reparāre gut nutzen lässt – als umfassender Begriff wie als Inspiration.
Tabula rasa machen ist heute immer noch die vornehmliche Antwort bei leerstehenden Gebäuden, deren Gestalt und Raumangebot aus bestimmten Eigenlogiken der Bauproduktion heraus nicht mehr den gegenwärtigen Normen, der Marktlage oder einer vermeintlich effizienten und ökonomischen Nutzung entsprechen. Unbeachtet bleiben dabei oft Werte, Ressourcen und Geschichten, die den Bauwerken durch und seit ihrer Errichtung eingeschrieben sind. Dazu zählen neben den reinen Materialwerten auch immaterielle Eigenschaften wie zeitgeschichtliche Entstehungsumstände und identitätsstiftende Kontexte. Die Politik des „Abriss und Neubau“ reduziert Städtebau und Architektur auf ein Produkt. Ist der Nutzen, welcher der Erstellung eines Gebäudes zugrunde lag, nicht mehr gegeben, verliert es nicht nur seine Zweckbestimmung, sondern auch seine Erhaltungsrelevanz, oder aber es wird einem musealisierenden Denkmalschutz untergeordnet. Dabei klagt die Bevölkerung zunehmend über die Uniformität neuer Quartiere und Bauten, deren generisches Erscheinungsbild sich der Kontextualisierung und einer möglichen Verankerung in der Geschichte verweigert. Die bislang gängige Raumproduktion des Immobilienmarktes und seiner Akteure tragen dazu bei. Die kurzfristig gedachte Strategie des „Abriss und Neubau“ führt jedoch mittel- und langfristig genau zu den sozialen und ökonomischen Herausforderungen, vor denen wir heute stehen.
Bereits in den 1960er Jahren warnte Jane Jacobs vor sozialer Ungleichheit und einer wachsenden Tendenz der Spekulation.2 Sechzig Jahre später müssen wir uns neben der wirtschaftlichen und sozialen Notwendigkeit der Nutzung alter Gebäude auch dringend mit der Ökologie auseinandersetzen und einen bewussten Umgang mit endlichen Ressourcen voranbringen. Im Hinblick auf die weltweite Ressourcenknappheit und Klimaverantwortung ist das Abtragen und komplette Neuerrichten von Bauwerken eigentlich keine gangbare Praxis mehr. Die Baubranche, die rund ein Viertel des globalen CO2-Ausstoßes mitverantwortet, kann nicht länger nach dem Prinzip des leeren Blattes verfahren, sondern muss neue Wege finden mit dem Bestand umzugehen.
Ein vormodernes Prinzip reaktivieren
Grundlage hierfür ist die Reparaturfähigkeit, eine Eigenschaft, die der Architektur bis in die Moderne hinein eingeschrieben war. Zum einen aufgrund der eingeschränkten Verfügbarkeit von Baumaterialien und zum anderen durch die handwerkliche Be- und Verarbeitung dieser Materialien. Die bauliche Struktur fügte sich zum Gebäude, und die Gebäude wurden dann zum Quartier, was im Umkehrschluss auch eine Option zu sortenreinem Rückbau, Anpassung und Umnutzung bot. Heutige Verbundwerkstoffe und Baukonstruktionen erlauben dies – wenn überhaupt – nur sehr eingeschränkt. Es wird geklebt und vermischt aber nicht mehr konstruiert und