Brüssel ist ein offenes Feld für Interpretationen
Wie baut und entwickelt man eine Stadt wie Brüssel weiter, die geprägt ist von struktureller Uneinheitlichkeit und vielfältigen Architektursprachen? Kristiaan Borret über seine Arbeitsweise als Bouwmeester.
Text: Geipel, Kaye, Berlin; Klingbeil, Kirsten, Berlin
Brüssel ist ein offenes Feld für Interpretationen
Wie baut und entwickelt man eine Stadt wie Brüssel weiter, die geprägt ist von struktureller Uneinheitlichkeit und vielfältigen Architektursprachen? Kristiaan Borret über seine Arbeitsweise als Bouwmeester.
Text: Geipel, Kaye, Berlin; Klingbeil, Kirsten, Berlin
Kirsten Klingbeil Beginnen wir mit dem „Big Picture“: Was sind die charakteristischen Merkmale Brüssels in Bezug auf seine Form und die heutige Stadtentwicklung, auch im Vergleich zu anderen europäischen Großstädten?
Kristiaan Borret Brüssel ist eine Stadt mit vielen Dimensionen, nicht im klassischen Sinne harmonisch oder hübsch. Man könnte Brüssel in mancherlei Hinsicht sogar als chaotische und hässliche Stadt bezeichnen. Dafür gibt es einen historischen Grund. Brüssel besteht aus neunzehn eigenständigen Gemeinden, was die Stadtpolitik nicht einfach macht. Ein weiterer Grund ist, dass in der Moderne viele brutalistische Stadtbausteine entstanden sind, die die Stadt geschädigt haben. So viel zur pessimistischen Analyse der Situation. Diese Probleme sind da und man muss mit ihnen umgehen.
Ethnische und soziale Diversität
In meiner Arbeit als Bouwmeester Maître Architecte (BMA)1, zuerst in Antwerpen, dann in Brüssel, gab es einen großen Unterschied zwischen den beiden Städten. In Antwerpen war das Ziel, die Komposition der Stadt als Ganzes weiterzuschreiben. Dort war die Identität der Stadt und der einzelnen Stadtteile eindeutig und konnte mitStadtbausteinen vervollständigt werden. Das geht in Brüssel nicht, weil der Stadt eine klare Lesbarkeit fehlt.
Aber genau das ist auch eine Stärke von Brüssel, die heute viele Menschen anzieht. Dafür gibt es keine einfache architektonische Lösung. Man arbeitet eher mit individuellen Projekten und punktuellen Interventionen als mit Generalplänen. Wegen dieser Interpretierbarkeit und Offenheit der Stadt fühlen sich zum Beispiel Menschen aus dem Ausland schnell zuhause. Nicht, weil die Stadt hübsch ist oder wegen des guten Biers, sondern weil das Fehlen einer einheitlichen Identität zu unserer Identität geworden ist. Zwei Drittel der Bewohnerinnen und Bewohner Brüssels sind nicht in Belgien geboren oder haben zumindest einen ausländischen Elternteil. Damit haben wir die größte soziale und ethnische Diversität Europas. Auch wenn die Reihenfolge andersherum war, könnte man heute den Eindruck gewinnen, die heterogene Architektur der Stadt sei ein Spiegel ihrer sozialen Diversität. Brüssel ist ein offenes Feld für Interpretationen und repräsentiert damit eine zeitgenössische Realität vielleicht sogar eher als Städte wie Wien oder Barcelona, die eine klare Identität haben.
Von „schwer regierbar“ zum Vorbild
Kaye Geipel Ich will die Frage noch einmal umgekehrt stellen: Inwiefern verkörpert Brüssel typische Merkmale oder Prozesse, die wir mit der „Europäischen Stadt“ verbinden? Zum Beispiel in Bezug auf eine gewisse Dichte und eine soziale Durchmischung, über deren prägende Komponenten seit der Postmoderne viel gestritten wurde.
Die Qualitäten der „Europäischen Stadt“ liegen in der Vielseitigkeit ihrer Funktionen und ihrer Bevölkerung, die wiederum eine vielgestaltige Erscheinung hervorbringt. Es gab auch in Brüssel seit den 70er Jahren starke Bewegungen wie die ARAU und die Archives d’Architecture Moderne2 mit dem Ziel, die Stadt nach einem vergangenen Modell zu rekonstruieren, weil sie nach der starken Zerstörung im Zweiten Weltkrieg nicht mehr als typische europäische Stadt galt. Aber genau da liegt das Paradox. Brüssel entspricht nicht dem traditionellen Bild der „Europäischen Stadt“, verkörpert diese aber durch ihre Vielseitigkeit, wodurch sie wiederum „europäischer“ sein mag als andere europäische Städte, die einen einheitlicheren Gestus haben.
