Anatomie eines Genozids
Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Anatomie eines Genozids
Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Als dieses Buch Anfang letzten Jahres erschien, dachten wohl nur Pessimisten und intime Kenner der Gedankenspiele im Kreml an einen unmittelbar bevorstehenden Krieg in der Ukraine. Mich hatte der Untertitel neugierig gemacht: „Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz“. Den Namen dieser Stadt im Westen der Ukraine hatte ich noch nie gehört, geschweige denn etwas von den Umständen ihres Untergangs.
Ein stadthistorisches Fachbuch im engeren Sinne sollte der Neugierige nicht erwarten: Etappen der Stadtplanung in Buczacz werden von Omer Bartov nicht abgehandelt; Architektur spielt schon gar keine Rolle darin. Was aber eine Rolle spielt, und das erlaubt den Hinweis auf sein Buch im Rahmen einer Architekturzeitschrift durchaus, ist der genaue Blick des Autors darauf, wie die über Jahrhunderte mehr oder weniger stabile, im Großen und Ganzen aber doch lebensfähige polnisch-ukrainisch-jüdische Gesellschaft der galizischen Stadt in einem relativ kurzen Zeitraum von nur drei, vier Jahrzehnten auseinanderbrach, die einen über die anderen herfielen, bis ihr schließlich der Terror von außen – erst von den Sowjets, dann von den Deutschen, dann wieder von den Sowjets – ein grausames Ende bereitete. Das, was üblicherweise eine große, aus der Distanz als Gesamtschau oder aus der allergrößten Nähe, als persönliches Erleben, geschriebene Erzählung ist, wird in Bartovs Buch zu einem Schauplatz, wird zum Schlachthaus, zur Folterkammer, eng umgrenzt und doch verflochten mit dem systematischen Morden, das über die „Bloodlands“ zwischen Berlin und Moskau kam: ein Auslöschen, dass in der „Banalität des Bösen“ verwaltungsmäßig funktionierte – die jüdische Gemeinde musste etwa für die Kugeln der Erschießungskommandos selbst aufkommen, was säuberlich abgerechnet und quittiert wurde –, sich aber auch der Bosheit, ja dem Sadismus einzelner Akteure sicher sein durfte. Der Zynismus, der darin zum Ausdruck kommt, kann sich auf ungeahnte Weise mit Nachrichten der Gegenwart verbinden; man muss schon aufpassen, sich die zeitlichen und politischen Trennlinien bewusst zu halten.
Die nüchterne Schilderung des Autors, dessen Mutter in Buczacz geboren wurde und rechtzeitig nach Palästina entkam, lässt genügend Raum für Empathie wie für das Nachdenken über der Frage, wie sich das Geschehene heute, fast achtzig Jahre später, oder in Zukunft angemessen erinnern lässt, sei es in Buczacz, wo erst vor wenigen Jahren die letzte bauliche Erinnerung an das jüdische Leben planiert wurde für den Neubau eines Einkaufszentrums, sei es andernorts. Und nicht zuletzt hilft der Blick in die Vergangenheit wie so oft auch für ein besseres Verständnis der Konflikte in der Gegenwart.
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