Aufbruch in Flandern
Text: Grafe, Christoph, Antwerpen
Aufbruch in Flandern
Text: Grafe, Christoph, Antwerpen
Zwanzig Jahre nach der Einrichtung eines flämischen Teil-Staates macht die Region nördlich von Brüssel mit architektonischen Experimenten von sich reden, aber auch mit der längst überfälligen Revitalisierung des öffentlichen Raums – ein Ergebnis konsequenter Architekturförderung, meint Christoph Grafe, der seit 2011 das Vlaamse Architectuurinstituut leitet.
Im hohen Saal eines Patrizierhauses an der Antwerpener Lange Gasthuisstraat empfängt die Besucher ein Gemälde besonderer Art. Eine Frauenfigur rast durch eine postapokalyptische Landschaft, die entfernt an fröhliche Szenen bäuerlichen Lebens erinnert. Derweil treibt in der einen Ecke ein Söldnerheer sein Unwesen, in der anderen flüchten sich Teufel in die Hölle. In der Mitte steht ein backsteinernes Haus, wie es auch heute noch als nostalgische Konfektion in der suburbanen Landschaft um Antwerpen zu finden sein könnte. Die „Dulle Griet“ des älteren Bruegel ist ein Albtraum in Braun-Gelb – und der Schatz des Museums Mayer van den Bergh, das altniederländische Kunst in einem sorgfältig historisierten Rahmen zeigt (das Patrizierhaus ist der Nachbau eines Nachbaus für die Weltausstellung von 1889). Bruegel widmet sich dieser verstörenden Vorstellung mit einer großartigen Akribie, einem Vergnügen, das man diebisch nennen könnte oder auch Galgenhumor.
Der Humor, die Bereitschaft, sich sehenden Auges mit der Sachlage zwar nicht zu versöhnen, aber doch abzufinden, ist in Flandern niemals weit. Zuweilen lakonisch, grimmig oder scharfsinnig, immer auch mit Anflügen nie ganz glaubwürdiger Naivität, begegnet man dem flämischen Humor in alltäglichen Situationen, aber auch in der bildenden Kunst. Die Erklärung für diese Befindlichkeit, die einem nicht selten ungefragt gegeben wird, ist der Hinweis auf die lange Fremdherrschaft, die dem volkstümlichen Charakter einen gewissen resignierenden Zug verabreicht habe. Ein Klischee? Tatsächlich ist das Vertrauen in Welterklärungsmodelle und kollektive Projekte in Flandern eher begrenzt – und der Nationalstaat Belgien, zu dem Flandern seit 1831 gehört, ist seit langem eine Größe, mit der man sich eben arrangierte. Kein Wunder, dass die Flamen einen Hang zur Skepsis gegenüber der großen Geste haben und ein ausgeprägtes Misstrauen bezüglich Abstraktionen jeglicher Art, einschließlich derjenigen, welche die Rhetorik der Moderne hervorbrachte.
Einstweilen liegt Flandern aber noch immer in Belgien. Die linguistischen Konflikte, die in das Fundament des Staates eingegossen sind, machen einen Teil der Erbmasse des heutigen Flanderns aus. Da sind einerseits die Verwirrungen der politischen Verhältnisse. Andererseits gibt es das Phänomen der Großstadt Brüssel, der Hauptstadt Europas wie auch Flanderns, die unter der Führung ihrer neunzehn Bürgermeister in einen Zustand des glückseligen Chaos’ abzugleiten droht, das zu überleben eben nur mit einem Hang zum Surrealen möglich ist. Womit vielleicht auch der ganz spezifische Beitrag Belgiens zur Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts erklärt wäre.
Was ist das, eine „flämische“ Architektur?
Kann es unter diesen Vorzeichen so etwas wie eine „flämische“ Architektur geben? Und wie verhält sie sich zu den Traditionslinien und kulturellen Überlagerungen, die diese Region im Westen des alten Europas charakterisieren? Was ist unter „regionaler Architektur“ überhaupt zu verstehen vor dem Hintergrund der zunehmenden Nivellierung kultureller Unterschiede und der erodierenden nationalen Souveränität? Die Definition einer zeitgenössischen Architekturproduktion als „flämisch“ ist neueren Datums. Sie hängt direkt zusammen mit den so genannten Staatsreformen der achtziger und neunziger Jahre, in denen sich Flandern eine weitreichende Autonomie in der Wirtschafts- und Verkehrspolitik, dem Unterrichtswesen, dem Wohnungsbau und der Landesplanung erstritt. Weiterhin impliziert die Zuordnung einer Architektur zu einer Region neben der Existenz eines Territoriums auch das Bestehen einer kulturellen Definition. Beides, das Gebiet wie die Kultur, war im Fall Flanderns bis in die jüngste Zeit problematisch. Eigentlich ist erst 1993, durch die Föderalisierung der fünf nördlichen (niederländischsprachigen) Provinzen des zentralistischen Belgique à Papa, ein neues Gebilde entstanden, das sich als eine physische Einheit begreift. Flandern hat seitdem nicht nur eine Regierung und eine Verwaltung, sondern hat auch ein Bürgerschaftsverständnis entwickelt, das eine Vision für die ganze Region erst sinnvoll macht. Die Einrichtung des flämischen Teil-Staats, der in weiten Bereichen die Funktion des Nationalstaats de facto übernommen hat, zieht die Konstruktion des Territoriums nach. Und die Tatsache, dass dieser Teil-Staat sein Entstehen dem Verlangen nach kultureller Autonomie verdankt, hat zur Folge, dass auch Bestrebungen, die architektonische Qualität zu fördern, kulturell – als Ausdruck „flämischer Identität“ – gedeutet werden, auch wenn dies gar nicht intendiert ist.