handwerklich durchdacht. Die jeweiligen Materialeigenschaften und mögliche Fügungen zu einem Ganzen spielen eine untergeordnete Rolle. Das Konstruktionsprinzip wurde abstrakt und zugleich generisch: Weltweit geht es um Stahlbeton, Wärmedämmverbundsystem, Silikon, Glas und Bauschaum. Die entsprechend gestalteten Normen der Bauindustrie und Hersteller potenzieren diesen Prozess. Dies hatte neben den dramatischen Umweltfolgen auch Auswirkungen auf unsere Baukultur. Jahrtausende altes Wissen zum Bauen mit natürlichen Rohstoffen in allen nur erdenklichen Klimazonen dieser Welt wurde als rückständig gesehen und ging verloren. In einer Gesellschaft, die mehr und mehr das Denken als intellektuelle Arbeit vom Machen und der Handarbeit3 getrennt hat, stellt die Strategie des reparāre die Voraussetzung dar, Kopf und Hände wieder in Verbindung zu bringen. Otl Aicher kritisierte diese Trennung 1991 so: „den platz der erfahrung nimmt nun die erscheinung ein. die dinge werden nicht mehr entworfen.“4
In die Disziplinen Städtebau und Architektur übersetzt, betont eine Rückbesinnung nicht nur die Wichtigkeit des reparāre in Bezug auf das Bestehende, sondern eine bewusstere Herstellung, die das Bauen als Prozess und nicht als Produkt versteht. Adaptier- und Transformationsfähigkeit können so bereits im Entwurf angelegt werden. Werte also, die – wie auch die gebundene graue Energie – in Zukunft mit ökonomischen Daten unterlegt werden sollten. In der monetär geprägten Welt der Produktion von Stadtist dies ein notwendiger Weg, um die marktwirksamen Akteure zu einem veränderten Handeln zu bewegen. Neben der aus Nachhaltigkeitsgründen gebotenen Relevanz, in Zukunft mehr zu reparieren, gibt es einen weiteren wichtigen Aspekt: die Freude an solchen Tätigkeiten. Die eigene Wirkmächtigkeit vermittelt ein Gefühl des Stolzes durch Transformation und Verbesserung. Der Mensch tritt wieder in Kontakt mit seiner gebauten Umwelt, wird vom passiv Konsumierenden zum aktiv Gestaltenden. Schon bei einer Reparatur eines einfachen Alltagsgegenstands kann diese Erfahrung der Faszination des eigenen Tuns gemacht werden. Die individuelle Beschäftigung mit einem reparierten Objekt verleihen ihm einen authentischen und individuellen Charakter, dessen emotionaler Wert für den Reparierenden nicht zwangsläufig monetär greifbar sein muss. Reparieren bringt Autonomie: „Es ist gelebte Nachhaltigkeit, bedeutet die Übernahme von Verantwortung, verbindet mich sinnvoll mit dem, was mich umgibt, und zwingt zum genauen Schauen, Erleben und Entdecken.“5 Dies gilt für alle Maßstäbe und Dimensionen und nicht nur für den kleinen Alltagsgegenstand. Auch in Architektur und Städtebau braucht es die Möglichkeit der Aneignung durch Modifikation; es braucht robuste, adaptive Strukturen, welche ein An- und Weiterbauen, ein sich Einleben nicht nur möglich machen, sondern aktiv anstoßen.
