Bauwelt

Die neue Öffentlichkeit

Europäische Plätze des 21. Jahrhunderts

Text: Zischler, Hanns, Berlin

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Die neue Öffentlichkeit

Europäische Plätze des 21. Jahrhunderts

Text: Zischler, Hanns, Berlin

Wer dieses Buch aufschlägt, wird mit einem überwältigenden Fächer von Eintrittsbillets belohnt. Die mächtige Broschur lockt mit einem eleganten Blickfang, einem Foto, auf dem we­nige Passanten sich auf einem großen, feinteilig gepflasterten Platz wie beiläufig zu einer szenischen Anordnung eingefunden haben. Und weil wir am liebsten nach illustrierten Büchern greifen, finden wir hier neben dem Lesestoff vieles, das unsere Augen öffnet und verwöhnt. Der Titel lässt etwas Soziologisches, nicht unmittelbar konkret Anschauliches vermuten, was aber sogleich durch das ambulatorische Bild dementiert wird.
32 neue, in diesem Jahrhundert in Europa gebaute städtische Plätze werden hier ausgebreitet, und schon in dieser Form wird es dem Wunsch der Herausgeber Hilde Barz-Malfatti und Stefan Signer auf überraschende Weise gerecht, „die Stadt lesbar zu machen“. Dieser Wunsch der kürzlich verstorbenen Architektin Hilde Barz-Malfatti ist hier zum anschaulichen, wegweisenden Vermächtnis geworden. Sie appelliert in ihrer dichten Einleitung an die Politi­-ker und Planer, den Elan der 2007 verabschiedeten „Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“ aufzugreifen, weiterzudenken und umzusetzen. Die in diesem Band versammel­-ten Beispiele sind in ihrer markanten Unterschied- lichkeit verblüffend – und hoffnungsvoll. Die neu­-en Plätze zeichnet aus, dass sie beherzt und mit ästhetischer Kühnheit den Städtebewoh­-nern wieder etwas zugänglich machen und zurückerobern wollen, was vielen von ihnen als brach liegendes Erbe verborgen geblie-ben war. Gelegentlich ähneln die Eingriffe chirurgischen Operationen und Transplantationen „am Körper der Stadt“, oder es sind gelun­gene Reanimationen, die hier detailliert vorgestellt werden. Als Beispiele seien nur der riesi­ge, chromatisch subtil gepflasterte und minimal gehöhte Skanderberg Platz in Tirana oder der mit den industriegeschichtlichen Überformungen spielende Place de l’Académie in Esch-sur-Alzette in Luxemburg genannt. Gelegentlich sind es scheinbar naheliegende, von fließenden Schwellen unterstützte Freilegungen wie der Herderplatz in Weimar oder große Binnenräume schaffende Ensembles, wie der jetzt von der neuen Synagoge dominierte Münchener St.-Jakobsplatz oder die helle und nuanciert beleuchtete Piazza Risorgimento in Bari. Es sind häufig Plät­ze, die massiv überformt oder ins Abseits geraten waren und jetzt durch die radikal veränder­te Nutzung die damit einhergehenden veränderten Wahrnehmungen zum ersten Mal als ein die Öffentlichkeit ermöglichender Raum entdeckt wurden. So finden wir in diesen Plätzen neben den Visionen der Architekten auch das unverdrossene Engagement ihrer Bewohner, der kommunalen Politiker und Planer eingeschrieben.
Es bedurfte eines enormen Kraftaufwands, die historische Last der lange Zeit sakrosankten „autogerechten“ Stadt abzuschütteln und wirklich Neues entstehen zu lassen. Was aber vor den einzelnen Platzentwürfen hier zum Vorscheinkommt und mit programmatischer Entschiedenheit freigelegt wird, ist die gewissermaßen ‚neue‘ Tatsache, dass wir mehr denn je solcher Plätze bedürfen, dass sie es sind, die das künftige Bild unseres Lebens in der Stadt prägen werden, sie sind die Orte, an denen wir uns begegnen wollen, hier kommt die Stadt zu sich selbst. „Das Stadtbild gehört uns“, lautete das Desiderat Karl Schefflers, der in seinen Urteilen gelegentlich zu pathetischer Einseitigkeit neigte, doch dieser perspektivische Appell hat Bestand. Zu lange wurde die Arbeit von Landschaftsarchitekten und Grünplanern entweder als Beiwerk abgetan oder als nachrangig gegenüber den Solitärachitekten eingestuft, wie auch die Plätze selbst als unbegriffene Überbleibsel einer anderen Stadt bzw. als schie­-re Parkfläche herhalten mussten. Die Stadt, dies will dieser Band nahelegen, ist vielleicht nicht nur ein „Gabentisch“ für das Kapital, wie der Kritiker HG Helms vor dreißig Jahren mit einer zornig formulierten Streitschrift gesagt hat. Natürlich hat es ein nicht bebauter oder mit lediglich kommunalen Mitteln finanzierter Platz schwer gegenüber einer renditeträch­tigen Architektur, selbst wenn schon die schiere Evidenz nahelegt, dass die Erscheinungsformen, die Schauseiten von Architektur gerade durch die sie begrenzenden oder umfassenden Plätze entscheidend mitbestimmt werden. Hilde Barz-Malfatti geht diesem Problem mit der Frage „Wem gehört der öffentliche Raum?“ nach.
Die ästhetische Ökonomie und die konsequent durchgehaltene Gestaltungslinien der beiden Herausgeber konzentrieren sich auf den jeweiligen Platz zunächst mit einem durchweg sehr guten doppelseitigen Foto, gefolgt von einem Schwarzplan, einer detaillierten (zweisprachigen) Beschreibung der Platzgeschichte, der Gestalt, der Ausstattung und Möblierung, ergänzt durch Grundrisse und Querschnitte. Neben den individuellen, die städtischen Physiognomien prägenden Plätzen ist es ein nicht geringes Verdienst dieses Buches, dass wir in der Gesamtschau die spezifische europäische Diversität neu kennenlernen können. Ein ermutigendes Panorama zur rechten Zeit.
Fakten
Autor / Herausgeber Hilde Barz-Malfatti und Stefan Signer
Verlag m books, Weimar 2020
Zum Verlag
aus Bauwelt 8.2021
Artikel als pdf

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