Eine radikal aufgegebene Allgemeinheit
Dabei gab es Ende der achtziger Jahre auch unabhängig von Autonomiebestrebungen viel zu tun. Großstädte wie Antwerpen und Gent boten einen verkommenen Eindruck. Die Bausubstanz halber Stadtviertel, selbst in den historischen Kernen, war über Jahrzehnte dem Verfall preisgegeben worden. Straßenbahnen aus industriellen Urzeiten bewegten sich ächzend auf den Gleisen, während der öffentliche Raum in einem Ausmaß sich selbst überlassen worden war, dass er an Städte des real existierende Sozialismus erinnerte. Bereits in den sechziger Jahren geißelte der Architekt Renaat Braem Belgien als das „hässlichste Land der Welt“ und dachte dabei vor allem an Flandern, mit seiner von immensen Autobahnen durchschnittenen Landschaft, der Kakofonie von Einfamilienhäusern und Gewerbehallen, den suburbanen „Fermettes“ im bäuerlichen Stil, in denen sich der flämische Unternehmergeist seine Denkmäler setzt. Über Braems moralistische Ablehnung der architektonischen Vorlieben seiner Landsleute mag man denken, wie man will. Die Zersiedelung und extreme Privatisierung des Landschaftsraums sind in jedem Fall die Kehrseite eines politischen Konsenses, der Toleranz mit dem unbeschränkten Recht, alles überall bauen zu können, gleichsetzte und die Freiheit des Einzelnen darauf reduzierte, sich auf Kosten einer radikal aufgegebenen Allgemeinheit perfekte Rückzugsorte zu schaffen. In einem dicht besiedelten Gebiet wie Flandern, in dem auch das kleinste Stück Land besetzt ist, wird die Grenze zur Banalität schnell überschritten.
Noch 1987 konstatierte der Antwerpener Architekturkritiker und Professor Geert Bekaert die Abwesenheit von Baukultur und eines Diskurses, der diese zu unterfüttern vermocht hätte. Die Arbeit des Architekten sei beschränkt auf die Dienstleistung und damit mehr als anderswo zurückgeworfen auf die eigentliche Aufgabe der Disziplin, dem Schaffen von Räumen für konkrete Auftraggeber. Bekaert ignorierte damit zwar kunstvoll, dass es durchaus Ansätze eines originär (damals noch) belgischen Architekturdiskurses gab, wie die international beachtete Declaration de Bruxelles, einem Schlüsseldokument der Debatte über die europäische Stadt von 1980. Dennoch, die Architekturszene Flanderns bestand aus der Initiative einiger weniger Akteure und brachte zunächst lediglich vereinzelte Beispiele zeitgenössischer – will heißen: moderner – Architektur hervor. Die Anfänge der neuen „flämischen“ Architektur waren bescheiden in ihrem programmatischen Anspruch. Ein inspirierter Hausumbau hier, eine moderne Villa dort, daneben geschmackvolle „minimalistische“ Gestaltungen für den gehobenen Einzelhandel. Kleine Projekte, die als Zeichen für einen künstlerischen Aufbruch und eine neue Baukultur herhalten mussten.
Umso bemerkenswerter ist die tiefgreifende Veränderung der Verhältnisse, die sich in weniger als zwei Jahrzehnten vollzog und die man mit gebotener Vorsicht als ein kleines Wunder bezeichnen kann. Heute hat Flandern seinen von Staatswegen angestellten „Bouwmeester“ (seit 2010 hat Peter Swinnen vom Brüsseler Büro 51N4E dieses Amt inne), der über die architektonische Qualität größerer Bauwerke wacht – und ein Architekturinstitut, das nach dem Vorbild der Niederlande den öffentlichen Diskurs anregt und ein umfangreiches Angebot an Ausstellungen, Vorlesungen und Debatten organisiert. Die im zweijährlichen Rhythmus erscheinenden Architekturbücher dokumentieren, dass sich die Architekturszene Flanderns durch eine Vitalität aus zeichnet, die inzwischen weit mehr ist als eine kulturelle Randerscheinung oder das private Anliegen verstreuter Partisanen.
