Bauwelt

„Auch in philosophischen Diskursen geht es um die Frage, wie man eine Idee Praxis werden lassen kann“

Interview mit Bijoy Jain

Text: Gast, Klaus-Peter

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Bijoy Jain
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„Auch in philosophischen Diskursen geht es um die Frage, wie man eine Idee Praxis werden lassen kann“

Interview mit Bijoy Jain

Text: Gast, Klaus-Peter

Bijoy Jain (Studio Mumbai) spricht über Erinnerungen aus seiner Kindheit, die Ausbildung zum Architekten in den USA und seine, von vielen Mitarbeitern begleitete, akribische Arbeitsweise im Entwurfsprozess
Sie wurden quasi über Nacht weltweit bekannt. Man stand staunend vor Ihren Gebäuden, die neu aussehen und etwas ganz Altes auszudrücken scheinen. In Ihren Gebäuden erkennt man Einflüsse von Frank Lloyd Wright und von traditioneller japanischer Architektur. Hat sich dieser ausge­reifte Ansatz, wie wir ihn wahrnehmen, schon während Ihres Studiums und Ihrer Berufstätigkeit in den USA entwickelt, oder hat er sich erst mit der Rückkehr nach Indien herausgebildet?
Wenn ich mich selbst nach den Ursprüngen befrage, so finde ich die sicher schon viel früher. Als ich ein Kind war, sind meine Eltern mit mir im Sommer immer zweieinhalb Monate kreuz und quer durch das Land gefahren. Denke ich an die frühen siebziger Jahre zurück, dann gab es da sicher die ersten Einflüsse. Irgendwann bin ich durch einen Zufall in die Welt der Architektur eingetreten. Als ich mit der Oberschule fertig war, besuchte mich ein Cousin. Er zeigte mir das Gebäude des Indischen Instituts für Management von Louis Kahn in Ahmedabad. Dieser Bau überwältigte mich. So einmalig und prägend dieses Erlebnis auch war, es führte mich doch auch wieder zurück zu den Dingen, die ich schon als Kind gesehen hatte. Während des Architekturstudiums in den USA war ich natürlich von der herrschenden Lehrmeinung der Moderne beeinflusst. Ich war aber auch immer irgendwie unzufrieden. Um mit dieser Unzufriedenheit fertig zu werden, war es für mich wichtig, mich wieder des Alten zu versichern. Eine der Entscheidungen, die ich daraufhin traf, war, nach Indien zurückzugehen. Ich wollte mich zunächst wieder der Vorstellungen und Bilder der Gebäude vergewissern, die ich schon als Kind kennengelernt hatte. Ich wollte nicht vordergründig das Traditionelle und das Vergangene selbst erkunden. Vielmehr wollte ich mich wieder den Erfahrungen nähern, die ich in Indien gemacht hatte.
Sie verwenden oft den Begriff „practice“ und erklären ihn als eine Verbindung von Theorie, Wissen und harter Arbeit. Theoretiker und Praktiker sind eine Person. Stimmt das so?
Was ich meine ist das Griechische „praxis“ (er buchstabiert: p-r-a-x-i-s). Es bedeutet für mich das Physische, das Körperliche als Ausdruck einer Idee oder die Erweiterung einer Vorstellung und auch die Aufforderung, zur Arbeit zu schreiten. Dies alles versammelt sich in dem Begriff Praxis. Auch in philo­sophischen Diskursen geht es um die Frage, wie man eine Idee Praxis werden lassen kann.
Sie verwenden das Wort also als Rahmen, als Klammer, um Denken und Handeln zusammenzubringen?
Genau das soll es ausdrücken.
Wie verstehen Sie die Zusammenarbeit von Architekten und Handwerkern?
