Bauwelt

Monumental, aber nicht erschöpfend

Der aktuelle Stand des Forschungsfeldes, dokumentiert in enzyklopä­discher Vollständigkeit

Text: Weckherlin, Gernot, Berlin

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Monumental, aber nicht erschöpfend

Der aktuelle Stand des Forschungsfeldes, dokumentiert in enzyklopä­discher Vollständigkeit

Text: Weckherlin, Gernot, Berlin

Diese Publikation ist ein wahrhaft gewichtiges Werk. Vier Bände in monumentalem Schuber verleihen den fast 1300 Seiten eine nicht leicht handhabbare Größe, so dass man vorab durchaus fragen darf, an welche Leserschaft sich ein solches Vorhaben eigentlich richtet – so verdienstvoll es auch immer ist. Zunächst, es dient der Selbstvergewisserung der Auftraggeberin, dem heute in diesem Ressortzuschnitt nicht mehr existierenden Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau- und Reaktorsicherheit, das im Jahr 2017 nach dem Vorbild anderer Bundesministerien eine unabhängige Historikerkommission beauftragte. Diese sollte die Forschungsarbeiten zur Planungsgeschichte und zum staatlichen Bauwesen sowie zur Frage nach deren Erbe im Nachkriegsdeutschland koordinieren: eine zweifellos notwendige, wenn auch späte, gründliche institutionelle Aufarbeitung der strukturellen und personellen Kontinuitäten des eigenen „Hauses“ nach 1945 und damit auch eine Dokumentation der Herrschaftstechniken des NS-Staates und seiner bis heute omnipräsenten Unterwerfungsarchitektur. Der Anspruch des Projekts besagt auch, dass die Anthologie und damit die Kooperation von 28 Forscherinnen und Forschern in „interdisziplinärer Konfigura­tion“ ein „heuristischer Glücksfall“, so die Einleitung, sei. Dass mit dem „intensiven Austausch“ ein Erkenntnismehrwert generiert sei, „der bei disziplinärer Engführung nicht erreicht worden wäre“.
Gerade diese Frage zum Forschungscharakter der Veröffentlichung scheint dringlich, da die NS-Diktatur zunehmend zu einer historischen Marginalie von neurechten Geschichtenerzählern umgedeutet wird. Die überall noch vorhandenen Bau- und Raumstrukturen als Zeugnisse der Gewaltausübung und des Terrors durch Planung und Architektur werden jedoch beispielsweise von heutigen Studierenden kaum noch bewusst wahrgenommen und kritisch hinterfragt. Insofern hat das Buch Aufklärungscharakter und sollte möglichst leicht zugänglich sein, ohne einen halben BAFÖG-Monatssatz für dessen Anschaffung ausgeben zu müssen. Es wäre den vier Bänden zu wünschen, dass sie über einen einfacheren Zugang mehr Leserinnen und Leser fänden, dokumentieren sie doch den aktuellen Stand des Forschungsfeldes in nahezu enzyklopädischer Vollständigkeit.
Wie zentral Planen und Bauen als Element der Herrschaftstechniken des NS-Regimes auch jenseits der oft dargestellten Repräsentationsbauten waren, geht aus der Anlage und Gliederung der Beiträge hervor. Neben den einleitenden Texten zur Außenwirkung der nationalen wie internationalen Regimebauten finden sich darin auch wesentlich neue Untersuchungen, etwa der Beitrag von Benedikt Goebel und Jörg Rudolph über die Reichsbauverwaltung, erbaut 1933–45. Diese Analyse einer eher im Hintergrund agierenden Behörde des Reichsfinanzministeriums, deren Beamte sich nach 1945 regelmäßig in Bundesbehörden wiederfanden, liefert neue Einsichten in die Funktionsweise der nur scheinbar unbeteiligten „zweiten Reihe“ von Schreibtischtätern, die nicht einmal für die prominentesten Bauaufgaben des Staates zuständig waren.
Der Beitrag zu Rasse, Landschaft, Heimatschutz von Rainer Schmitz und Johanna Söhnigen verortet den NS-Baudiskurs knapp und auf dem aktuellen Forschungsstand in den ihn bestimmenden rassenideologischen Wahnideen, in der NS-Agrarromantik und Großstadtfeindlichkeit.