Fragmente, Collagen, Patina
Die Pritzkerpreisträgerinnen Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal stehen für diesen Ansatz: „Versuchen Sie einfach zu reparieren und fügen Sie hinzu, was fehlt. Sie werden viel mehr Freude haben als durch den Wiederaufbau nach dem Abriss.“6 Die Strategie des reparāre, wie sie die französischen Architekten in ihren Bauten umsetzen, umfasst architektonische und städtebauliche Eingriffe, welche nicht nur der Wiederherstellung eines funktionsfähigen Anfangszustandes dienen, sondern auch einen ungeahnten Handlungsspielraum für ein Weiterschreiben des Vorhandenen ermöglichen. Bei einer solchen Arbeit mit dem Vorhandenen kann zwischen Integration und Differenzierung unterschieden werden: von Anpassenden und Vermittlung auf der einen und der entwerferischen Herausarbeitung des neu Hinzugefügten auf der anderen Seite. Auch die Patina einer gebauten Struktur spielt beim reparāre eine große Rolle. Lange Zeit wurden die Spuren des Alterns eines Materials und des Gebrauchs als wertmindernd empfunden. In der japanischen Kultur finden sich schöne Gegenbeispiele. Sashiko, Kintsugi und Wabi-Sabi sind Reparaturtechniken, die von großer handwerklicher Fertigkeit zeugen. Die Qualitäten des Fragments wie sie zum Beispiel in der Romantik durch Dissonanz, Nichtvollendung und offene Strukturen verwendet werden und die auch in zeitgenössischer Anwendung als Assemblage oder Collage zum Einsatz kommen, stehen für eine Methodik, das Vorhandene weiterzuentwickeln. Es gibt inzwischen eine Vielzahl von aktuellen Beispielen, die die Bandbreite solcher Konzepte bestätigen. Die ganz wörtlich zu nehmende Dekonstruktion mit anschließender Wiederverwertung der Materialien, wie sie das baubüro in situ bei der Hallenaufstockung K.118 in Winterthur durchgeführt hat (Seite 66), oderdie Destruktion von Elementen, wie sie Brandlhuber und Emde bei der Antivilla umgesetzt haben, stehen für solche entwurfliche Auseinandersetzungen mit dem Bestand.
Zusammen entwerfen, zusammen bauen
Durch Weiterbauen und Ergänzen an einer primären Struktur findet eine permanente Co-Kreation statt.7 Geteilte Autorenschaft, heute immer noch die Ausnahme, entsteht in der Perspektive des reparāre fast zwangsläufig. Wenn Architektur als Prozess verstanden wird, dann beinhaltet das ein erweitertes Verständnis, das auch die Nutzerinnen einschließt. Die Tiefe des Eingriffs kann von einer Interpretation des Vorhandenen bis hin zur Transformation reichen. Den alltäglichen Bedürfnissen entsprechend, entstehen so komplexe Gefüge, Collagen und Schichten.
Möglich ist dies allerdings nur dort, wo die primäre (Bau-)Struktur dies konstruktiv und organisatorisch ermöglicht. Auch in der Neuplanung von Quartieren und Gebäuden bedarf es der grundsätzlichen Disposition zum Weiterbauen. Städtebauliche Strukturen müssen mit einer Robustheit, oder, wie Bruno Taut es formulierte, „Elastizität“8 ausgestattet werden, die einen Spielraum für zukünftige Veränderungen und Anpassungen erlaubt. Dies bedeutet keinesfalls, eigenschaftslose bauliche Setzungen oder Architekturen zu entwerfen, sondern eine kraftvolle Architektur mit Offenheit auszustatten. Solche dynamisch-stabilen Strukturen9, wie wir sie 2012 in der Recherche „City as Loft“ zusammengetragen haben, stimulieren den Kontext und laden zur Aneignung und Identifikation ein. Der Wert einer so konzipierten Architektur bemisst sich in ihrer Kapazität, auf den Alltag zu reagieren und gleichzeitig neue Lebensmodelle anzuregen. Städtebau und Architektur sind Teil einer gesellschaftsbildenden Praxis. Der gebaute Raum ist, so hat es Angelus Eisinger formuliert, konkreter urbaner Alltag. Architektur wie Städtebau sind als Prozess und nicht als Produkt zu verstehen: „Die Aufgabe lautet …, sich … auf dieses gesellschaftlich-räumlich-technische Geflecht Stadt einzulassen und in der Planung urbane Vielfalt nicht als abstraktes Modell, sondern als faktisch immer schon präsente, weil gelebte und widersprüchliche Grösse bei der Weiterentwicklung unserer Städte anzunehmen.“10Ein solches Konzept des Bauens als Weiterbauen wird zum Beispiel praktisch, wenn Architects for Future heute Vorschläge für eine neue Muster(Um)Bauordnung unterbreiten.11
Beispiel 1: Alter Schlachthof Karlsruhe
Der ehemalige Schlachthof wurde auf Initiative der Karlsruher Kreativszene seit 2006 zu einem Ort für kulturelle Einrichtungen, Kreative und Künstler um- und weitergebaut. Der städtebauliche Entwurf ist von ASTOC und dem Studio Urbane Strategien, die architektonischen Entwürfe sind von einer Reihe unterschiedlicher Architektinnen.