Es geht darum, eine Idee im Ausführungsprozess umzusetzen. Ich bin selbst kein Zimmermann oder Maurer, ich bin Architekt. Für mich ist es wichtig, bei einem Projekt den Kreis zu schließen. Denken und Handeln der Einzelnen bleiben zunächst unvollständig. Wenn sie in einen Dialog miteinander treten, gemeinsam an einer Idee arbeiten, beginnt sich der Kreis zu schließen. Im ursprünglichen Verständnis des Architekten als Baumeister, also eben nicht als bloßen Theoretiker, waren beide Aspekte noch vereint. Die Meister waren in der Lage, die Kluft zwischen Denken und Tun zu überbrücken. Meine Möglichkeiten, eine Idee umzusetzen, sind längst nicht so entwickelt, wie mein Vermögen, eine Idee zu entwickeln, also, mir etwas auszudenken, es dann zu erklären und zu zeichnen.
Liefern Sie Skizzen, die umgesetzt werden, oder sprechen Sie vorher mit Zimmerleuten und Maurern, die dann eher eigenständig, auf der Grundlage ihres handwerklichen Wissens, arbeiten?
Es ist irgendetwas dazwischen, zwischen Zeichnung und Modellbau, Materialauswahl, handwerklichem Geschick und professioneller Erfahrung, zwischen meinen Erfahrungen und meinem Wissen als Architekt, irgendwo da liegt es. Ich nenne es Werkzeuge der Repräsentation, abstrakte Repräsen­tationen einer Idee. Diese Werkzeuge werden kollektiv genutzt.
Welche Einfluss haben die Handwerker auf Ihre Bauten? Kann ihre Meinung auch den ursprünglichen Entwurf ändern?
Ja, sicher, aber umgekehrt eben auch. Das Wissen und die Fähigkeit, Dinge herzustellen, wird natürlich auch vom Wissen, das der Architekten hat, beeinflusst.
Eine neue Zusammenarbeit also ...
Ich weiß nicht, ob man das eine neue Zusammenarbeit nennen kann, denn die Idee ist nicht neu. Es ist für mich das Selbstverständnis vom Bauen. Es weicht ganz und gar von der Meinung der Architekten ab, die immer behauptet haben, es gebe da eine Aufspaltung oder ein Schisma in dieser ganz grundsätzlichen Vorstellung, wie Dinge gemacht sind oder wie Architektur funktioniert. Für mich ist es wichtig, dass sich das Konzept in gebauter Form zeigt, dass es seine fundamentale Essenz nicht verliert, dass man die ursprüngliche Absicht so genau wie möglich erfahren kann. Was man sieht, ist nicht bloß ein Gebäude, sondern eine Idee. Dieser Dialog zwischen Denken und Tun, der das Konzept möglichst unbeschadet entfaltet und es erlebbar werden lässt, ist für mich entscheidend.
Gibt es für Sie noch den klassischen Entwerfer? Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass Handwerker jederzeit in den Entscheidungsprozess, in die oben beschriebenen Praxis, involviert sein können und mit Ihnen eine Entscheidung treffen.
Am naheliegendsten scheint mir hier das Bild vom Dirigenten und seinem Orchester zu sein.
Können Sie kurz beschreiben, wie das, was Sie Praxis nennen, aussieht – bei der ersten Skizze beginnend bis hin zum fertigen Bau?
Das Projekt wird vom Ort geprägt. Ich suche grundsätzlich nach der Einfachheit und der Ökonomie der Mittel. Das ist mein Fokus. Vielleicht kann man das als „ontologische Untersuchung“ bezeichnen, die Untersuchung aller Teile des Bestands, von der Topographie und der Kultur bis zur Soziologie. Ich beginne meine Vorhaben damit, durch diese „Linse“ zu schauen. Ich muss wissen, mit welchen Möglichkeiten ich mir den Bestand erschließen kann. Habe ich darüber Klarheit, kommen die Handwerker ins Spiel, und mit ihnen die Materialien, dort zum Beispiel, wo Ziegel angebracht sind, die Maurer. Mit dieser Auswahl, die ich treffe, stoße ich den Weg des „Spiels der Kräfte“ an. Aber ebenso wichtig ist es, dass es dann zu etwas anderem, Wesentlichem, kommt, zu dem, was ich das Unlogische nenne. Denn wie ich auf etwas reagiere, kann völlig unterschiedlich, ja gegensätzlich zu anderen sein. Stellen sie zehn Architekten auf ein und denselben Platz, und sie bekommen ganz verschiedene Meinungen zu diesem Ort – das verstehe ich unter Unlogischem. Es ist das Moment des Zufalls. Es ist nun auf eine bestimmte Art und Weise eine „Destillation“, eine Essenz nötig. Erst wenn diese gefunden ist, kann vorgegeben werden, wo und wie der Dialog aller Beteiligten in Gang kommt. Ich glaube, dass es dann einen Zeitpunkt gibt, an dem man nicht (mehr) weiß, was einmal der Auslöser war, der Ausgangspunkt verschwimmt. Der Ursprung geht verloren. Man kann im Nachhinein nicht mehr eindeutig sagen, was zuerst da war.
