Le Corbusier
Architekt, Künstler, Theoretiker
Text: Hotze, Benedikt, Berlin
Le Corbusier
Architekt, Künstler, Theoretiker
Text: Hotze, Benedikt, Berlin
Heute spräche man wohl von einer bipolaren Störung: Der einflussreichste Architekt der Moderne, das Jahrhundert-Genie Le Corbusier, schaltete seine Stimmung ununterbrochen zwischen Selbstmitleid und Größenwahn hin und her und wurde somit für sich selbst und seine Umwelt zum unerträglichen Zeitgenossen. Das zumindest ist die auf 800 Seiten erschöpfend belegte Quintessenz dieser Monographie. Im Gegensatz zu der frechen Gropius-Totaldemontage des Journalisten Bernd Polster (Bauwelt 21.2019) ist dies allerdings ein wissenschaftliches Werk, das eine gut belegte Quellenlage unter Einbezug der Archivalien der strengen Fondation Le Corbusier auswertet.
Es ist unfassbar, wie viele Briefe Le Corbusier an Mentoren, Weggefährten, Bauherrinnen und vor allem seine Eltern bzw. später seine Mutter sein Leben lang geschrieben hat. Und fast noch unfassbarer, wie distanzlos er seine Kommunikationspartner mit intimsten persönlichen Befindlichkeiten behelligte. „Einerseits war er ein unerschrockener Reisender, andererseits ein Kind, das getröstet werden musste. Dieser Widerspruch sollte ihn zeitlebens prägen.“
Sein Verhältnis zu Frauen weist ihn als ewig pubertierend aus: „Gestern in der Tram in La Roquette sah ich zwei Huren von den Bordellen dort, von denen die eine sogar (sic!) eine wahre Schönheit war. (...) Der liebe Gott hat ein reizendes Tier geschaffen!“ „Sexualität und Architektur gehörten in Charles-Édouard Jeannerets Vorstellungen untrennbar zusammen“, erklärt der Biograph wissend: „Bordellbesuche und Bauvorhaben erforderten die gleiche wilde Entschlossenheit, Wunschtraum in Wirklichkeit umzusetzen.“
Auch wenn LCs Auffassungen zur Sexualität ein Schaden aus seiner pietistischen Erziehung sein mögen, stellt sich spätestens nach 150 Seiten die Frage, ob solche verschmockten Bonmots das Verständnis des künstlerischen Werks befördern. Oder ob der Biograph beim voyeuristischen Aufspüren „pikanter Stellen“ einfach nur falsch abgebogen ist. Wenn der Rezensent nun doch weitergelesen hat, dann liegt es an der durchaus spannenden und detaillierten Aufbereitung der weiteren Lebensgeschichte, die hier nicht weiter referiert werden soll, weil bekannt. Allerdings nimmt der deutsche Verlag für sich in Anspruch, dies sei „die erste umfassende Biographie Le Corbusiers“. Das ist nicht nur angesichts eines überbordenden Bücherschranks zu LC so nicht richtig. Seit dem Erscheinungstermin der englischen Originalausgabe 2005 sind mit „Le Corbusier Le Grand“ (Bauwelt 46.2008) und dem respektlosen Briefroman „Saga Le Corbusier“ von Nicolas Verdan (Bauwelt 9.2022) zumindest zwei grundlegende Werke zu seiner schillernden Persönlichkeit auch auf Deutsch neu erschienen.
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