Zurück nach 30 Jahren
Der Autor konnte Paraguay während eines Aufenthalts zu Studienzeiten kennenlernen. Nun kehrte er zurück – und war verblüfft von der Entwicklung der Architektur in dem südamerikanischen Land
Text: Schulz, Benedikt, Leipzig
Zurück nach 30 Jahren
Der Autor konnte Paraguay während eines Aufenthalts zu Studienzeiten kennenlernen. Nun kehrte er zurück – und war verblüfft von der Entwicklung der Architektur in dem südamerikanischen Land
Text: Schulz, Benedikt, Leipzig
„Caja de Tierra“ nennen Viviana Pozzoli und Horacio Cherniavsky vom Büro Equipo de Arquitectura ihr aus Stampflehm errichtetes eigenes Architekturbüro – „Schachtel aus Erde“. Der kleine Kubus wurde 2017 fertiggestellt und vielfach veröffentlicht. Pozzoli und Cherniavsky, geboren 1990 beziehungsweise 1989, haben mit diesem und weiteren Gebäuden schlagartig international Beachtung gefunden. Hervorragende Architektur aus Paraguay ist aber kein völlig neues Phänomen. 2016 wurde die Installation „Breaking the Siege“ von Solano Benítez und Gloria Cabral auf der Architekturbiennale in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Anlässlich der darauffolgenden Biennale errichtete Javier Corvalán neben Eduardo Souto de Moura, Ricardo Flores y Eva Prats, Sean Godsell und Smiljan Radic auf der Insel San Giorgio Maggiore eine von zehn Kapellen für den Vatikan (Bauwelt 10.2018). Spätestens zu dem Zeitpunkt war Architektur aus Paraguay auf dem Bildschirm.
Javier Corvalán und Solano Benítez sind die beiden Protagonisten einer rasanten Entwicklung der zeitgenössischen Architektur Paraguays in den vergangenen dreißig Jahren, sowohl durch ihre herausragenden Bauten als auch durch ihre Lehrtätigkeit an den Universitäten Nacional und Católica in Asunción. Während der bis 1989 andauernden Militärdiktatur von Alfredo Stroessnergab es kaum Bauten mit architektonischem Anspruch und auch nur Wenige, die hochwertige Architektur umsetzten. Zu diesen gehörten Künstler wie Jenaro Pindú und Carlos Colombino, die auch Gebäude entwarfen, und wenige selbständige Architektinnen und Architekten wie zum Beispiel das Ehepaar Pablo Ruggero und Petrona Zarza oder der aus Argentinien stammenden Pablo Cappelletti.
Bei jenem Pablo Cappelletti arbeitete ich ab September 1991. Mein Studienkollege Meinhard Neuhaus und ich hatten keine Lust mehr auf das Studium an der RWTH Aachen gehabt und deshalb beschlossen, auf eigene Faust ein Auslandsjahr in Paraguay zu verbringen. Obwohl wir nur arbeiten und nicht studieren wollten, gelang es Cappelletti, uns zur Teilnahme an abendlichen Entwurfsklassen an der Universidad Católica zu überreden, an der er auch unterrichtete. Während unseres einjährigen Aufenthalts arbeiteten Meinhard und ich im Architekturbüro, entwarfen Projekte an der Uni und wirkten als Hilfskräfte bei einem Forschungsprojekt mit.
1991: Ein Land im Aufbruch
Aus unserer deutschen Sicht unerfahrener Studenten empfanden wir die Architektur des Landes zunächst als wenig inspirierend. Vieles wurde anscheinend unreflektiert aus den USA übernommen, obwohl das Klima andere Typologien und Bauweisen verlangt. Auch im Architektonischen glich es mitunter einer Suche, wenn Cappelletti etwas skizzierte, was stark von Louis Kahn und Alvar Aalto beeinflusst war. Doch Cappellettis analytische Vorgehensweise und sein Verständnis für die aus technischen Möglichkeiten abgeleitete Architektur beeindruckten mich sehr. So bekam ich mit, wie Gebäude entwickelt wurden, deren Materialien der Tradition und den Gegebenheiten des Landes entsprachen. Aus der Erde Paraguays konnte man auf einfache Weise Ziegel und Putz herstellen, Holz gab es genug, Zement und Betonstahl erlaubten Stahlbetonkonstruktionen. Stahl hingegen gab es nur als Blech, das konnte man aber zumindest zu Profilen biegen und verschweißen.
Welche eigenständige zeitgenössische Architektur daraus entstehen könnte, war damals noch völlig offen. Das Land befand sich zwar im Aufbruch in eine neue Zeit, kam aber angesichts enormer wirtschaftlicher Probleme nur schwer in Bewegung. Meinhard und ich kehrten Mitte 1992 zurück nach Deutschland, schlossen unser Studium ab und wurden Architekten in eigenen Büros. In den Folgejahren lag mein Fokus eher auf der Architektur, die in Argentinien, Uruguay, Brasilien und Chile entstand. Mein Bruder Ansgar hatte 1988/89 in Madrid studiert und ebenfalls einen Blick auf diese Länder. Im Rahmen unserer gemeinsamen Büro- und Lehrtätigkeit machten wir Studienreisen dorthin und luden Kolleginnen und Kollegen zu Symposien und Vorträgen nach Deutschland ein. Paraguay geriet erst durch die Architektur-Biennalen 2016 und 2018 wieder in unser Blickfeld.