Es kann sich in eine Richtung entwickeln, die richtig scheint, die aber nicht von Anfang an klar war. Es ist also eher so etwas wie Antizipation?
Genau, aber für mich muss diese Antizipation geerdet sein, in der Schwerkraft wurzeln. Raum und Zeit kommen ins Spiel. Das macht es gegenwärtig. Dieser Dialog umschließt alle veränderlichen Teile. Es ist vielleicht eher ein Tanz, der sich hier auftut. Es wurde etwas getan, darauf gab es eine Antwort, auf die wiederum eine Antwort folgt, eine unablässige Bewegung. Wichtig ist dabei das zu bewahren, was all diese Kräfte zusammen hervorgebracht hat, den Kern, die Ethik, den Sinn.
Gibt es eine treibende Kraft?
Ja, schon, aber meine treibende Kraft wird irgendwann übertragen auf einen anderen, dessen treibende Kraft dann wirkt. Ich kann einen Tanz beginnen und treibe dann alle anderen Tänzer an. Aber es gibt in diesem Tanz ein System von Prioritäten. Selbst wenn schließlich vier Leute im gleichen Raum tanzen, war doch ich der Anstifter. Es gibt also einen Austausch, und es gibt einen Rhythmus des Tauschs. Was für mich dabei wichtig ist, jemand muss den Tanz anleiten. Das ist meine Rolle dabei.
Louis Kahn sagt, es könne nur einen geben, der entwirft und entscheidet. Sie haben einen anderen Ansatz, aber Sie sehen sich auch als Wächter bis zum Ende des gesamten Prozesses. Ich finde interessant, dass Sie sagen, Sie seien kein Handwerker, das von Ihnen zu hören, habe ich nicht erwartet.
Ich habe schon sehr viel handwerklich gearbeitet, aber nicht im Sinne einer abgeschlossenen Lehre. Eines baut auf dem anderen auf, und in einem ganz allgemeinen Sinn sind wir alle Handwerker.
In Ihrer Arbeit bemerke ich eine gewisse harmonische Ordnung. Mich interessiert, welche ästhetischen Einflüsse, im Ausland oder in der klassischen indischen Architektur, für Sie wichtig waren. Gibt es Personen, deren Arbeiten den Rhythmus, die Ordnung, die Proportionen Ihrer Bauten beeinflussen?
Nein. Meine Suche nach dem Sinn kommt aus dem Ordnungsprinzip des Chaos. Schauen Sie sich die Teilchenphysik, die Quantenphysik an. Es gibt die unendliche Ausdehnung, und es gibt gewisse Rhythmen und eine bestimmte Verhältnis­mäßigkeit oder Proportion. Wir können die weitere Entfaltung des Chaos’ lediglich antizipieren, und wir müssen diese Entwicklung sorgfältig beobachten. Es lässt sich nicht exakt voraussagen, wie und wozu es sich entwickeln wird. Wichtig ist mir, die Aufmerksamkeit zu kultivieren, mit der man eine unkalkulierbare Entfaltung begleiten muss. Dazu braucht es alle fünf Sinne, als Maß und Weg der Bewertung. Man kann nicht nur sehen.
Sie arbeiten nicht mit klassischen Proportionen. Statt­dessen sprechen Sie von intuitiver Reflexion ...
