Ein Mosaikstein Europas
MVRDV und The Why Factory haben Marseille anlässlich der nomadischen Kunstbiennale Manifesta 13 zu „Le Grand Puzzle“ erklärt. In einem Video-Chat sprachen wir mit MVRDV-Partner Winy Maas und Javier Arpa Fernández von The Why Factory über das Bild der Stadt, die Ansätze ihrer Arbeit und das letzte Jahr.
Text: Landes, Josepha, Berlin
Ein Mosaikstein Europas
MVRDV und The Why Factory haben Marseille anlässlich der nomadischen Kunstbiennale Manifesta 13 zu „Le Grand Puzzle“ erklärt. In einem Video-Chat sprachen wir mit MVRDV-Partner Winy Maas und Javier Arpa Fernández von The Why Factory über das Bild der Stadt, die Ansätze ihrer Arbeit und das letzte Jahr.
Text: Landes, Josepha, Berlin
Herr Maas, wie stehen Sie zu Marseille?
Vor etwa zehn Jahren habe ich einen Vortrag in Marseille gehalten und dabei einige Bauunternehmer kennengelernt. Ein gemeinsames Projekt kam zwar nicht zur Umsetzung, aber ich bin der Stadt näher gekommen als es Touristen möglich ist. Es ist typisch für Marseille, dass Projekte steckenbleiben. Im Frühjahr 2018 kam die Direktorin der Manifesta, Hedwig Fijen, mit der Anfrage auf uns zu, die Manifesta zusammen durchzuführen. Marseille fasziniert mich, ich empfinde die Stadt als eine Art Außenseiter in Europa. Es war spannend, als wir entdeckt haben, warum sie so besonders ist.
Warum sehen Sie die Stadt als Außenseiter?
Marseille ist extrem polarisiert. Die Schere zwischen Arm und Reich ist sehr groß. Außerdem ist Marseille die Stadt mit den meisten Sackgassen in Europa. Die Stadt hat enorm viele Gated Communities. Man könnte darin eine große Vielfalt sehen, auf jeden Fall ist es eine brisante Mischung. Neben Rotterdam leben hier außerdem die meisten Nationalitäten in Europa. Zudem besteht es aus unsagbaren 111 Verwaltungsabschnitten. Es herrscht damit ein extremes Maß an Bürokratie mit fünf oder sechs verschiedenen Regierungsebenen. Marseille ist aber auch eine Stadt voller Natur, viel mehr als andere Städte Europas. Es hat viele Berge, Strände und Wanderwege und ist zerklüftet. All das ist irgendwie miteinander verbunden und hat seine Vor- und Nachteile. Für die Manifesta haben wir versucht herauszufinden, was aus Marseille werden könnte: Wo könnte man neue Bauprojekte entwickeln? Wie können wir die Stadt als Bühne für Kunst nutzen und so eine Perspektive schaffen?
Welche Mittel haben Sie dafür genutzt?
Wir haben, zusammen mit Studenten der Architekturfakultäten aus Delft und Marseille eine Art „virtuelle“ Biennale entwickelt. Die Projekte dienen als Inspiration. Eins schlägt den Bau einer Brücke nach Algier vor, ein anderes eine Verkleinerung des Handelshafens zugunsten eines Schwimmbads direkt neben den ärmeren Stadtvierteln. Einige Ideen wären als gebaute Kunstprojekte sehr erfolgreich. Dann würden Gäste aus ganz Europa kommen, etwa um im Hafen zu schwimmen oder sich in den Wolken zu verlieren, die einige Monumente verhüllen, um die Stadt zu kühlen. Das hätte etwas Geheimnisvolles. Es gab viele sehr poetische Ideen. Teilweise wurden sie von den Kuratoren aufgenommen. Daneben haben wir uns die „Tour de Tous les Possibles“ ausgedacht, eine Art bürgerschaftlicher Selbstverwaltung „Assemblée“. Es soll sie nach der Biennale weiterhin geben. Natürlich sind die Möglichkeiten, die Manifesta als städtebauliches Instrument einzusetzen, begrenzt. Sie bietet aber die Möglichkeit, zu zeigen, wie Bottom-up-Urbanismus, Kunst und Kultur eine Stadt gestalten können. Durch Corona wurde alles komplizierter. Aber es ist mutig, dass die Manifesta trotzdem, so gut es geht, stattfindet.
Was kann Marseille von dem Event mitnehmen?
Ich hoffe, wir können den Bürgern ein besseres Bewusstsein für ihre Stadt vermitteln. Einiger Dinge waren sie sich bewusster als anderer. Die Gated Communities etwa und die Sackgassen waren vorher kaum sichtbar. Eine wichtige Bewusstwerdung besteht darin, Teilhabe an politischen Prozessen zu fördern.
Im Sommer wurde eine neue, grüne Bürgermeisterin gewählt. Welchen Teil Ihres Programms legen Sie ihrem Team ans Herz?
Aus den Ideen verschiedener Bevölkerungsgruppen, Organisationen und der Assemblée, ist ei-ne sehr umfangreiche Agenda für die Stadt entstanden. Wir empfehlen, nicht so sehr auf die langwierige Diskussion zu fokussieren, sondern, rasch anzupacken. Politik im Wortsinn meint „Stadt gestalten“. Als Urbanist ist es mir sehr wichtig, Politik als solch aktiven Planungsprozess zu begreifen. Wir möchten Bausteine liefern, die zu dieser Gestaltungsspielart beitragen.