Kaye Geipel Noch in den 1990er Jahren war das Wort „Bruxellisation“3 allgegenwärtig – die Stadt galt als schwer regierbar, Investoren hatten freie Hand und errichteten Verwaltungsgebäude ohne jede Qualität. Auch mangelte es an Lebensqualität, sowohl im Hinblick auf Wohnungen als auch auf öffentliche Räume. Jetzt spricht man wieder über Brüssel, sowohl in puncto Architektur als auch in puncto Stadtentwicklung. Was hat sich geändert?
So wie damals konnte es nicht weitergehen. Das wäre der Tod der Stadt gewesen und das war irgendwann auch der Regierung bewusst. Die Stadt durfte nicht dem Markt überlassen werden. Zu einer Veränderung haben zum einen administrative Veränderungen wie die Einführung einer eigenständigen Verwaltungsebene der Brussels-Capital Region im Rahmen der belgischen Staatsreform 1989 beigetragen. Viele Verwaltungskompetenzen wie Baugenehmigungen, die zuvor noch Sache der Gemeinden waren, wurden zentralisiert und liegen heute in der Hand der Hauptstadt-Region. Auch größere Projekte, die die Gemeinden nie hätten stemmen können, werden nun auf dieser Ebene initiiert. Ein anderer Aspekt lag in der langsamen Veränderung einer antiurbanen Mentalität in Belgien, wo die großen Städte, besonders Brüssel, nie geliebt wurden. Man hat sich für Brüssel nicht interessiert. Das hat sich geändert. Heute gibt es eine große Gruppe Stadtbewohnerinnen, die ihre Stadt lieben und sie mitgestalten wollen. Viele Menschen zogen auch aus anderen Teilen Belgiens nach Brüssel, um an dieser Umgestaltung mitzuwirken. Ich bin einer davon. Ein solches optimistisches Stadtbewusstsein ist der Nährboden für die Entwicklung der Stadt.
Kirsten Klingbeil Hat sich die Position des BMA, die es in Brüssel erst seit 15 Jahren gibt, auch aus diesem Stimmungsumschwung heraus entwickelt?
Ich denke schon. Die Position des Bouwmeester kam ursprünglich aus den Niederlanden, wo sie bereits seit Anfang des 19 Jahrhunderts existiert, seit bald 200 Jahren. Dann wurde sie um die Jahrtausendwende in Flandern eingeführt. Irgendwann war auch in Brüssel die Zeit reif, den Wert einer solchen Institution anzuerkennen und dann ab 2009 zu etablieren.
Gute Projekte entstehen aus guten Debatten – Rolle des BMA
Kirsten Klingbeil Sie haben als BMA eine besondere Rolle in der Stadtentwicklung, die es in dieser Form in Deutschland nicht gibt. Als sie dieses Amt 2006 zuerst in Antwerpen übernahmen gab es noch nicht viele Vorbilder, denen man folgen konnte. Was genau ist die Funktion eines Bouwmeester?
Der BMA verkörpert eine besondere Position, die seit 1999 in vielen belgischen Städten etabliert wurde, 2009 wie erwähnt auch in Brüssel und zuletzt 2017 in Gent. Es ist eine hybride Rolle, die gleichzeitig innerhalb und außerhalb des Systems operiert. Innerhalb des Systems, weil man von der Regierung ernannt wird, außerhalb des Systems, weil man unabhängig und außerhalb der Verwaltungshierarchien arbeitet. Trotzdem habe ich eine Verantwortung gegenüber der Regierung und arbeite mit vielen Verwaltungen und Diensten zusammen.
Das Ziel ist eine umfassende Verbesserung der städtischen Raumqualität. Dabei geht es nicht nur um Schönheit, sondern um die Qualität der Stadtentwicklungsprojekte im weitesten Sinne des Wortes. Der größte Hebel dafür ist die Organisation und Gestaltung von Wettbewerben, die bei uns in Brüssel ausgelobt werden. Im Schnitt ist das ein Wettbewerb pro Woche. Andere Werkzeuge sind klassische Einrichtungen wie Gestaltungsbeiräte, aber auch eine in meinem Team angesiedelte „Research by Design“-Crew (Forschung durch Design). Bei uns arbeiten vier Leute, die Entwurfsvorschläge entwickeln und diese in nachvollziehbaren Bildern zur Verfügung stellen. Nicht etwa, um die Projekte hinterher so zu bauen, wie wir sie zeichnen, sondern um die Debatte um Qualität zu befeuern. Wir glauben, dass gute Projekte aus guten Debatten entstehen. Eine gute Debatte über die Qualität von Architektur und Stadtplanung kann nur geführt werden, wenn man sich der Werkzeuge der Architektur bedient.