Ich glaube es gibt diesen intuitiven Aspekt, aber auch die Absicht, den Vorsatz. Intuition allein oder Absicht allein gibt es nicht. Für mich muss es eine Kombination beider sein. Die zweckmäßige Intuition und die intuitive Zweckgerichtetheit, beides sind Fähigkeiten, die man als ein Ordnungsprinzip braucht. Le Corbusier hat dies verstanden. Die Lesarten können sie je nach Größe und Abmessung dessen, womit man arbeitet, verschieben. Messen und Bewerten ist nichts anderes als die Aufzeichnung oder das Lesen von verschiedenen Möglichkeiten, die es gibt oder geben könnte. Es ist eine Art von Festschreibung, Codierung, die nach einem Ausdruck verlangt. Die Intuition braucht einen Ausdruck, und das Bewerten oder Messen ist ihre Aufzeichnung oder Protokollierung. Dann bekommt sie eine Dimension oder ist erfolgreich, wenn sie allgemeingültig ist.
Wenn Sie den Ausdruck von Zeitlosigkeit erreichen wollen, wie beim Palmyra Haus, treffen zwei Aspekte zusammen: die abstrakte Form der Moderne und die tradi­tionelle Handwerklichkeit. Sie kombinieren beide auf magische Art. Wie kommen Sie zu einem solchen Ergebnis?
Gestern Abend nannte es ein Freund, der Schweizer Architekt Valerio Olgiati, ein Psychogramm. Es ist das Ergebnis ei-ner Art Selbstreflexion. Ich möchte das nicht als rätselhaft verstanden wissen, nicht als spirituell oder etwas in dieser Richtung. Es ist ein Ausdruck oder eine Reflexion von mir, ich bin ganz und gar im Raum verortet, dort, wo ich lebe, ich möchte da keine Mystik, nichts Mythisches interpretiert wissen. Für mich ist naheliegend, dass meine Arbeit autobiographisch ist oder, anders gesagt, ein Stück meiner Biographie, in Beziehung zum Raum, eine „Ontologie“ meiner.
Lassen Sie uns zu einem ganz anderen Thema kommen: Sie sind zum Studium ins Ausland gegangen und nun, im Gegensatz zu vielen Ihrer indischen Kommilitonen, wieder im eigenen Land tätig. Was muss sich ändern, um die Architektenausbildung in Indien zu verbessern?
Ich bin auch zum Studium in die USA gegangen, um einen Blick von außen auf Indien zu bekommen, einen anderen Bewertungsmaßstab, und um mich meiner Biografie zu ver­sichern, mich als Inder zu sehen. Wichtig ist nicht, ob jemand besser als ein anderer ist, weil er im Ausland studiert hat. Daran glaube ich nicht. Das gilt nicht nur für Indien, sondern in gleicher Weise auch für Europa oder den Westen überhaupt. Um konkret auf die Frage einzugehen, wie man das Bildungssystem voranbringen könnte oder wenigstens die Architektenausbildung – man muss den Blickwinkel erweitern und die Mittel dafür bereitstellen, sich mehr öffnen. Und wir müssen uns in vielerlei Hinsicht von Vorurteilen befreien, von überkommenen Ideen. Wir müssen sogar fragen, was es ist, dass uns zu Indern macht und was Indien ausmacht.
Eine Frage zu den Materialien, die Sie verwenden: Auf der Architektur-Biennale in Venedig vor vier Jahren haben Sie vor allen mit Ziegeln gearbeitet.
Es war eine Werkstatt, ein Arbeitsraum, ein Büro...
Sie haben auch zerbrochene Ziegel gezeigt. Diese Präsentation hat den Eindruck vermittelt, Sie wollten Materialien als Kunst zeigen, die ästhetische Dimension der Elemente. Betrachten Sie Materialien aus diesem künstlerischen Blickwinkel?
Lassen Sie uns zunächst klären, was künstlerisch heißt. Was wir auf der Biennale zeigen wollten war, wie fundamental die eigene Ausdrucksweise und das Selbstvertrauen sind. Beides ist eng miteinander verwoben. Alle diese Materialen sind Mediatoren dieser beiden Aspekte. Das war die Grundlage. Es ging damals nicht um zerbrochene oder nicht zerbrochene Ziegel. Wir wollten zeigen, wie wir ein Projekt tatsächlich erarbeiten, und so eine Art Aufzeichnung des Prozesses liefern. Ein Muster ohne Wert würde keinen Sinn machen. Man würde es am Ende abreißen und wegwerfen. Für mich war es auch die Aufzeichnung des Ganzen, der Farben, der gebrochenen Ziegel und damit der Leute, die daran beteiligt waren. Es ist also eine präzise Interaktion, die diese Dinge wertvoll macht. Für mich haben sie einen Wert, und das wurde ausgestellt. Wir behandeln diese Dinge sonst oft als wertlos, missachten sie.
