Alles noch mal gut gegangen
Das Kuratorenteam des deutschen Beitrags der Architekturbiennale ist zurück aus der Zukunft. Im Gespräch erläutern Arno Brandlhuber, Olaf Grawert, Nikolaus Hirsch und Christopher Roth ihr Konzept „2038. Die Neue Gelassenheit“. Weshalb Krisen hilfreich sind und es für Architekten höchste Zeit wird, ihr Berufsbild zu hinterfragen.
Text: Thein, Florian, Berlin; Friedrich, Jan, Berlin
Alles noch mal gut gegangen
Das Kuratorenteam des deutschen Beitrags der Architekturbiennale ist zurück aus der Zukunft. Im Gespräch erläutern Arno Brandlhuber, Olaf Grawert, Nikolaus Hirsch und Christopher Roth ihr Konzept „2038. Die Neue Gelassenheit“. Weshalb Krisen hilfreich sind und es für Architekten höchste Zeit wird, ihr Berufsbild zu hinterfragen.
Text: Thein, Florian, Berlin; Friedrich, Jan, Berlin
Hashim Sarkis’ Biennale-Motto „How will we live together?“ fragt nach dem Status unseres zukünftigen Zusammenlebens. Fragen, die die Zukunft betreffen, können immer nur spekulativ auf Grundlage der Gegenwart beantwortet werden. 2038 umgeht dieses Dilemma, indem die Behauptung aufgestellt wird, die Zukunft bereits zu kennen.
Christopher Roth Wir wollten existierende Modelle und Konzepte finden, von denen wir glauben, dass sie zu einer besseren Zukunft führen. So entstand die Idee, dass im Jahr 2038 alles nochmal gut gegangen sein wird. Wenn man das vom Standpunkt des Jetzt behauptet, kontert sofort jemand mit „aber…“. Deshalb behaupten wir in einem positiven Rückblick aus der Zukunft: Das ist die Geschichte, die zu Besserem führte. Zudem ist 2038 auch eine Plattform für die ideengebenden Experten, ohne die es kein 2038 gäbe und die teilweise schon in der Umsetzung ihrer Konzepte stecken. Dieser praktische, pragmatische Ansatz hat uns interessiert. 2038 ist keine Utopie, ist nicht das Paradies, aber auf jeden Fall eine bessere Welt.
Nikolaus Hirsch Als wir anfingen mit unserer Arbeit – zum Höhepunkt der Fridays-for-Future-Bewegung – herrschte ein allgemeines Gefühl der Hoffnungslosigkeit: Die Welt wird immer schlechter. Wir haben versucht, diesem Eindruck ein positives Szenario als Triebkraft gegenüberzustellen, in dem gerade auch die Architektur und verwandte Disziplinen eine wichtige Rolle spielen.
Olaf Grawert Mit diesem Konzept haben wir die Expertinnen konfrontiert und sie eingeladen: Begib dich in die Zukunft und erkläre uns, wie dein alternatives Modell zum Teil des Systems wurde. Ideen als systemische Ansätze der Zukunft zu behaupten, verlangt im Gegensatz zu einem „so oder so könnte es funktionieren“ Klarheit, wie es letztlich passiert ist. Die kuratorische Leistung ist in dem Fall der Plattformgedanke, das heißt, die Aussagen zusammenzubringen und zu zeigen, wie alles ineinandergreift. Beschleunigt durch Corona, wurden die behandelten Themen noch einmal verstärkt offengelegt und sind in verschiedener Form in unser aller Alltag angekommen.
Stichwort Pandemie: Am Ausgangspunkt Ihrer Erzählung stand eine nicht näher benannte Krise, eine Initialzündung, die den Wandel eingeleitet hat. Auf fast schon unheimliche Weise scheint das tatsächlich eingetreten zu sein.
Christopher Roth Covid ist nicht die Krise, von der wir gesprochen hatten. Die Pandemie ist zwar global – Menschen überall auf der Welt erleben ähnlich und fühlen plötzlich gleichzeitig –, ich glaube aber, dass viele immer noch hoffen, da irgendwie durch- und zurückzukommen. In unserer Erzählung gab es eine Reihe von Krisen, die zu dem Punkt führen, an dem die Leute wirklich überzeugt sind: So kann es nicht weitergehen. Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Punkt schon erreicht ist.
Auch wenn Sie Corona nicht als den eigentlichen Auslöser ausmachen – dass aber beispielsweise das Weltwirtschaftsforum aktuell einen „Great Reset“ für die Zeit nach der Pandemie vorschlägt, klingt doch geradezu nach einer selbsterfüllenden Prophezeiung.
