Bauwelt

Unser Regelwerk basiert auf der Wachstumsgesellschaft der Nachkriegsjahre

Ein Gespräch über die „Berliner Erklärung“, die Architekten und Landschaftsplanern als Kompass in schwierigen Zeiten dienen will.

Text: Hoetzel, Dagmar, Berlin

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Sprachrohre der Akade­mie: Johann Jessen (links) und Friedemann Kunst.
Foto: Dagmar Hoetzel

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Sprachrohre der Akade­mie: Johann Jessen (links) und Friedemann Kunst.

Foto: Dagmar Hoetzel


Unser Regelwerk basiert auf der Wachstumsgesellschaft der Nachkriegsjahre

Ein Gespräch über die „Berliner Erklärung“, die Architekten und Landschaftsplanern als Kompass in schwierigen Zeiten dienen will.

Text: Hoetzel, Dagmar, Berlin

Zu ihrem 100. Geburtstag hat die Deutsche Akademie für Stadt- und Landesplanung (DASL) die „Berliner Erklärung“ verfasst. Das Jubiläum war Anlass für das Präsidium der Akademie, deren gesellschaftliche Mitverantwortung für die Zukunft der Städte und Regionen neu zu bestimmen. Darüber hinaus versteht sie die Erklärung als politischer Anstoß und Koopera­tionsangebot.
Wie kam es zu der Erklärung?
Johann Jessen Mit der diesjährigen Jahrestagung „Gesellschaft am Scheideweg – unsere Verantwortung, unser Beitrag“ in Berlin konnten wir den 100. Geburtstag der DASL feiern. Wir befinden uns in einer markanten Situation in der räumlichen Entwicklung. So war von Anfang an klar, dass wir das Thema Klimawandel in den Mittelpunkt der Tagung stellen müssen. Wir wollen nicht nur zurückblicken, sondern vor allem auch nach vorne. Wir müssen es auch! Der Klimawandel und das, was man jetzt „Große Transformation“ nennt, erfordert eine Neuorientierung unserer Disziplin zusammen mit anderen – und damit auch der ganzen Akademie. Die Berliner Erklärung verdichtet die wichtigsten Probleme unserer Disziplinen, die in den einzelnen Landesgruppen erarbeitet wurden, wie Mobilitätswende, Energiewende, Umstrukturierung der Landwirtschaft oder wie das Bauwesen den Anfor­derungen gerecht werden kann.
Friedemann Kunst Aber wir haben uns auch die Geschichte der Akademie angeschaut: Wie haben sich die Aufgaben verändert und wie das Selbstverständnis der Planerinnen und Planer? Daraus folgte die Frage: Wie sehen wir unsere Rolle in der derzeitigen Situation? Müssen wir sie neu bestimmen? Müssen wir nicht gar aus der Rolle der Abwägenden ein Stück heraustreten?
Sehen Ihre Mitglieder die Dringlichkeit zur Veränderung?
Johann Jessen Ja. Die Bereitschaft zur Veränderung wächst. Das hat auch damit zu tun, dass sich den Planern und Architektinnen neue Räume des Gestaltens eröffnen.
Friedemann Kunst Dieses Papier ist auch eine Streitschrift. Einerseits besteht Konsens, dass wir so wie bisher nicht weitermachen können, andererseits sind die Krisenüberlagerungen im Moment so vielseitig und die Aufmerksamkeitsökonomie so gestrickt, dass wir plötzlich wieder viel mehr über unsere täglichen Sorgen reden als über das Megaproblem, das über allem steht – das unsere Existenzgrundlagen berührt. Herr Messner, der Chef der Umweltbundesamtes, hat uns zu Beginn unserer Tagung nochmal klar gemacht, was eigentlich ansteht: Wir haben immer noch Treibhausgaszuwachs und bewegen uns inzwischen schon auf die 2-Grad zu. Das heißt, wir müssen den Treibhausgas-Ausstoß jede Dekade halbieren, um bis 2050 neutral zu sein. Und wir müssen bis 2050 den Flächenverbrauch auf Null bringen. Aber wir schlagen noch immer Schneisen durch Wälder und Naturflächen für Straßen, Baugebiete und Infrastruktur. Das Bewusstsein ist noch nicht so weit, wie das Wissen es erfordert.
Wo liegt der Handlungsspielraum jedes ein­zelnen Planenden?