Ich sehe eine gewisse Bescheidenheit, die sich in Ihren Gebäuden ausdrückt, ein elegant ausgearbeitetes Understatement. Vielleicht hat das ja mit der Wertschätzung des Ma­terials zu tun, auch einer zerbrochenen Fliese. Wie erreichen Sie diese eindrückliche Einfachheit?
Lassen Sie mich das an einem Beispiel erklären. Nehmen wir die Marmorplatte meines Tisches. Der Standard, der in Europa für eine solche Platte gilt, liegt bei 18, 19, 22 Milli­meter Stärke. Diese Platte hier ist dünner geschnitten. Sie ist vielleicht 15 oder 16 Millimeter stark. Dies ist in gewisser Weise wirtschaftlich und sparsam. Ich kann aus einem Block mehrere Platten herausschneiden. Nun kann man sagen, die Platte sei empfindlicher, zerbrechlicher. Gleichzeitig vermittelt sie aber auch den Eindruck von Leichtigkeit. Wir schreiben den Dingen einen Wert zu, je nachdem durch welches Fenster wir sie betrachten. Darüber entscheiden wir. Und es beeinflusst unsere Wahrnehmungen der Dinge. Diese Marmorplatte ist eine unter Tausenden, und damit meine ich nicht ihren ökonomischen Wert, sondern die Art und Weise, in der sie hergestellt wurde, wie nützlich sie ist oder wie unpraktisch. In diese Betrachtung fließt vieles ein, man greift auf Erfahrungen zurück. So betrachtet, haben alle Dinge ihr eigenes Potenzial. Die Frage ist, dieses zu erkennen. Erst wenn wir uns über das Potenzial klar sind, können wir Einfluss ausüben.
Sie haben also nicht von vornherein die Absicht, bescheiden zu sein. Es hängt, so verstehe ich Sie, von den Materialien selbst ab, die Verwendung finden, vom Entwurfsprozess und den vielen verschiedenen Faktoren, die in ihn fließen?
Genau
Ihre einfachen Bauten drücken eine Zurückhaltung aus, die das Gegenteil dessen ist, was weltweit von großen, teilweise öffentlichen Aufraggebern als Architektur verlangt und produziert wird.
Wir sind darum bemüht, Unterkünfte, Häuser, Heime zu bauen, die in einer bestimmen Art auch mehr sein sollen, als bloße Unterkünfte. Wenn wir uns selbst als Menschen sehen, wie entwickeln wir uns weiter? Der Mensch als Spektakel? Architektur als Spektakel? Wenn man von Ernsthaftigkeit spricht und weiß, wie wichtig sie ist, und wie ich sie interpretiere, dann wird sie zur Schwerkraft, die auf etwas einwirkt. Und mit der Interpretation von Ernsthaftigkeit und Schwerkraft zeigen wir eine gegensätzliche Kraft auf. Spektakel ist meiner Meinung nach etwas Externes, von außen Kommendes, ein Display, eine Darstellung, etwas Äußerliches. Ich sage nicht, dass es das nicht gebe darf, aber man muss auch dem Inneren einen Platz einräumen. Es geht auch um das Spiel beider miteinander.
Ich möchte zu einer ganz anderen Frage kommen, zur Verwendung von Palmenholz. Sie setzen es auch beim Palmyra Haus ein. Warum, es ist doch ein sehr weiches Holz?
Es liegt nur auf den Dächern des Palmyra Hauses. Das Holz hat nur Schutzfunktionen. Das tragende Gerüst ist aus In­dischem Lorbeer, das bildet das Tragwerk. Die Palme ist eine Pflanze ohne Äste, nur mit einem Stamm. Vor Regen schützt sie ihre Rinde, das Innere des Stammes ist eine Art Röhre, in der das Wasser zu den Blättern aufsteigt. Das ist die Struktur der Palme. Ihr Schutz liegt also primär auf ihrer Außenseite. Wir haben die Rinde am Holz des Stammes belassen und das weiche Innere herausgenommen. Wenn man die Palme so aushöhlt, bleibt die Struktur erhalten.