Arno Brandlhuber Das sind doch genau diese Player im klassischen Top-Down-Prozess, die wir als „alte, weiße Männer“ bezeichnen, die immer noch glauben, alles regeln zu können und das Recht für sich beanspruchen, Zukunft zu gestalten. So wird es nicht sein. Deshalb kommt es auch zu weiteren Krisen, zu Verwaltungs- und Legitimationskrisen. Erst dann wird eine Basis für andere Entscheidungsstrukturen geschaffen. Keiner kann einfach sagen: In unserer derzeitigen Ermächtigung liegt auch die zukünftige.
Christopher Roth Der große Fehler, den wir machen, ist, dass wir diese komplexe, für uns viel zu schwierige Welt anschauen und alles gestalten wollen. Wir können Systeme, die sich selbst erhalten, nur erreichen, wenn wir wegkommen von diesem „ich gestalte, du gestaltest…“. Wir müssen von einem binären und reflexiven System zu einem rekursiven kommen, das einen Kreislauf bildet. Wie bei einem Ökosystem – da kann kein einzelner bestimmen, was damit passiert, alles muss Teil dieses Systems sein.
Hat in diesem Sinne Architektur im Jahr 2038 noch irgendetwas mit Bauen zu tun?
Nikolaus Hirsch Aus unserer Sicht ist das ein Bauen, das nicht an diesem Fetisch Objekt hängt, wie es in den letzten zwanzig, dreißig Jahren der Fall war. Einerseits ist Architektur ja sehr erfolgreich und sichtbar, andererseits ist der Anteil der Architektinnen und Architekten an den Entscheidungen über ein Gebäude extrem zurückgegangen. Wir müssen oder werden uns eher in systemischen Bereichen engagieren, die heute gar nicht so attraktiv erscheinen, wie beispielsweise Bürokratie oder Gesetzgebung.
Der Architekt also als Kybernetiker, als Vermittler zwischen den Disziplinen?
Arno Brandlhuber Der direkte Reflex ist natürlich: Was sind wir denn dann? Moderatoren? Nein. Die Krise muss noch stärker werden, auch in der Architektur, damit wir endlich begreifen, dass wir unsere Aufgabe neu denken müssen. Neu denken dürfen! Sonst bleibt immer dieser Rückschluss: Darf ich hier nicht doch noch ein bisschen an der Fassade entwerfen? Eigentlich ist doch längst klar, dass das nicht mehr die Frage ist. Trotzdem klammert man sich ans Zeichenprogramm und ist froh, dass irgendwelche Hersteller von Fenstern die Produktbibliothek dafür hochgeladen haben und man noch auswählen und die Maße eingeben darf.
Olaf Grawert Ökonomie und Ökologie müssen als Systeme zusammengedacht werden, auch wenn sie sich heute oft als Gegenpole gegenüberstehen. In 2038 werden sie zusammengedacht. Bei der Frage, wie man sie zusammenbringt, hat Architektur eine immense Verantwortung, und Architektinnen und Architekten erfüllen eine Verwaltungsfunktion für die zu verwendenden und bereits verwendeten Ressourcen. Wie können Ressourcen in Systemen gehalten und wieder zurückgebracht werden? Es geht um Architektur als Prozess, als Kreislauf. Wie schafft man Architektur, die nicht mehr mit der Schlüsselübergabe fertig ist, sondern die darüber hinaus in Zyklen die verschiedenen Leben danach und die Auswirkungen auf diese Leben mitdenkt. Es geht nicht mehr darum, als Einzelperson oder Büro ein Objekt zu gestalten, sondern darum, diese zeitliche Komponente und die Umwelt mitzudenken.
Auf dem Weg ins Jahr 2038 findet eine, in Ihrem Konzept etwas diffus gehaltene, vierjährige Verhandlungsphase der Gesellschaft mit abschließender Einigung statt. Können Sie da etwas konkreter werden?
Olaf Grawert Es geht uns nicht darum, jeden Moment der Geschichte rückblickend detailliert zu beschreiben. Selbstverständlich bemühen sich Historiker und Wissenschaftler, objektiv zu sein, aber die Art, wie man Argumente zu einem Narrativ von Geschichte zusammenführt, ist immer auch subjektiv. Wenn wir die Zukunft zeigen, dann ist das natürlich nur eine Szene aus dieser fiktiven Realität. Das heißt: Man präsentiert Fiktion als Fakt, um den Wunsch nach dieser Realität zu wecken und die Frage aufzuwerfen: Was kann ich aktiv tun, damit diese Fiktion zum Fakt wird? Alle Detailfragen zu beantworten, würde das Narrativ schwächen.