Die Rolle des BMA erlaubt einem auch, sehr frei über Dinge zu sprechen und Entscheidungen zu kritisieren. So kann man Positionen in öffentlichen Debatten vertreten, die ein Verwaltungsangestellter nicht vertreten dürfte. Es ist also auch eine politische Rolle. Am wichtigsten ist aber die Hybridität. Man verbindet die Welt der Architektinnen, Designer und Stadtplaner mit der Welt politischer Entscheidungsträger. Dabei ist die Unabhängigkeit entscheidend, weil man keiner Seite verpflichtet ist und mit allen arbeiten kann.
Kaye Geipel Durchschnittlich fünfzig Wettbewerbe im Jahr sind für eine Stadt von der Größe Brüssels eine Menge. In Berlin waren es etwa dreißig im Jahr 2022. Sie produzieren sehr ausführliche Informationsblätter zu diesen Wettbewerben, die die zugrunde liegenden Diskussionen nachvollziehbar machen. Wird dieser Fundus schließlich zu einem Archiv der neueren Entwicklung Brüssel ausgebaut werden?
Wir sind gerade dabei so etwas aufzustellen, mit einem Geodatensystem, in dem wir all unsere Wettbewerbe registrieren. Am Anfang ging es uns darum, gute Wettbewerbe zu organisieren. Dann haben wir immer mehr Wert auf die Vorbereitung der Wettbewerbe gelegt, zum Beispiel durch Forschung und Entwurfstests: Ist der Wettbewerb durchführbar und wurden die richtigen Fragen gestellt, um das gewünschte Ergeb-nis zu erzielen? Inzwischen achten wir auch sehr auf die Prozesse, die nach dem Wettbewerb stattfinden. Schließlich unterstützen wir die ausgewählten Büros darin, die Ambitionen des Entwurfsvorschlags im Lauf der Ausführung beizubehalten und beraten sie auch in Sachen Baugenehmigung.
Neue Werkzeuge auch für die Bauverwaltung
Kaye Geipel Uns ist aufgefallen, dass die Bouwmeester, egal ob sie jetzt in Flandern oder in der Hauptstadtregion Brüssel wirken, immer eine eigene, weit gefasste städtebauliche und architektonische Vision hatten, als sie ins Amt kamen. Sie nutzten diese dann für die Weiterentwicklung des städtebaulichen Instrumentariums dieser Funktion. Welche Instrumente sind Ihnen besonders wichtig und warum?
Olivier Bastin, mein Vorgänger in Brüssel, hat das System der Wettbewerbe eingeführt, das vorher so nicht existierte. Daraufhin habe ich den Rahmen der Wettbewerbe erweitert. Das Ziel waren mehr Wettbewerbe und das Einbeziehen von Themen wie Stadtentwicklung und öffentlicher Raum. Außerdem wollte ich nicht nur öffentliche Auftraggeberinnen gewinnen, die vom Konzept des BMA überzeugt waren, sondern auch private Bauherren, die bei den Qualitätsstandards nicht mitgehen wollten. Für mich ist die Diversifizierung des Wettbewerbssystems das wichtigste Werkzeug des BMA.
Ein weiteres Instrument ist die erwähnte Forschung durch Research by Design. Wir verwenden dabei die Werkzeuge der Architekten (Zeichnung, Modell und Bild), um die öffentliche Debatte über Qualität zu füttern. Ich denke, dass solche Werkzeuge auch für die öffentliche Verwaltung wichtig sind – Entscheidungsfindungen sollten keinesfalls nur auf der Grundlage von Text- und Exceldokumenten erfolgen.
Eine weitere Maßnahme besteht darin, dass heute alle Bauanträge über 5000 Quadratmeter dem BMA vorgelegt werden müssen. In vielen Städten ist das längst Usus und für mich war es kein Ziel im eigentlichen Sinne, eher ein Hebel, um Einfluss auf private Entwickler nehmen zu können. Mein Ansatz ist, so früh wie möglich präsent zu sein, um auf die Qualität der Architektur einwirken zu können.