Das Areal verfügt über eine eigene Geschichte und Atmosphäre, die sich in den Bauten und Freiräumen im Laufe der über hundertjährigen Nutzung eingeschrieben haben. Dem städtebaulichen Entwurf lag die Idee zugrunde, ein Areal zu entwickeln, das sich in der alltäglichen Nutzung weiterentwickeln kann. Es wurde deshalb auch kein Masterplan sondern eine Transformationsstrategie entworfen. Diese Strategie berücksichtigt verschiedene Programme und die Bedürfnisse der Akteure vor Ort. Sie schlägt ein Denken in Szenarien und eine Betreuung über die Zeit vor. Neue Bausteine sind Bestandteil dieser Strategie. Nicht die Historisierung der alten Substanz – auch nicht jene der unter Denkmalschutz stehenden Gebäude –, sondern vielmehr die Weiterentwicklung ihrer Qualitäten und die Nutzung ihrer Offenheit sind im Sinne des reparāre Grundlage des Konzepts. Die Konversion wird als Prozess verstanden, der sich innerhalb eines Regelwerks vollzieht. Die Entwicklung erfolgt in einem partizipativen Lernprozess.
Das Areal verfügt über eine eigene Geschichte und Atmosphäre, die sich in den Bauten und Freiräumen im Laufe der über hundertjährigen Nutzung eingeschrieben haben. Dem städtebaulichen Entwurf lag die Idee zugrunde, ein Areal zu entwickeln, das sich in der alltäglichen Nutzung weiterentwickeln kann. Es wurde deshalb auch kein Masterplan sondern eine Transformationsstrategie entworfen. Diese Strategie berücksichtigt verschiedene Programme und die Bedürfnisse der Akteure vor Ort. Sie schlägt ein Denken in Szenarien und eine Betreuung über die Zeit vor. Neue Bausteine sind Bestandteil dieser Strategie. Nicht die Historisierung der alten Substanz – auch nicht jene der unter Denkmalschutz stehenden Gebäude –, sondern vielmehr die Weiterentwicklung ihrer Qualitäten und die Nutzung ihrer Offenheit sind im Sinne des reparāre Grundlage des Konzepts. Die Konversion wird als Prozess verstanden, der sich innerhalb eines Regelwerks vollzieht. Die Entwicklung erfolgt in einem partizipativen Lernprozess.
Beispiel 2: Cité Frugès in Pessac, Bordeaux
„Man könnte“ so formulierte es Le Corbusier, „bewundernswert gut geplante Häuser bauen, vorausgesetzt natürlich, der Mieter ändert seine Mentalität.“12 Die Arbeitersiedlung Frugès in Pessac entstand 1926 nach seinen städtebaulichen und architektonischen Plänen. Die Siedlung wurde vom Industriellen Henri Frugès für die Arbeiter und ihre Familien in Auftrag gegeben. Geplant waren 127 Häuser in sieben Variationen, eingebettet in Gärten, die der Selbstversorgung dienten; 51 wurden realisiert. Diese konnten von den Arbeiterfamilien für einen sehr niedrigen Preis, der ca. 20 Prozent der Herstellungskosten entsprach, erworben werden. Auch hier spielt die Möglichkeit zum Eigentumserwerb eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Siedlung.