Dennoch ist vielleicht gerade diese Phase des Verhandelns von besonderem Interesse, weil angesichts einer offensichtlich zunehmenden Spaltung mit diametral gegensätzlichen Meinungen aktuell eine Einigung schwer vorstellbar ist.
Christopher Roth Man muss von der Vorstellung wegkommen, dass sich fünf Leute an einen Tisch setzen, am Kopf kratzen und dann sagen: So machen wir es. Als wir 2019 anfingen, gab es relativ viele Zeitschriften, gerade auch konservative und wirtschaftsliberale, die schrieben: So kann es nicht weitergehen! Und ich denke, dieses Gefühl, dass es so wie bisher nicht mehr weitergehen kann, ist allgemeiner Konsens. Patrik Schuhmacher etwa ist auch Teil der Verhandlungen. Man kann ja nicht einfach sagen: Du bist neoliberal, geh weg! Man muss ihn einbeziehen. Das wichtige ist, dass alle Teil des Systems sind – und dass sich nicht zwangsläufig das durchsetzen wird, was den anderen platt macht, sondern das, was überlebensfähig ist.
Auch wenn unterschiedliche Ideologien als Teil des Systems agieren, der Patrik-Schuhmacher-Weg scheint nicht in das beschriebene Jahr 2038 geführt zu haben. Bei einigen Expertinnenstimmen aus der Zukunft, wie Joanna Pope, begegnen einem Stichworte wie Umverteilung, Schrumpfung, regulierte Märkte, Produktionsmittel in Volkes Hand, Mindestlohn und Maximallohn – das ist doch politisch relativ eindeutig. Kritiker würden vielleicht sagen: sozialistischer Wein in digitalen Schläuchen.
Olaf Grawert Natürlich ist der Beitrag auch politisch. Es gibt aber ein gewisses Grundverständnis, das alle um eine Mitte versammelt: die Erkenntnis der Endlichkeit von Ressourcen, im Gegensatz zur Vorstellung des endlosen Wachstums. Dass verhandelt werden muss, wie man umgeht mit dieser Endlichkeit und der Verteilung dessen, was uns zur Verfügung steht und daraus erwirtschaftet wird. Und dass es für diese Verhandlungen neue Werkzeuge, Technologien und Formate braucht. Darüber spricht unter anderem Audrey Tang, Programmiererin und Ministerin in Taiwan. Sie zeigt Wege auf, wie Technologie helfen kann, Verhandlungen jenseits eines binären Systems zu gestalten. Nicht ja oder nein, nicht links oder rechts, sondern mit mehreren Stimmen für Teilaspekte.
Erreichen wir 2038 auf gewisse Weise das Ende der Geschichte? Sie sprechen von „New Serenity“, einer Gesellschaft der neuen Gelassenheit, ohne Wettbewerb, ohne Helden, ohne Bösewichter. Sie haben dieses heldenlose Konzept ohne Hierarchien mit 2038 modellhaft durchgespielt. Es gab insgesamt 129 Beteiligte, war das nicht unglaublich schwierig, die alle zu koordinieren?
Nikolaus Hirsch Wir haben von Anfang an versucht, das Denken von 2038 in allen Projektteilen, auch in unserer Arbeitsstruktur umzusetzen. Wir wollten weg von diesem traditionalistischen Autorenbild, das ja gerade auch in der Architektur sehr dominant ist, vielleicht in der Kultur allgemein. Aber eben auch in der Politik, wo immer nach einer Erlöserfigur gesucht wird, die das Rad der Geschichte drehen kann. Das ist vielleicht genau das Problem, das wir versuchen darzustellen – und das wir auch in unserer Arbeitsstruktur versucht haben, anders zu denken.
Wie stellt man bei dieser Arbeitsweise denn sicher, dass das Narrativ kohärent bleibt?
Olaf Grawert Am Anfang dachten wir noch, man könne das strukturieren – dann kam Corona und damit eine komplett neue Dynamik. Die Rollen haben sich sehr unterschiedlich entwickelt und die Beteiligten eigenständig unterschiedliche Verantwortung übernommen. Mit dem gemeinsamen Ziel 2038 haben alle immer gewusst, dass ihre Beiträge, selbst wenn sie zunächst widersprüchlich wirken, am Ende stimmig zusammenkommen. Es hat sich in gewisser Weise selbst reguliert, weil sich alle einig waren: Wir wollen, dass es gut gegangen sein wird.
