Das Berliner Zimmer
Geschichte, Typologie, Nutzungsaneignung
Text: Jäger, Frank Peter, Berlin
Das Berliner Zimmer
Geschichte, Typologie, Nutzungsaneignung
Text: Jäger, Frank Peter, Berlin
Es waren nicht nur die engen Höfe, die rudimentären hygienischen Ausstattungen und der architektonische Schematismus, welcher Generationen von Sozialreformern und Architekten gegen das Berliner Mietshaus aufbrachte; am meisten irritierte die Mietshauskritiker in den Jahren nach 1900, dass in den Mietwohnungen viele Räume keiner eindeutigen Funktion zugeordnet sind. Das gilt besonders für jenes aufgrund seiner Lage meist spärlich belichtete Durchgangszimmer, das in den Grundrissen nur lapidar als „Berliner Zimmer“ bezeichnet wird.
Diesem rechteckigen, oft erstaunlich großen Raum, der in Berliner Vorderhauswohnungen das räumliche Scharnier zum Seitenflügel bildet, hat der Architekt und Bauassessor Jan Herres ein schmales Büchlein gewidmet. Wer meint, nach Johann Frie-drich Geists legendä-ren Dreibänder „Das Berliner Mietshaus“ sei zu dem Thema alles gesagt, sieht sich eines Besseren belehrt. Ähnlich wie seinerzeit Geist das Mietshaus, beleuchtet Herres das Berliner Zimmer nicht nur als bauliches, sondern auch als kulturgeschichtliches Phänomen. Kurzweilig ist etwa seine Schilderung, wie versucht wurde, innerhalb der großbürgerlichen Wohnungen die Grundrisse so zu organisieren, dass sich die Wege der „Herrschaften“ und des Dienstpersonals nicht kreuzen – weil das dem kaiserzeitlichen Standesdünkel entgegenstand. Das Berliner Zimmer, am Schnittpunkt zwischen repräsentativen und dienenden Räumen gelegen, bildete dabei stets einen neuralgischen Punkt.
Doch der größere Teil von Jan Herres Buch fokussiert auf die Gegenwart: Der Autor nimmt das aus Sicht der einstigen Kritiker wesentliche Manko des Berliner Zimmers, das Fehlen einer klaren Funktion, zum Anlass, den Raum auf seine heutige Nutzungspraxis hin zu untersuchen. Er hat zwei Dutzend Berliner Familien und Paare zuhause besucht und sich „ihr“ Berliner Zimmer zeigen lassen. Die wechselnden Adaptionen des Raumes dokumentierte der Autor fotografisch und befragte die Bewohner zu ihren Nutzungserfahrungen. Dabei kommt er zu anderen Schlüssen als die Mietshauskritiker von einst: Es sei gerade die fehlende Nutzungsfestlegung, die dem Berliner Zimmer ein hohes Potenzial situativer Aneignung und „geplanter Unbestimmtheit“ verleihe, es zum Möglichkeitsraum innerhalb der Wohnung mache. Es hilft seinen Bewohnern, auf wechselnde Lebenskonstellationen zu reagieren, eine Art räumlicher „Joker“ – ähnlich den variablen Schaltzimmern, die als Innovation heutiger Cluster-Wohnkonzepte gelten. Herres unterstreicht das soziale Moment des Berliner Zimmers: Hier ist der Gemeinschaftsraum der WG, der Mittelpunkt von Partys und Geselligkeiten, und das war bereits in der Epoche förmlicher bürgerlicher Konvention um 1900 so. Der Autor verknüpft diese wohnsoziologischen Überlegungen zum „polyvalenten Zentrum“ des Wohnens mit den Schriften von Architektur-Strukturalisten wie Herman Hertzberger. Zugleich macht er an einer Reihe von jüngeren Beispielen deutlich, dass das Berliner Zimmer auch im Bauen der Gegenwart Platz hat; in Zeiten des Immobilienbooms ist es logisch, dass Bauherren versuchen, für die Wohnungen an der Straßenseite größtmögliche Raumreserven an der Hofseite zu erschließen.
Dieser Band wäre kein rechtes Typologien-Buch, wenn der Typus und seine Variationen nicht auch akribisch im Bild dokumentiert würden: Bei seinen Exkursionen durch Berliner Altbauten und Bauarchive stieß der Autor auf beachtliche 31 Grundrissvarianten des Berliner Zimmers, die er sorgfältig nachzeichnete. Ein informatives Buch darüber, wie zeitlos robust die architektonischen Verlegenheitslösungen von vorgestern sein können.
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