Erst kürzlich, in meiner zweiten Amtszeit, haben wir angefangen die Wettbewerbe und die Arbeit des BMA transparenter zu machen, sodass die Stadtbewohnerinnen die Entscheidung der Jury nachvollziehen können. Wir haben auch mit Bürgerpanels experimentiert, die einen Teil der Jury ausmachen. Es geht um Transparenz und darum mit der Zivilgesellschaft in Kontakt zu treten.
It’s Time to Act
Kirsten Klingbeil Als Sie Bouwmeester in Antwerpen waren, haben Sie in einem Text für die Bauwelt (Bauwelt 12.2014) geschrieben, dass sie dem Prinzip eines „Slow Urbanism“ folgen. Ist das heute noch ein für Sie relevantes Konzept?
Der Ansatz hat sich verändert. Geblieben ist die Idee, dass man sich in der Stadtentwicklung Zeit nehmen muss, um seine Sache gut zu machen. Damals orientierte man sich stark an den Niederlanden, wo Projekte in zwei Jahren umgesetzt wurden, für die wir vier oder fünf Jahre brauchten.
Aber am Ende waren unsere Stadtentwicklungsprojekte eben auch besser als diese „Schnellverfahren“. Es ist heikel, eine Lanze für „Slow Urbanism“ in Brüssel zu brechen, weil es hier viele Beschwerden gibt, dass alles zu langsam vorangeht. Das kann man nicht einfach ins Positive verkehren. Wenn ich in Brüssel danach gefragt wurde, sagte ich mit einem Augenzwinkern mein Motto sei: „It’s Time to Act!“. Man kann das als Opportunismus bezeichnen – für jede neue Stadt ein neuer Slogan. Andererseits zeigt es auch, wie sehr die Position des BMA auf die jeweilige Stadt zugeschnitten ist. Es ist kein generisches Amt, sondern abhängig von der Stadt und wie der jeweilige BMA auf sie reagiert. Man muss die Position mit jeder Stadt neu erfinden und ihr einen neuen Schwerpunkt geben.
Vorbildliche Architektur als Trigger für die Stadtentwicklung
Kaye Geipel Slow Urbanism ist nur eines von mehreren Themen, die Sie im Laufe ihrer Tätigkeit verwendet haben. Es ging in Brüssel auch um „Weiterbauen am Bestand“, um die „Produktive Stadt“ und die „Zirkuläre Stadt“4. Das sind Leitmotive städtischer Planung, die heute auch in anderen Städten als Schlüsselkonzepte für den ökologischen Wandel verwendet werden. Ihre Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass Sie systematisch herausragende Architekturprojekte mit Beispielwirkung entwickelt oder unterstützt haben, die dann peu à peu den oben genannten Themen in der ganzen Stadt Glaubwürdigkeit verliehen. Kann man sagen, dass diese Projekte in den verschiedenen Stadtvierteln selbst zum Konzept wurden?
Das stimmt. Ich möchte tatsächlich etwas verändern und meine Visionen nicht nur in einem Buch erklären. Ich möchte die Veränderung sehen können. Das macht mich glücklich. Auch das steckt in dem Motto, das ich mir für Brüssel vorgenommen habe: „It’s Time to Act!“.
Ich möchte keine Grundsatzerklärung für die nächsten zehn Jahre entwickeln, sondern die Stadt da draußen verändern. Das braucht den persönlichen Einsatz, weil man nur so in Brüssels komplizierter Verwaltung etwas bewirken kann. Ein Konzept wie die „Produktive Stadt“ ist wenig interessant, wenn man nicht beweisen kann, dass es auch tatsächlich funktioniert. Wir testen anhand realer Projekte, wie es funktionieren könnte und stellen dabei fest, dass manche Dinge besser funktionieren als andere. Dabei sind nicht alle Ergebnisse umwerfend, aber das gehört zur Strategie. Man könnte sagen, in erster Linie agieren wir mit Projekten und Wettbewerben. Erst im zweiten Schritt erklären wir die Vision oder das Konzept, das dahintersteht. Wenn man in Brüssel erfolgreich sein will, muss man seine Möglichkeiten sehr gut im Blick haben.
Ich möchte keine Grundsatzerklärung für die nächsten zehn Jahre entwickeln, sondern die Stadt da draußen verändern. Das braucht den persönlichen Einsatz, weil man nur so in Brüssels komplizierter Verwaltung etwas bewirken kann. Ein Konzept wie die „Produktive Stadt“ ist wenig interessant, wenn man nicht beweisen kann, dass es auch tatsächlich funktioniert. Wir testen anhand realer Projekte, wie es funktionieren könnte und stellen dabei fest, dass manche Dinge besser funktionieren als andere. Dabei sind nicht alle Ergebnisse umwerfend, aber das gehört zur Strategie. Man könnte sagen, in erster Linie agieren wir mit Projekten und Wettbewerben. Erst im zweiten Schritt erklären wir die Vision oder das Konzept, das dahintersteht. Wenn man in Brüssel erfolgreich sein will, muss man seine Möglichkeiten sehr gut im Blick haben.