Im vergangenen Jahr verknüpften mein Bruder und ich eine Gastprofessur in Buenos Aires mit einem Besuch in Paraguay – dreißig Jahre nach meiner Rückkehr aus Asunción. Es war ein Ausflug ins Ungewisse, denn planbar war der einwöchige Aufenthalt im Vorfeld nicht. Sämtliche unserer Anfragen an paraguayische Architekturbüros blieben vor Reiseantritt unbeantwortet. Erst am Abend unserer Ankunft in Asunción antwortete Viviana Pozzoli und lud uns für den nächs-ten Morgen in ihre „Caja de Tierra“ ein. Dem herzlichen Empfang folgte ein äußerst anregendes Gespräch, zur Verabschiedung riefen Viviana und Horacio befreundete Kolleginnen und Kollegen an und öffneten uns deren Türen. So kam es in den Folgetagen täglich zu drei bis vier spontanen Verabredungen und Taxifahrten kreuz und quer durch die Stadt. Wir bekamen einen Einblick in die Szene.
Heute: eine lebendige Architekturszene
Ähnlich spielte es sich im Februar 2023 ab, als wir für weitere Recherchen zu dieser Bauwelt-Ausgabe noch einmal nach Asunción flogen, diesmal gemeinsam mit Matthias Beckh, der die armierten Ziegelkonstruktionen unter die Lupe nahm, und Meinhard Neuhaus, der uns inhaltlich und organisatorisch unterstützte. Wieder besuchten wir viele Gebäude und sprachen mit den Architektinnen und Architekten.
Beim zweiten Blick entpuppt sich die zeitgenössische Architektur Paraguays als heterogenes Gebilde. Neben Solano Benítez und Javier Corvalán liefern die rund zehn Jahre jüngeren Joseto Cubilla und Sergio Ruggeri eigenständige Projekte ab, die international publiziert werden. Das wiederum jüngere Paar Sonia Carísimo und Francisco Tomboly realisiert seit einigen Jahren im gemeinsamen Büro -=+x- Projekte von beeindruckender Klarheit. Hinzu kommen junge Architektinnen und Architekten, die erst vor ein paar Jahren ihr Studium abgeschlossen haben und oft in Kollektiven zusammenarbeiten. Hierzu zählen beispielsweise die Büros Grupo Culata Jovai, Mínimo Común, ArquitecTava sowie der unter dem Büronamen Tekoha agierende Ramiro Meyer.
Die Szene ist dennoch überschaubar. Es scheint, als haben alle in Studium oder Beruf miteinander zu tun gehabt oder noch zu tun. Architektonisch wertvolle große Bauten stehen kleinsten Interventionen höchster Sensibilität gegenüber. Den gestalterischen Ausdruck prägen mal Perfektion, mal Improvisation, und auch das Auftreten der Planerinnen und Planer wirkt von professionell bis erfrischend unbedarft.
Den Älteren lassen sich Schwerpunkte im eigenen Werk zuordnen. Javier Corvalán ist ein Meister des Umgangs mit Licht, Solano Benítez schafft poetisch anmutende, fast wie Kunstobjekte wirkende Strukturen, Joseto Cubilla erzeugt mit lokalen Baumaterialien Orte eindringlicher Atmosphäre, und Sergio Ruggeri versteht es wie kein Zweiter, unbestimmten „fließenden“ Raum für die Gemeinschaft entstehen zu lassen. Sonia Carísimo und Francisco Tomboly wiederum ist es gelungen, ein „Memorial 1A“ zu erschaffen, das durch seine Programmatik und Poetik von internationaler Strahlkraft ist. Die Jüngeren sind noch auf der Suche und orientieren sich an diesen Vorbildern, nehmen aber auch Einflüsse aus dem internationalen Architekturgeschehen auf, zu dem sie einfacheren Zugang haben als die Generationen vor ihnen.
Was alle verbindet, ist die Erde Paraguays. Der paraguayische Architekt und Hochschullehrer Silvio Rios, unter dessen Anleitung Meinhard und ich 1991/92 ländliche Bauweisen untersucht haben, hat die Tradition des Bauens mit Lehmziegeln und Stampflehm in Paraguay wissenschaftlich aufgearbeitet und in Praxisseminaren weitergegeben. Das Material ist die Klammer des heutigen Architekturgeschehens in Paraguay. Dessen Besonderheit ist aber nicht das Bauen mit Ziegeln und Lehm an sich, sondern die lebendige und frische Architektur, die von den Entwerferinnen und Entwerfern daraus geformt wird. Kaum ein Gebäude steht so programmatisch für die Entwicklung der Architektur Paraguays in den letzten drei Jahrzehnten wie die „Caja de Tierra“ von Viviana Pozzoli und Horacio Cherniavsky. Als ich Asunción 1992 verlassen hatte, waren die beiden zwei beziehungsweise drei Jahre alt. Es ist wahrscheinlich, dass die Architekturwelt noch viel hören wird aus Paraguay – und es nicht unser letzter Besuch war.
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