Arno Brandlhuber Wir sind uns im Grunde genommen ja alle einig, dass es gut gegangen sein soll. In dem Augenblick, in dem man anfängt, unter dieser Prämisse mit sehr vielen Protagonisten zusammenzuarbeiten, bewegen sich die Dinge zu einem Besseren. Das ist tatsächlich modellhaft.
Nikolaus Hirsch Vielleicht lässt sich das auf das Ausstellungsmedium unseres Beitrags erweitern. Das Verhältnis zwischen dem physischen Raum in Venedig und dem virtuellen Raum im Netz hat sich stark verändert. Wir glauben, die Arbeitsstruktur hat uns hier sehr geholfen, den Schritt in den virtuellen Raum viel einfacher gehen zu können. Kollegen in Venedig, die alles auf ein Thema gesetzt haben, das mit nur einem bestimmten Medium umgesetzt wurde, haben da ein etwas größeres Problem.
Werden wir doch etwas konkreter: Was genau erleben wir vor Ort im Pavillon?
Olaf Grawert Der Hauptfilm spielt im Jahr 2038: Darin treffen sich zwei junge Erwachsene, 18 und 19 Jahre alt, und blicken auf die Vergangenheit und das Venedig ihrer Kindheit zurück. So schließt sich der Kreis zur Gegenwart, die Charaktere sind während der Pandemie geboren und erzählen sich von ihrem Erwachsenwerden. Aus ihrem Rückblick ergeben sich Fragen, die mit den gefilmten Experten-Interviews, den Beiträgen auf der Website und in den Publikationen vertieft werden können. Das heißt: Die Welt 2038, die man im Film sieht, erklärt sich aus all diesen Formaten und Inhalten.
Weil nur wenige nach Venedig kommen können, noch weniger als sonst, wird es die Möglichkeit geben, sich im virtuellen Pavillon zu treffen und auszutauschen. Im „Hubs Pavillon“ kann ich in Venedig sein und Sie in Berlin, gemeinsam schauen wir einen Film und diskutieren darüber. Der Hub ist das zentrale Format des virtuellen Pavillons, der aus vielen Kanälen und Medien besteht und wie ein Archiv und eine Plattform für Kollaborationen funktioniert. In gewisser Weise ist auch der physische Pavillon Teil des virtuellen Pavillons, als Raum, der die Möglichkeit bietet, dass Menschen vor Ort mit Menschen online gemeinsam die Inhalte sehen und über das Projekt sprechen können. Auf diese Weise ist der Beitrag nicht nur rein physisch in Venedig erlebbar, sondern auch für Menschen außerhalb der Bubble.
Arno Brandlhuber Vielleicht muss man noch festhalten, dass die aktuelle Krisenlage das Verständnis für materiell und immateriell grundlegend geändert hat. Nämlich dahingehend, dass es kein Entweder-oder mehr gibt. Es ist nicht so, dass in Venedig die Leute im Kino sitzen – und zu Hause sitzt jemand an seinem Rechner mit einem Zehntel der Bildschirmgröße. Der Zugang zu den Inhalten wird in Venedig genauso funktionieren wie zu Hause oder mobil mit dem Handy.
Nikolaus Hirsch Zugänglichkeit ist eines der wichtigen Themen in unserem Projekt und für die Zukunft von Biennalen. Es geht immer um Zugänglichkeit. Wenn wir davon sprechen, wie das Wohnen in Zukunft aussieht, wie das Verhältnis zwischen Menschen und Natur ist, dann geht es immer um Zugänglichkeit. Die Architekturbiennale in Venedig war bislang eine elitäre, exklusive Veranstaltung. Insofern hier vielleicht auch der Versuch, das Privileg, etwas im Kontext des Deutschen Beitrags anschauen zu können, runterzufahren und auf ein ähnliches Niveau zu bringen mit denjenigen, die nicht kommen können.
Anders als der virtuelle Deutsche Pavillon wurde der physische genau einhundert Jahre vor 2038 von den Nationalsozialisten umgestaltet. Ein Umstand, an dem sich Kuratoren der vergangenen Jahre immer wieder abgearbeitet haben. Wie gehen Sie damit um?
Arno Brandlhuber Wesentlich gelassener. Wir räumen den Pavillon auf, vielleicht auf eine Art und Weise, wie das vorher noch keiner gemacht hat.
Wie wird man denn aus dem Jahr 2038 auf das Venedig des Jahres 2021 zurückblicken?
Arno Brandlhuber 2021 wurde der Kreuzfahrtschiffsverkehr in der Lagune von Venedig untersagt. Hätten wir diese längst überfällige Entscheidung ohne Corona hinbekommen? Nein. Krisen bergen eben auch Potenziale.
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