Kirsten Klingbeil Könnten sie uns einige Projekte nennen, die auf diese Weise wichtig für die Stadtentwicklung sind?
Als erstes würde ich NovaCity nennen (Seite 52), ein Beispiel für die „Produktive Stadt“. Bei diesem Bauvorhaben war der öffentliche Nahverkehr – in unmittelbarer Nähe liegt eine Bahnstation – ein schwieriges Umfeld, das für private Investoren uninteressant war. Wir haben zügig einen Wettbewerb für ein öffentliches Projekt ausgelobt, das Wohnen mit Werkstätten und anderen produzierenden Nutzungen verband. Jetzt, nach der Fertigstellung, können die Menschen sehen, dass sich Gewerbe und Wohnen auch in großen Neubauten kombinieren lassen.
Dann denke ich an den ersten großen Wettbewerb mit einem privaten Bauherrn, ein Wohnbauprojekt von Sergison Bates, NoA und AWG im oberen Teil des Tour & Taxis-Geländes. Das Projekt ist mir wichtig, weil es zeigt, dass nicht alle privaten Investoren nur Eigeninteresse im Sinn haben. Manche haben ein ehrliches Interesse an Qualität.
Weiter gibt es das Kultur- und Gewerbezentrum Zinneke im Norden der Stadt, in einer ehemaligen leerstehenden Druckerei. Dort organisierten wir einen Wettbewerb mit einer hochmotivierten Bauherrin, die auch sehr partizipativ mit den Mitarbeitern umging. Das ist ein Pionierprojekt im Bereich der Wiederverwendung von Baumaterialien bei der Sanierung eines großen Industrieareals.
Nennen möchte ich auch den Park „Porte de Ninove“, einen innerstädtischen Ort und lange Zeit eine Brache mit leerstehenden Gebäuden. Wenn in einer Stadt ein Park entsteht, ist das eine dauerhafte Veränderung, weil städtische Parks im Gegensatz zu Gebäuden so gut wie nie zerstört werden. Dazu kommt der positive Einfluss auf die Umwelt. Ein Park ist also immer ein wichtiger und langfristiger Eingriff.
Schließlich, als eines der ersten großen Re-Use-Projekte, das wir begleitet haben, der Umbau des Verwaltungsbaus von Takeda. Es handelt sich um ein Bürogebäude im Quartier Molenbeek-Saint-Jean, das unter weitestgehender Verwendung des Bestands saniert und in Rekordzeit als Sekundärschule (Seite 56) umgenutzt wurde.
Pendelbewegung zwischen Architekturprojekt und Stadtplanung
Kaye Geipel Als wir im Vorgespräch über den strategischen Einsatz von Architekturprojekten als Teil einer ganzheitlichen Stadtplanung redeten, sagten Sie, Sie hätten einst viel von dem spanischen Stadtplaner Manuel de Solà-Morales gelernt. Inwiefern?
Da für mich die greifbaren Ergebnisse im Mittelpunkt stehen, interessiere ich mich für Personen, die ebenso denken und arbeiten. Nach meinem Studium an der Universität Leuven, habe ich ein Jahr in Barcelona verbracht. Das war 1990/ 1991, kurz vor den Olympischen Spielen, als die Stadt sich gerade öffnete. Da entdeckte ich die „Moll de la Fusta“, die Autobahn, die Barcelona vom Hafen and Meer trennte, und die von Manuel de Solà-Morales umgebaut wurde. Ein Puzzleteil dieses Gesamtprojekts sind Fußgängerbrücken, die den damals abgehängten Hafen mit der Stadt verbinden. Dieses Projekt ist im Stadtkontext nicht groß, aber es veränderte das Stadtbild Barcelonas immens, weil es der Stadt das Meer zurückgab. Für mich war damit bewiesen, dass der Einfluss eines Projektes nicht von seiner Größe abhängt und man auch mit kleinmaßstäblichen Projekten eine große Wirkung erzielen kann.
