Sag mir, wo die Frauen sind
Pionierinnen der Wiener Architektur
Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig
Sag mir, wo die Frauen sind
Pionierinnen der Wiener Architektur
Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig
Die Zentralvereinigung ZV der Architekten, mittlerweile: ArchitektInnen, ist für Österreich so etwas wie der BDA, inzwischen: Bund Deutscher Architektinnen und Architekten, hierzulande. Erstere 1907 gegründet, letzterer bereits 1903 aus der Taufe gehoben, stellten beide Verbände bis zur Gründung entsprechender Kammern in beiden Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg auch die standes- und berufsrechtlichen Vertretungen dar. Existenziell wichtig waren sie für den unabhängig freiberuflichen „Privatarchitekten“, ein neues Berufsfeld, das sich im 19. Jahrhundert konstituiert hatte. Wenn sich in den frühen Annalen beider Berufsverbände nur wenige weibliche Mitglieder finden, ist das kaum verwunderlich. In Deutschland erhielten Frauen um 1909 den Zugang zum Architekturstudium, etwa an den Technischen Hochschulen Berlin-Charlottenburg, Darmstadt oder München, in Österreich erst ab April 1919, für die Wiener Akademie der Bildenden Künste sogar erst 1920. Ein Ingenieurstitel und die fünfjährige Praxis bei einem „anerkannten Architekten“ waren jedoch die Voraussetzungen zur Aufnahme in die ZV – für die ersten Freiberuflerinnen der Branche eine schwer zu bezwingende Hürde.
Mit dem Band „Pionierinnen der Wiener Architektur“ erscheint die zweite Publikation der ZV, die das eigene Archiv erforscht. Sie ist den frühen, zwischen 1925 und 1960 aufgenommenen knapp 60 weiblichen Mitgliedern gewidmet, elf von ihnen werden ausführlich mit Lebenslauf und architektonischem Wirken vorgestellt. Und es ist erstaunlich, was die beiden Herausgeberinnen Ingrid Holzschuh und Sabine Plakolm-Forsthuber sowie weitere Autorinnen dann zu ihnen zutage gefördert haben, besonders zu den allerersten, um 1925 aufgenommenen: Ella Briggs (1880–1977) und Leonie Pilewski (1897–1992). Beide entstammten, nicht untypisch für diese erste Generation in der Architektur selbständig tätiger Frauen, aus gutsituierten, akademischen Familien, beide hatten noch den Umweg über ein Studium in Deutschland wählen müssen und waren anschließend international wie auch Disziplinen übergreifend tätig. Sie traten, wenn man so will, die Flucht nach vorne an, wurden, sicher nicht bewusst, Vorbilder für den gesamten Beruf.
Die aus Wien stammende Ella Briggs, geborene Baumfeld, konnte ihre Tätigkeit um 1909 mit Interieurgestaltungen in den USA beginnen, gefördert durch ihren Bruder, der unter anderem das Deutsche Theater in New York leitete. Dem Besuch der k.u.k. Gewerbeschule und Praktika folgten von 1918 bis 1920 Studium und Diplom in München. Briggs blieb neben der Grande Dame der Wiener Architektur, Margarethe Schütte-Lihotzky, die einzige Frau, die an den Wohnbauprogrammen im „Roten Wien“ der Zwischenkriegsjahre beteiligt war. Ihr 1927 fertiggestellter und 1928 um ein kleines Wohnheim für männliche Studenten erweiterter Pestalozzihof im 19. Gemeindebezirk umfasst 119 Wohnungen. Seine differenzierte Baugestalt integriert neben kleinen Geschäften auch eine städtische Elektrostation sowie das damalige sozialprogrammatische Pflichtpensum: einen Kindergarten und einen repräsentativen Straßenhof zur Erschließung der Gesamtanlage. In Müller-Wulckows „Blauen Büchern“, Wasmuths Monatsheften oder mehrfach der Bauwelt publiziert, schlossen sich für Briggs Perspektiven in Berlin an: ein Block mit 53 Wohnungen in Tempelhof-Marienfelde und private Aufträge. Sie wurde Mitglied auch im deutschen BDA und unterhielt bis zu ihrer Emigration 1936 nach England ein Architekturbüro in der Stadt.
Leonie Pilewski war im deutschsprachigen Galizien nahe Lemberg, heute Ukraine, aufgewachsen und übersiedelte mit ihrer Familie um 1916 nach Wien. Sie studierte ab 1917 in Darmstadt, diplomierte dort 1922, arbeitete in Deutschland. Aus eigener Autorschaft sind Inneneinrichtungen bekannt, etwa des Hauses auf der Wiener Werkbundausstellung 1932 von Hugo Häring, sowie, wohl auch mit eigenen Fotos versehen, Reportagen und Vorträge zur enormen Architekturproduktion der Sowjetunion in den Zwischenkriegsjahren, die westliche Architektinnen und Architekten anzog. Sie veröffentlichte 1929 zum Massenwohnungsbau in Moskau in „Das neue Frankfurt“, stellte den heute durch russische Angriffe bedrohten, riesigen Ringbau des Derschprom in Charkiw 1930 in „Die Form“ vor. Als politisch engagierte Frau floh sie vor dem „Anschluss“ Österreichs über die Schweiz nach Schweden, dort heiratete sie, eine weitere Tätigkeit als Architektin ist nicht überliefert.
Ein Gespräch mit dem beiden Präsidentinnen der ZV, Marta Schreieck (bis 2017) und Maria Auböck (seitdem), rundet den Band ab. Beide haben in den 1970er Jahren studiert, in Zeiten also, als Studentinnen und Absolventinnen in den Architekturfachbereichen noch eine Minderheit waren. Heute sind sie an den Universitäten in der Überzahl, im (freien) Beruf aber nach wie vor unterrepräsentiert. Schreieck stellt deshalb die berechtigte Frage: Wohin verschwinden sie?
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