Die Bewohnerschaft begann bald, die Gebäude wie eine offene Struktur zu begreifen und sie abzuwandeln, zu modifizieren und zu ergänzen. Dies betraf nicht nur die Grundrisse und die Fassaden, sondern auch den Umgang mit dem Freiraum und den Gärten. Neben der Offenheit der räumlichen Konzeption boten die fünf Entwurfsprinzipien Le Corbusiers – Langfenster, Dachterrasse, Pilotis, freie Fassadengestaltung und freier Grundriss – eine große Freiheit zur Aneignung: Öffnungen wurden unterteilt, Freiräume zu Innenräumen. Die Vielzahl der Baumängel und sowie die Kriegsschäden aus dem Zweiten Weltkrieg machten schon bald weitere Reparaturen notwendig, und die bereits eingeübte Praxis der Bricolage wurde weitergeführt. Philippe Boudon hat dies 1969 in seiner legendären sozio-architektonischen Studie „Die Siedlung Pessac – 40 Jahre Wohnen à Le Corbusier“ ausführlich analysiert. Auch der 2004 realisierte Dokumentarfilm „Pessac – Leben im Labor“ von Claudia Trinker und Julia Zöller zeigt die Menschen mit ihren Geschichten und Bedürfnissen als Bricoleur ihrer selbst gestalteten Lebenswelt. Seit 2016 ist die Siedlung Teil des Weltkulturerbes. Dieser Status verlangt allerdings bei einer Reparatur die Wiederherstellung des Originalzustandes von 1926, was von Architektinnen, die inzwischen auch in der Siedlung wohnen, meist begrüßt wird. Hier stellt sich die Frage unterschiedlicher Wertvorstellungen. Die Architektur hatte die Veränderungen ja stimuliert. Und die Bewohnerinnen nahmen dieses Angebot in einer knapp 100-jährigen Praxis an: Wohnen als performative Praxis. Welche Haltung ist höher einzuschätzen?13
Beispiel 3: Cité Ouvrière in Mulhouse
Die Cité ist im 19. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung, eines enormen Stadtwachstums und damit einhergehender Wohnungsnot entstanden. Die kostengünstigen Unterkünfte für die Arbeiterinnen der Firma Dollfus, Mieg und Cie stehen für den Beginn des sozialen Wohnungsbaus in Frankreich. Im Jahre 1853 wurde hierzu die Société Mulhousienne des Cités Ouvriéres (SOMCO) gegründet und das Konzept durch Émile Muller in einen städtebaulichen Plan überführt. Dieser sah in räumlicher Nähe zur Fabrik eine orthogonale Struktur mit kleinteiliger Grundstücksstruktur und Bebauung eingebettet in Gärten vor. Die Bewohner hatten die Möglichkeit Grundstück und Gebäude nach einer Frist von 13 bis 15 Jahren zu erwerben, ein Novum im sozialen Wohnungsbau. Die Mieterinnen wurden zu Eigentümerinnen und damit auch von passiven zu aktiven Bewohnerinnen.