Ein weiterer wichtiger Einfluss, in diesem Fall während meiner Zeit als Stadsbouwmeester in Antwerpen, war das Studio Bernardo Secchi & Paola Viganò. Die beiden Planer arbeiteten an einem neuen Strukturplan für die Stadt, der eine Vision für die nächsten zwanzig Jahre formulierte. Parallel dazu entwarfen und realisierten sie den Park Spoor Noord (Bauwelt 12.2014). Es war beeindruckend zu sehen, wie es den beiden gelang, zwischen zwei Maßstäben hin- und herzuspringen. Man konnte den Park aus der Strukturplanung heraus erklären und die Strukturplanung aus dem Park.
So war diese Strukturplanung keine theoretische Vision, sondern baute auf den Erkenntnissen und Diagnosen auf, die sie in der Stadt gewonnen hatten. Das meine ich, wenn ich von einer Pendelbewegung spreche: Eine ununterbrochene Hin- und Herbewegung zwischen dem abstrakten Maßstab einer Vision und dem konkreten Maßstab eines Objekts. Diese Eigenschaft bewunderte ich an der Arbeit von Bernardo Secchi und Paola Viganò, und sie findet sich auch in meiner Herangehensweise wieder, Ideen anhand von Projekten zu realisieren.
Le Plan Canal – langfristiges Konzept für die Stadtsanierung
Kaye Geipel Ein solcher Strukturplan ist der „Plan Canal“5 für den Umbau und die Sanierung der großen industriell geprägten Wasserachse von Brüssel. Die Entwicklung dieses Plans bestimmte ihre erste Amtszeit. Heute sind die Ergebnisse an vielen Stellen zu sehen. Welche Rolle spielte dieser Strukturplan, der ja vornehmlich ein Plan der Ideen ist.
Als ich anfing, vermisste ich die klassischen Werkzeuge der Stadtplanung, wie den Flächennutzungsplan. Ein Strukturplan ist kein Flächennutzungsplan – das hat auch die Auseinandersetzung mit Bernardo Secchi und Paola Viganò deutlich gemacht. Er ist im strengen Sinn kein juristisches Werkzeug und hat im Hinblick auf das Planungsrecht keine unmittelbare Bedeutung. Aber er vermittelt eine Vision davon, wie eine gute Stadt sein sollte.
Der Kanalplan entstand auf der Basis eines internationalen städtebaulichen Wettbewerbs den Alexandre Chemetoff 2012 gewonnen hatte. Der Plan war immer auch eine Art Metapher. Seine Umsetzung hat gezeigt, dass man eine Stadt auch ohne die traditionellen Werkzeuge der Stadtplanung verändern kann. Man braucht vor allem eine Vision, die von der Regierung unterstützt wird. Wenn sich viele auf dieses Narrativ einigen und sie zur Grundlage einer städtischen Debatte wird, kann sie die Entwicklung lenken. Gleichzeitig ist das Arbeiten mit solch einer Vision fragil, weil sie keine rechtliche Grundlage hat. Wenn ein neuer Bürgermeister kommt, kann sie ihre Kraft verlieren oder ganz verschwinden.
Junge Architekturbüros als Teil der Veränderung
Kirsten Klingbeil Aus unserer deutschen Perspektive sieht es so aus, als hätten junge Architektinnen und Architekten in Belgien bessere Chancen Projekte zu realisieren, auch wenn sie noch kein großes Portfolio haben. Woran liegt das?
Es gibt zwischen den Bouwmeesters in Belgien einen Konsens, dass wir die Wettbewerbe so gestalten wollen, dass junge Büros teilnehmen können. Voraussetzung dafür ist, dass an bestimmten Schrauben gedreht werden muss. Es geht um die Formulierungen und Festlegungen im öffentlichen Vergabewesen, also um die „hard power“. Zum Beispiel ist bei der Vergabe der BMA-Wettbewerbe in Brüssel der jährliche Umsatz eines Büros kein Kriterium. Es soll nicht um die Größe der Büros gehen, sondern um die Qualität der Arbeiten.
Außerdem muss man bei uns keine fünf Schulen gebaut haben, um eine weitere Schule bauen zu dürfen. Wir legen das offener aus und fordern zum Beispiel nur, dass die Büros bereits ein öffentliches Gebäude gebaut haben müssen. Insgesamt sind die Teilnahmebedingungen sehr viel offener für junge Büros. Das ist die bürokratische Seite. Hinzu kommt, dass der BMA bei einer Vorauswahl immer versuchen wird, auch die jungen Büros nach vorne zu bringen, während der Bauherr meistens auf erfahrene Büros setzt. In diesem Prozess werden junge Architektinnen nicht nur zugelassen, sondern zusätzlich durch uns motiviert.