Der Schwerpunkt Ihres Konzepts ist „Le Grand Puzzle“, das sich zu „Le Grand Mosaïque“ wandelt. Was steckt hinter diesen Begriffen?
Die Franzosen lieben Wörter, weitaus mehr als die Deutschen oder die Niederländer. Das Puzzle ist in Marseille allgegenwärtig. Die vielen Stadtviertel an sich sind schon ein Puzzle. Auch die Stadtstruktur unterscheidet sich sehr etwa von Berlin mit seinen geraden Straßen: Die Straßen von Marseille verlaufen wie die Kanten eines Puzzles. Das Puzzle ist auch im Sozialen sichtbar und in den langwierigen, teils unergründlichen Entscheidungsprozessen. Das Puzzle kann sich durch viele städtebauliche Maßnahmen in ein Mosaik verwandeln, gleich einem Kirchenfenster. Notre-Dame de la Garde hat herrliche Mosaik-Fenster, die zeigen, wie entzückend Vielfalt ist.
Wieso vergleichen Sie Marseille in Ihrer Studie hauptsächlich mit anderen europäischen, nicht vorrangig mit mediterranen Städten?
Wir haben bewusst drei vergleichbare nord- und drei südeuropäische Hafenstädte gewählt. Es geht uns um ganz Europa. Der Vergleich Nord und Süd führt unweigerlich zu allgemeinen Erkenntnissen: Der Norden ist wohlhabender, hat eine umfangreiche Mittelschicht, mehr Bürgerbeteiligung, bessere Infrastruktur usw. Warum betrachten wir den Süden als Gegenpol? Verdient er nicht den gleichen Wohlstand, die gleiche Lebensqualität? Die Auseinandersetzung mit der Frage ist uns wichtig. Als Deutschland in den „Aufbau Ost“ investiert hat, waren viele skeptisch. Heute gibt es eine ähnliche Diskussion darüber, wie wir Europa finanzieren wollen. Ich denke, Merkel positioniert sich deutlicher als der Niederländische Premier oder auch Macron.
Sehen Sie einen Vorteil darin, als externer Planer auf Marseille zu schauen?
Ich erachte den Blick von Außenstehenden als sehr erhellend. Es gibt vieles, was ich in Rotterdam übersehe oder ein Marseillais in Marseille für selbstverständlich hält. Es besteht auch die Gefahr, dass Außenstehende nur an der Oberfläche kratzen. Ich hoffe, wir sind tiefer vorgedrungen. Etliche Planer haben unser Buch zur Manifesta begrüßt, weil es nicht viele Bücher über Marseilles Stadtplanung gibt. Mir ist klar, dass es seine Grenzen hat. Ich verstehe es als Anregung.
Was kann Marseille andere Städte lehren?
Wenn ich Berlin neu planen würde, dann würde ich nach Marseille schauen, auf seine Vielfältigkeit und Mitbestimmung. Vor zwanzig Jahren war Rotterdam ein wenig wie Marseille. Aber ich erkenne jetzt auch, dass bestimmten Dingen in Rotterdam zu wenig Priorität eingeräumt wurde, etwa der Inklusivität. Entscheidungen wurden vor zwanzig Jahren klassisch top-down getrof-fen und die Folgen sind immer noch offensichtlich. Marseille kann hierbei ein Vorbild sein.
Glauben Sie, dass die Manifesta einen größeren Einfluss auf die Stadt haben könnte als der Status einer Kulturhauptstadt 2013?
Das Budget für die Kulturhauptstadt Marseille war viel höher. Es wurden Museen, Brücken, Außenräume gebaut. Für die Manifesta hatten wir vier oder fünf Millionen Euro. Die New York Times oder der Guardian haben über die Manifesta geschrieben, dass sie eine Provokation darstellt. Kulturhauptstädte sind oft recht harmlos und stärker politisch eingebunden. Deshalb können sie nicht so explizit Position beziehen. Eine Manifesta kann den Finger in die Wunde legen.
Wie kommt die Biennale vor Ort an?
Javier Arpa Fernández: Die Situation in Bezug auf Corona ist kritisch. Wir verfolgen die Manifesta auf der Website und auf Instagram. Es sieht so aus, als sei der Zuspruch gering. Zuerst sollten alle über die Stadt verteilten Ausstellungen im Juni öffnen, dann im August, aber auch das war nicht möglich. Es wurde phasenweise eröffnet und die Anzahl der Gäste nimmt aufgrund der sich verschärfenden Regelungen weiter ab. Die Auflagen in Marseille sind sehr streng. Bars und Restaurants sind geschlossen. Es ist eine sehr gedämpfte Manifesta.
Haben Sie die Manifesta schon besucht?
Leider nur virtuell. Selbst Hedwig Fijen war noch nicht dort. Ich habe die Vorbereitungszeit in Marseille sehr genossen. Es gab die schönsten Partys, Begegnungen und Ballettaufführungen. Vor einem Jahr waren wir mitten in der Nacht zusammen mit Tausenden von Menschen in einer staubigen Felsschlucht mit Blick über die Stadt und tanzten und diskutierten. Ich wollte eigentlich einen Vortrag am Strand halten. Man stelle sich dort 4000 Leute vor, die sich unterhalten, auf den Kieselsteinen sitzend mit Wein und vielen Decken und Strandtüchern. Und wir hatten eine Art Schwimmaktion im Hafen geplant. Wir wollten über dem Rathaus eine Treppe bauen, um mit Politikern zu sprechen. Viele unserer Träume blieben bislang unerfüllt.
Aus dem Englischen von Sigrid Ehrmann
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