Charakteristisch ist das Carré Mulhousien, ein quadratisches Gebäude, das durch zwei sich kreuzende Trennwände in vier Einheiten mit jeweiligem Garten geteilt wurde. Der Typus erwies sich als hervorragende Ausgangsbasis für stetige Anpassungen und Erneuerungen. Seine adaptive Kapazität regte die Bewohnerinnen an, weiterzubauen, Dächer und Fassaden wurden verändert, neue Anbauten und selbst Grundstücksteilungen führten zu einer vielfältigen Collage. Die Top-down-Masterplanung hat sich bottom-up-mäßig weiterentwickelt. Seit den 1960er Jahren ist das Quartier durch Zuzug diverser geworden, bis heute besteht ein großes Maß an Zugehörigkeitsgefühl und Nachbarschaftsempfinden. Die robuste städtebauliche Struktur sowie die Gemeinschaftseinrichtungen wie Wäschereien, Bäder, Kindergärten, einem Markt und einer Bibliothek trugen dazu bei. Die kleinteilige Parzellierung verhinderte großflächige Sanierungen oder den Abriss, die Offenheit zur baulichen Adaption sicherte Zukunftsfähigkeit. Zum 150. Jahrestag der Siedlung wurde diese durch 61 neue Bauten ergänzt, Lacaton Vassal, Duncan Lewis, Shigeru Ban und andere Architekten haben den Typus weiterentwickelt.14
Charakteristisch ist das Carré Mulhousien, ein quadratisches Gebäude, das durch zwei sich kreuzende Trennwände in vier Einheiten mit jeweiligem Garten geteilt wurde. Der Typus erwies sich als hervorragende Ausgangsbasis für stetige Anpassungen und Erneuerungen. Seine adaptive Kapazität regte die Bewohnerinnen an, weiterzubauen, Dächer und Fassaden wurden verändert, neue Anbauten und selbst Grundstücksteilungen führten zu einer vielfältigen Collage. Die Top-down-Masterplanung hat sich bottom-up-mäßig weiterentwickelt. Seit den 1960er Jahren ist das Quartier durch Zuzug diverser geworden, bis heute besteht ein großes Maß an Zugehörigkeitsgefühl und Nachbarschaftsempfinden. Die robuste städtebauliche Struktur sowie die Gemeinschaftseinrichtungen wie Wäschereien, Bäder, Kindergärten, einem Markt und einer Bibliothek trugen dazu bei. Die kleinteilige Parzellierung verhinderte großflächige Sanierungen oder den Abriss, die Offenheit zur baulichen Adaption sicherte Zukunftsfähigkeit. Zum 150. Jahrestag der Siedlung wurde diese durch 61 neue Bauten ergänzt, Lacaton Vassal, Duncan Lewis, Shigeru Ban und andere Architekten haben den Typus weiterentwickelt.14
1 Definition aus: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS). Quelle: https://www.dwds.de
2 vgl. Jane Jacobs, 1963: Tod und Leben großer amerikanischer Städte. Bauwelt Fundamente 4, Bertelsmann Fachverlag Gütersloh
3 Bernard Rudofsky, 1964: Architecture Without Architects, University of New Mexico Press, Albuquerque
4 Otl Aicher, 2015 : die welt als entwurf. Ernst & Sohn, Berlin, S. 31
5 Wolfgang M. Heckl, 2015: Die Kultur der Reparatur, Goldmann Verlag, München, S. 17
6 Vortrag von Jean-Philippe Vassal. Quelle: https://www.dezeen.com/2021/04/22/jean-philippe-vassal-face-to-face-podcast-interview/7 vgl. Philippe Koch, Andreas Jud, 2021: Bauen ist Weiterbauen – Lucius Burckhardts Auseinandersetzung mit Architektur, Triest Verlag, Zürich, S. 99
8 vgl. Bruno Taut et al. (Hrsg.) 1977: Architekturlehre. Grundlagen, Theorie und Kritik aus der Sicht eines sozialistischen Architekten. VSA, Hamburg/Berlin, S. 137
9 vgl. Martina Baum, Kees Christiaanse, 2012: City as Loft – Adaptive Reuse as a Resource for Sustainable Urban Development, gta Verlag, Zürich, S. 8–9