Kirsten Klingbeil Haben sie schon mal bereut, ein junges Büro unterstützt zu haben?
Bereut würde ich nicht sagen, aber manchmal ist es anstrengend. Dann kommt der Bauherr zu uns und beschwert sich, weil Chaos auf der Baustelle herrscht und die unerfahrenen Bauleiter vom Bauunternehmer eingeschüchtert werden. Aber das sind normale Probleme, die sich nicht vermeiden lassen. Wir empfinden es als unsere Aufgabe, den jungen Architekten beim Berufseinstieg zu helfen.
Kirsten Klingbeil Ist es für junge Architektinnen und Architekten in Belgien einfacher, sich selbstständig zu machen? In Deutschland muss man nach dem Studium noch zwei Jahre arbeiten, bevor man ein Büro gründen darf – in der Schweiz geht das direkt nach dem Studium.
Das Problem in Belgien ist, dass Architektinnen nicht besonders gut bezahlt werden. Junge Architekten müssen nach ihrem Studium zwei Jahre Praktikum nachweisen, bevor sie sich registrieren lassen dürfen und der Lohn ist sehr gering. Es gibt inzwischen aktivistische Gruppen junger Architekten, die klar sagen, dass es so nicht weitergehen kann.
Aber anders als vielleicht in Deutschland, ist der Wunsch meistens, so schnell wie möglich ein eigenes Büro zu gründen. Was sich verändert hat, ist die Vorstellung davon, wie dieses Büro aussehen soll. Früher wollten alle eine federführende Rolle im eigenen Büro einnehmen. Heute ist das Ideal eine Gruppe von Menschen aus drei, vier oder fünf Partnern, die zusammenarbeiten und auch Kollaborationen mit anderen Teams bilden. Das ist interessant, weil es das alte Bild des Architekten als Einzelgänger und Universalgenie in Frage stellt.
Europäische Vorbild-Städte
Kaye Geipel Am Anfang sprachen Sie darüber, dass wir die Vielfalt an städtischen Herausforderungen und die Komplexität preisen sollten und Brüssel als typisch europäische Stadt ein schönes Beispiel dafür abgeben würde. Festzustellen bleibt, dass heute so gut wie alle Städte mit einer Fülle von kaum zu bewältigenden Problemen zu kämpfen hat, von der Klimatransformation bis zur Wohnungsnot und dem bezahlbaren Wohnen. Die ruhigen Zeiten sind vorbei. Welche anderen europäischen Städte halten sie für beispielhaft in ihren Strategien im Umgang mit dieser Komplexität – jenseits der üblichen Verdächtigen wie Wien oder Zürich?
Da haben Sie mich erwischt, ich wollte natürlich mit Wiens Wohnungspolitik anfangen, aber Amsterdam ist auch ein gutes Beispiel. Während in Wien viele Wohnungen der Stadt gehören, reguliert Amsterdam die Zusammensetzung des Wohnungsbauprogramms. Um mehr bezahlbare Wohnungen in der Stadt zu schaffen, hat die Stadt das vieldiskutierte 40/40/20-System für den Neubau eingeführt: 40 Prozent Sozialmiete, 40 Prozent Miete im mittleren Preissegment und 20 Prozent teure Miete und Kauf. Ich empfinde das aber nicht als Überregulierung des Markts, sondern als Schutz des fundamentalen Rechts auf Wohnen.
Dann würde ich Paris nennen, weil dort grundsätzliche Entscheidungen für den ökologischen Stadtumbau getroffen und vor allem auch umgesetzt werden. Viele Bürgermeisterinnen kommen nicht zu diesem Punkt, aber Anne Hidalgo ist den Autoverkehr an der Seine losgeworden. Das ist beeindruckend.
Mittelgroße europäische Städte spielen in der aktuellen Debatte eine wichtige Rolle. Das sind Städte, in denen man der Natur näher ist und dasLeben etwas ruhiger, die aber noch nicht provinziell sind. In Frankreich gibt es seit der Corona-Pandemie eine Renaissance von Städten wie Nantes oder Toulouse, die über eine europäische Urbanität und hohe Lebensqualität verfügen, aber nicht den Maßstab einer Metropole aufweisen. Mich interessieren die jeweiligen Prozesse sehr, aber Lösungen aus anderen Städten zu importieren, ist schwer.