Johann Jessen Es gibt sehr viele Ansätze, Ideen, Initiativen, Bündnisse von gleichgesinnten Akteuren. Aber man kann von Neuem in der Stadtplanung erst reden, wenn es in der Breite ankommt. Man muss also über die Modellvorhaben hinaus gleichzeitig darüber nachdenken, wie dies umzusetzen ist, in neue Förderkonzepte und -kriterien, auch auf internationaler Ebene.
Friedemann Kunst Wir brauchen auch neue Regeln. Je disruptiver die Verhältnisse sind, desto mehr müssen wir mit Regeln steuern können. Wir haben uns aber in eine Sackgasse hineinmanövriert. Unser Regelwerk basiert auf der Wachstumsgesellschaft der Nachkriegsjahre. Hier müssen wir neu justieren – und die „Berliner Erklärung“ versucht, ein Kompass zu sein.
Ein Teil Ihrer Forderungen richtet sich an die Politik. Wie wollen Sie vorgehen?
Johann Jessen Zunächst sind wir uns darüber einig, dass ein solcher Weg nicht allein von einer Institution oder einer Fachdisziplin beschritten werden kann. Bei der Initiative „Bündnis Bodenwende“ hatten wir es geschafft, viele andere Verbände und Institutionen zusammen zu bringen. So werden die Forderungen nicht nur breiter und qualifizierter, weil die anderen eben auch andere Perspektiven hineinbringen, sondern die Stimme ist dann auch deutlich lauter. Und so kann man sie in die politische Debatte hineinbekommen.
Friedemann Kunst Die Berliner Erklärung verstehen wir ausdrücklich auch als Angebot und Bitte, mit anderen, an den gleichen Themen arbeitenden Organisationen enger zusammen zu kommen. Und: Frau Ministerin Geywitz hat ein Grußwort bei unserer Fachtagung gesprochen und sich inhaltlich mit Schwerpunkten befasst, die sich auch in unserer Erklärung finden. Sie hat angekündigt, dass sie sich das Baugesetzbuch vornehmen werde. Es bleibt zu wünschen, dass die Überarbeitung nicht nur auf weitere „grüne Tupfer“ beschränkt bleibt, sondern sich die wirklich grundlegenden Dinge vornimmt.
Sie sprechen in der Erklärung auch von einer Selbstverpflichtung.
Johann Jessen Die Berliner Erklärung ist eine Ermutigung an die Kolleginnen und Kollegen, die Spielräume, die jetzt schon da sind, zu nutzen. Die Dinge werden nicht überall gleich gemacht, nur weil die Regeln dieselben sind. Da gibt es große Unterschiede zwischen den Kommunen und diese verdeutlichen, wie weit man die Spielräume ausreizen und sie möglicherweise durch die Praxis erweitern kann.
Friedemann Kunst Es gibt auch Regeln, die die Kommunen sich selber geben. Beispielsweise, wie sie Planung organisieren. Projektbezogene Zusammenarbeit hat eine positive Wirkung, weil sie systemisches Denken fördert und das sequenzielle Arbeiten, das lange Prozesse mit sich bringt, hinter sich lässt. Wir müssen integrativ arbeiten, das bringt bessere Ergebnisse und ist oft schneller.
Johann Jessen Bei allem Optimismus, der auf der Jahrestagung herrschte, waren es jedoch genau diese Argumente, die fielen: Unsere Arbeitsweise ist noch gar nicht auf das Ressort- und Fächerübergreifende, das Gleichzeitige orientiert.
Friedemann Kunst Aber wir haben auch viele Führungskräfte in unserer Akademie, die ein Stück Organisationsgewalt in ihren Händen haben. Auch ohne mit bestehenden Regeln in Konflikt zu kommen, können sie schon viel ändern.
Friedemann Kunst
geb. 1948, Dr.-Ing. Stadt- und Verkehrsplaner, Senatsdirigent i.R., freier Berater, 1985 bis 2013 Arbeit im Berliner Senat, seit 1990 städtebauliche Planungen für die Wiedervereinigung der Stadt, ab 2000 Leitung der Verkehrsentwicklungsplanung, ab 2007 bis 2013 Leitung der Abteilung Verkehr. Mitglied des DASL-Präsidiums.
Johann Jessen
geb. 1949, Prof. Dr., Studium der Architektur mit Schwerpunkt Städtebau an der TH Darmstadt; 1992-2016 Professur für Grundlagen der Orts- und Regionalplanung an der Universität Stuttgart; Arbeitsschwerpunkt: Stadt- und Planungsforschung; Mitglied des DASL-Präsidiums 2013-2019.

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