Wer den Text zu „Bauten der Infrastruktur, Militär-, Festungs- und Rüstungsbauten“ von Christopher Kopper gelesen hat, oder jenen über „Raumplanung und Gewalt“, über die sogenannten „eingegliederten Ostgebiete“ einschließlich der besetzten sowjetischen Gebiete von Alexa Stiller und Karl R. Kegler, wird kaum je wieder behaupten können, dass so etwas wie eine ideo­logiefreie, wissenschaftliche Raumplanung existierte. „Es waren nicht die Raumplaner, die die politischen Ziele des NS-Regimes setzten, sie sorgten aber“, so das Fazit des Beitrags, „für die Verwissenschaftlichung und Rationalisierung dieser Zielsetzungen wie der Siedlungsideen Hitlers und Himmlers.“ Gelegentlich finden sich thematische Redundanzen in den Einzelstudien, so zu den Planungen der Gauforen, die mehrfach in verschiedenen Beiträgen auftauche – ob des schieren Umfangs der Einzelbände kaum zu vermeiden.
Die Beiträge des zweiten Bandes umfassen das Feld der NS-Wohnungspolitik: Eine aufschlussreiche Untersuchung zu Fallbeispielen, der wohnungswirtschaftlichen Entwicklung und der Trägerschaften des NS-Wohnungsbaues bis hin zu Planung und Durchführung von Zwangsarbeiterlagern und Ghettos im ‚Osten‘ stammt von Mario Wenzel. Hier wird die besondere Qualität der Dokumentation sichtbar, denn sie umfasst das gesamte Spektrum der Bau- und Planungstätigkeit in der NS-Diktatur von der zivilen und militärischen Infrastrukturplanung, dem prominenten Städtebau als Demonstration politischen Gestaltungswillens (Beitrag von Christoph Bernhardt und sieben weiteren Autorinnen und Autoren) bis hin zur Planung und Beteiligung am organisierten Massenmord in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslagern. In dieser Breite wird das Ausmaß der ideologischen Durchdringung der Planung und des Bauens in allen Institutionen und Organisationen mehr als deutlich.
Der dritte Band dokumentiert das Teilprojekt Wohnungspolitik und Städtebau nach 1945 in der Phase der alliierten Militärregierungen und den späteren beiden deutschen Staaten. Hier sind vor allem die Wohnungspolitik und die städtebaulichen Planungen in der BRD und DDR kritisch beleuchtet, da man mit dem „personellen Reservoire“ aus NS-Ministerien in Ost wie West weiter arbeitete. Lesenswert auch die Chronik des Umgangs mit Bauten des NS-Regimes zwischen 1945 und 1975 von Claudia Büttner und die Untersuchung der Rezeption des NS-Bauerbes in der Denkmalpflege in Westfalen.
Der vierte, wesentlich schlankere Registerbandenthält die Kurzbiografien ausgewählter historischer Personen aus den Forschungsprojekten. Diese Lebensläufe wurden in der Begleitausstellung in der Akademie der Künste Berlin ohne erkennbare Unterscheidung von Tätern und Opfern an die Ausstellungswand gehängt. Dies produzierte bedenkliche Gleichsetzungen und trug der Präsentation dort einige Kritik ein. Anders als
in der Ausstellung jedoch ist die Auflistung in der Publikation zur Orientierung durchaus hilfreich.
Das Fazit des Rezensenten fällt zwiegespalten aus: Die Neuerscheinung dokumentiert den aktuellen Forschungsstand, verliert aber gelegentlich die Balance bei dem Versuch, Überblicksdarstellungen und neue, detailreiche Einzelforschungen in einem monumentalen „Projekt“ zu vereinen. Es könnte außerdem der Eindruck entstehen, dass nun wirklich alles zum Thema geschrieben oder gesagt sei – mitnichten, wie zu sehen ist, der Gang in die Archive kann noch viel enthüllen.
Fakten

Verlag Hirmer Verlag, München 2023
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aus Bauwelt 25.2023
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