In diesem Jahr werden wir uns in Brüssel viel mit genossenschaftlichem Wohnen als eine zentrale Säule des Wohnungsbaus beschäftigen. Da gibt es etwa Städte wie Genf, die sehr engagiert im Sinne der Bewohner denken und seit zehn Jahren genossenschaftlichen Wohnbau fördern. Man wünscht sich, dass sie von fast null auf zehn Prozent steigt. Obwohl Genf eine sehr bürgerliche Stadt ist, scheut sie nicht davor zurück, progressive Entscheidungen zu treffen, wenn es um bezahlbaren Wohnraum geht.
Kaye Geipel Wenn Sie auf Ihre Zeit als BMA in Brüssel zurückblicken, welche Ziele haben
Sie erreicht, woran arbeiten Sie noch? Was ist Ihre vorläufige Bilanz?
Sie erreicht, woran arbeiten Sie noch? Was ist Ihre vorläufige Bilanz?
Normalerweise lasse ich diese Frage lieber andere Leute beantworten, die meine Arbeit von außen beurteilen können. Ich bin stolz auf die Projekte, die realisiert wurden, also den erwähnten „Passage à l’acte“. Oft muss ich lange warten und noch sind nicht alle Projekte umgesetzt, weil die Mühlen in Brüssel langsam mahlen. Andererseits war ich, nachdem ich eine Weile als BMA in Brüssel arbeitete, überrascht festzustellen, dass ich mich mehr und mehr mit den nötigen Veränderungen der Steuerung oder der Gesetzgebung beschäftigte als zum Beispiel mit Architektinnen über Gestaltung und Fassadenproportionen zu sprechen.
Entscheidend ist, dass die Position des BMA nun vollständig etabliert und anerkannt ist und gerade von jungen Menschen sehr geschätzt wird. Aber die Position des BMA zu etablieren war ein anstrengender Prozess. Anfangs mussten wir darum kämpfen an Versammlungen teilzunehmen und Wettbewerbe ausloben zu können. Viele haben nicht verstanden, in welcher Rolle wir genau agieren. Aus diesem Kokon auszubrechen, war zu Beginn sehr schwer. Ich habe immer versucht so präsent wie möglich zu sein und mehr Unterstützung für das Team eingefordert. Das hat sich ausbezahlt.
Der Kreis der Architekten, die in Brüssel wirklich gebaut haben, war zunächst sehr eingeschränkt. Es gab eine Art Monopol, vor allem im privaten Sektor, wo immer die gleichen Büros beauftragt wurden. Mir ist es gelungen das aufzubrechen. Damit verbunden gibt es jetzt eine große Vielfalt an praktizierenden Architekturbüros in Brüssel, auch internationale und transnationale Büros aus dem Ausland, deren Architektinnen hier studiert haben und geblieben sind. Das ist Teil der Diversität Brüssels, aus der ich Qualität für unsere Projekte schöpfen konnte. Der BMA sollte junge Architekten fördern, aber es ist nicht unser Verdienst, dass die jungen Büros gut sind. Wir geben ihnen nur die Möglichkeit das zu beweisen.
Am Ende ist mein Ziel eine Stadt, in der es eine Kultur für gute Architektur gibt. Dazu gehört mehr als ein BMA oder ein Vergabesystem. Ich glaube, wir sind in Brüssel kurz davor so eine Kultur zu haben.
Aus dem Englischen: Hanna Sturm
1
https://bma.brussels/en/who-we-are/#BOUWMEESTER
2 https://catalogue.civa.brussels/index.php/Detail/objects/104697/lang/en_US
3 Die schwedische Architekturhistorikerin Isabel Doucet hat dem schillernden Begriff und seiner Wirkung einen kleinen Text gewidmet: „Making a city with words: Understanding Brussels through its urban heroes and villains“, 2011
4 https://bma.brussels/en/topics-en/
5 https://canal.brussels/en/canal-plan
https://bma.brussels/en/who-we-are/#BOUWMEESTER
2 https://catalogue.civa.brussels/index.php/Detail/objects/104697/lang/en_US
3 Die schwedische Architekturhistorikerin Isabel Doucet hat dem schillernden Begriff und seiner Wirkung einen kleinen Text gewidmet: „Making a city with words: Understanding Brussels through its urban heroes and villains“, 2011
4 https://bma.brussels/en/topics-en/
5 https://canal.brussels/en/canal-plan
Team des BMA Kristiaan Borret, Julie Collet, Frederik Serroen, Theodoor Brackx, Lola Durt, Jérôme Kockerols, Géraldine Lacasse, Tania Vandenbroucke, Sietse Van Doorslaer, Elsa Marchal, Audrey Moulu, Guénaëlle Navez, Jean-Guy Pecher, Lydie Pirson, Tine Vandepaer, Jasmien Wouters
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