10 Angelus Eisinger, Alexa Bodammer: Zürich neu denken – Indizien für einen Wandel in der europäischen Stadtentwicklungspraxis, in: Archithese 5.2015
11 Architects for Future, 2021: Vorschläge für eine Muster(Um)Bauordnung. www.architects4future.de/news/a4f-umbauordnung
12 Zitiert von Philippe Boudon, 1971: Die Siedlung Pessac – 40 Jahre Wohnen á Le Corbusier. Bauwelt Fundamente 28, Bertelsmann Fachverlag, Gütersloh
13 Claudia Trinker, Julia Zöller, 2004: Le Corbusier Pessac – Leben im Labor. Dokumentarfilm, Docushop/Sabine Ammon et al. (Hrsg.), 2018: Architektur im Gebrauch. Universitätsverlag TU Berlin, Berlin
14 vgl. Jean-Paul Robert, 2005: La Citè Manifeste. In: Bauwelt 9, 2005, S. 11–23/Fani Kostourou, 2019: Mass Factory Housing: Design and Social Reform. In: DesignIssues, Volume 35, Number 4, Autumn 2019, S. 79–92/Fani Kostourou, Sophia Psarra, 2017: Formal Adaptability: A Discussion of Morphological Changes and their Impact on Density in Low-Rise Mass Housing/Lucius Burckhardt, Christian Hunziker, 1972: Learning form Mulhouse. In: Das Werk : Architektur und Kunst, 59, 1972, Quelle: http://doi.org/10.5169/seals-45825
2 vgl. Jane Jacobs, 1963: Tod und Leben großer amerikanischer Städte. Bauwelt Fundamente 4, Bertelsmann Fachverlag Gütersloh
3 Bernard Rudofsky, 1964: Architecture Without Architects, University of New Mexico Press, Albuquerque
4 Otl Aicher, 2015 : die welt als entwurf. Ernst & Sohn, Berlin, S. 31
5 Wolfgang M. Heckl, 2015: Die Kultur der Reparatur, Goldmann Verlag, München, S. 17
6 Vortrag von Jean-Philippe Vassal. Quelle: https://www.dezeen.com/2021/04/22/jean-philippe-vassal-face-to-face-podcast-interview/7 vgl. Philippe Koch, Andreas Jud, 2021: Bauen ist Weiterbauen – Lucius Burckhardts Auseinandersetzung mit Architektur, Triest Verlag, Zürich, S. 99
8 vgl. Bruno Taut et al. (Hrsg.) 1977: Architekturlehre. Grundlagen, Theorie und Kritik aus der Sicht eines sozialistischen Architekten. VSA, Hamburg/Berlin, S. 137
9 vgl. Martina Baum, Kees Christiaanse, 2012: City as Loft – Adaptive Reuse as a Resource for Sustainable Urban Development, gta Verlag, Zürich, S. 8–9
10 Angelus Eisinger, Alexa Bodammer: Zürich neu denken – Indizien für einen Wandel in der europäischen Stadtentwicklungspraxis, in: Archithese 5.2015
11 Architects for Future, 2021: Vorschläge für eine Muster(Um)Bauordnung. www.architects4future.de/news/a4f-umbauordnung
12 Zitiert von Philippe Boudon, 1971: Die Siedlung Pessac – 40 Jahre Wohnen á Le Corbusier. Bauwelt Fundamente 28, Bertelsmann Fachverlag, Gütersloh
13 Claudia Trinker, Julia Zöller, 2004: Le Corbusier Pessac – Leben im Labor. Dokumentarfilm, Docushop/Sabine Ammon et al. (Hrsg.), 2018: Architektur im Gebrauch. Universitätsverlag TU Berlin, Berlin
14 vgl. Jean-Paul Robert, 2005: La Citè Manifeste. In: Bauwelt 9, 2005, S. 11–23/Fani Kostourou, 2019: Mass Factory Housing: Design and Social Reform. In: DesignIssues, Volume 35, Number 4, Autumn 2019, S. 79–92/Fani Kostourou, Sophia Psarra, 2017: Formal Adaptability: A Discussion of Morphological Changes and their Impact on Density in Low-Rise Mass Housing/Lucius Burckhardt, Christian Hunziker, 1972: Learning form Mulhouse. In: Das Werk : Architektur und Kunst, 59, 1972, Quelle: http://doi.org/10.5169/seals-45825
Der Text entstand auf Basis der Arbeit eines forschungsbasierten Entwurfsstudios am Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen der Uni Stuttgart. Beteiligt waren Martina Baum, Alba Balmaseda Dominguez, Sascha Bauer und Jonas Malzahn.
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