Der schwere Monsun kann dem Holz nichts anhaben?
Nein. Wir müssen es einmal im Jahr ölen. Wie die mensch­liche Haut den Körper in gewissem Maße vor Regen, Hitze und Kälte schützen kann, wenn sie gepflegt wird, müssen wir uns auch um die Haut des Gebäudes kümmern, damit es erhalten bleibt. Die Natur liefert uns eine Reihe von Pflanzen, von der Agave bis zur Aloe, die wir verwenden können, um die Schutzfunktion zu erneuern, wenn die „Haut“ des Hauses, das Holz, ausgetrocknet ist. Man kann ein Gebäude ganz ähnlich wie den menschlichen Körper betrachten.
Ihre Handwerker kennen die Wirkung der Pflanzen, die sie verwenden, sie sind mit diesen Materialien vertraut.
Dass ich um diese Dinge weiß, ist nicht notwendiger Weise rationales Wissen, sondern vielleicht eher die Reinheit der Intuition. Sie arbeiten nicht als Ausführende, auf Anweisung, wir arbeiten bei diesen Dingen auf der Grundlage des Dialogs.
Sie haben bislang nur Projekte in kleinerem Maßstab realisiert. Haben Sie ein bestimmtes Faible dafür?
Nein, das nicht. Ich würde auch lieber von Größe als von Maßstab sprechen. Was man in der Architektur mit Maßstab bezeichnet ist etwas Allgemeingültiges, unabhängig von der Größe. Ich denke, es ist egal ob man an einem Haus arbeitet, an einem Stuhl oder einer Lampe, oder eben auch an einem Hochhaus, man braucht dieselben Fähigkeiten, um mit der Aufgabe umzugehen. Und manchmal ist es schwerer, je kleiner das Objekt ist, also es ist ein Problem der Größe, nicht des Maßstabs. Ich möchte hier noch einmal eine Analogie bemühen, die Analogie vom Tragen. Um etwas Schweres zu heben oder zu tragen, braucht man Übung. So beginne ich vielleicht mit einem kleinen Stein, und kann ihn nach einiger Zeit bequem tragen. Dann nehme ich zwei Steine, dann fünf, dann zehn.
Sind Sie dabei, sich zu vergrößern?
Für mich bleibt die kollektive Gruppe wichtig, die sich gemeinsam an einem Herstellungsprozess beteiligt, so, wie wir es schon bei dem Bild vom großen Orchester besprochen hatten, dass ein bestimmter Klang entsteht. Wir sind auf einem Weg dahin, auch größere Projekte bearbeiten zu können. Wir bauen im Norden Indiens ein Ensemble von Gebäuden, also etwas Größeres. Aber wenn Sie es sehen, würden Sie sicher sagen, es sei immer noch ein kleines Projekt. Dann planen wir ein Haus als Werkstatt, Kantine und Unterkunft mit Nebengebäuden für Geräte. Es ist auch ein Bauernhaus mit einem Kuhstall und zugleich ein öffentlicher Raum.
Hat Ihre Bekanntheit Sie auch schon zu Aufträgen außerhalb Indiens geführt?
Wir bauen in der Schweiz und in Spanien jeweils ein kleines Haus. Es gibt auch ein Projekt in Japan.
Diese Bauherren haben also die Universalität in Ihrem Ansatz verstanden, die Zeitlosigkeit, Ihren Mut auch?
Das glaube ich nicht. Wichtig ist, dass man die Geisteshaltung teilt, interessiert daran ist, die Möglichkeiten des Austauschs zu erfahren. Es ist eben keine indische oder deutsche oder schweizerische Erscheinung, sondern das, was sie wertschätzen.
Transkription und Übersetzung aus dem Englischen: Michael Goj
Fakten
Architekten Jain, Bijoy, Mumbai; Studio Mumbai, Mumbai
aus Bauwelt 31.2014
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