Der kulturelle Elan, der sich seit Anfang der Neunziger einer strukturellen Unterstützung durch die junge flämische Verwaltung erfreut, zeitigt Resultate, die kaum vorhersehbar waren. Zahlreiche öffentliche Gebäude wie die Universitätsgebäude in Gent (Stephane Beel/Xaveer de Geyter), die Polizeiwache in Schoten (Huiswerk) oder das Rathaus in Menen (NoAarchitecten) zeugen von einem bis weit in die Verwaltung reichenden Ehrgeiz, Architektur von überdurchschnittlicher Qualität zu schaffen. Großbauten für die Kultur wie das Brügger Concertgebouw von Robbrecht und Daem (Heft 21.2002), das Museum MAS in Antwerpen von Neutelings Riedijk (Heft 26.2011) und der Umbau einer ehemaligen Zechenanlage in Genk von 51N4E Architekten sind nur einige Beispiele für strategische Projekte zur Revitalisierung des städtischen Umfeldes. In Antwerpen zeichnen sich die Ergebnisse eines lang angelegten Umnutzungsprojekts für die ehemaligen Hafengebiete in der Innenstadt ab. Architektonischer Ehrgeiz ist zudem kein Privileg der großen Städte, auch Klein- und Mittelstädte realisierten Projekte für die Umgestaltung des öffentlichen Raums. Und auch der kollektive Wohnungsbau zeigt – zugegeben zaghafte – Anfänge wie das autofreie Quartier auf dem Gelände des ehemaligen Antwerpener Militärhospitals (Beel und Achtergael, Huiswerk/Collectief Noord) und die umgebaute Mouterij in Löwen (Bogdan Van Broek).
Risikobereitschaft und Architekturförderung
Ist diese Architektur nun „flämisch“? Die Architekten, soweit sie überhaupt ihr Domizil in der Region haben, würden die Frage höchstwahrscheinlich verneinen oder einer Antwort ausweichen. Und doch ist es offensichtlich, dass mit dem öffentlichen Fördersystem die Grundlage für eine Architektur geschaffen wurde , die mehr ist als eine Ansammlung von Einzelprojekten. Großangelegte städtebauliche Planungen und die Einrichtung eines transparenten Auswahlverfahrens durch den Bouwmeester sorgen dafür, dass Entwürfe als Beiträge zu einer neuen Vision für Flandern diskutiert werden können. Mit dem Plan „Flandern-in-Aktion“ (ViA) der flämischen Regierung ist die Region und ihr Territorium selbst zu einen Projekt geworden. Derlei Rhetorik ist in der konkreten Ausarbeitung einzelner Gebäude natürlich kaum einsetzbar. Ihr Effekt ist gleichwohl spürbar, da sie eine Atmosphäre geschaffen hat, in der das architektonische Experiment florieren kann und sich doch als Teil einer kollektiven Anstrengung, eines gemeinsamen Aufbruchs, versteht. Wie anders ist es zu erklären, dass eine auch in Flandern bestehende Debatte über städtische Lochfassaden zu eklatanten Verstößen gegen eherne Gesetze führen darf, wie sie de vylder vinck taillieu für eine Baulücke in einer Antwerpener Vorstadt abliefern (Seite 18)? Auch die Tatsache, dass mitten im sakrosankten Ensemble der Genter Altstadt mit der „Stadthalle“ derzeit ein Bau realisiert wird, der die Debatte über historische Rekonstruktionen – nicht nur in Flandern – verschiebt, deutet auf einen ausgeprägten künstlerischen Willen hin und auch auf die Risikobereitschaft der städtischen Auftraggeber.
Die resignativen Züge haben sich in Flandern verflüchtigt, zumindest in der Architektur. Das Misstrauen gegen die große Geste mag geblieben sein, aber es wird dazu genutzt, sich unorthodoxe Möglichkeiten für die Architektur offenzuhalten; eine Architektur, die sich ihrem Kontext mit Neugierde, Pragmatismus und zuweilen auch Naivität und einer Art von Humor zu nähern vermag, der womöglich der spezifische Beitrag Flanderns zur europäischen Architektur unserer Zeit ist.
Der Humor, die Bereitschaft, sich sehenden Auges mit der Sachlage zwar nicht zu versöhnen, aber doch abzufinden, ist in Flandern niemals weit. Zuweilen lakonisch, grimmig oder scharfsinnig, immer auch mit Anflügen nie ganz glaubwürdiger Naivität, begegnet man dem flämischen Humor in alltäglichen Situationen, aber auch in der bildenden Kunst. Die Erklärung für diese Befindlichkeit, die einem nicht selten ungefragt gegeben wird, ist der Hinweis auf die lange Fremdherrschaft, die dem volkstümlichen Charakter einen gewissen resignierenden Zug verabreicht habe. Ein Klischee? Tatsächlich ist das Vertrauen in Welterklärungsmodelle und kollektive Projekte in Flandern eher begrenzt – und der Nationalstaat Belgien, zu dem Flandern seit 1831 gehört, ist seit langem eine Größe, mit der man sich eben arrangierte. Kein Wunder, dass die Flamen einen Hang zur Skepsis gegenüber der großen Geste haben und ein ausgeprägtes Misstrauen bezüglich Abstraktionen jeglicher Art, einschließlich derjenigen, welche die Rhetorik der Moderne hervorbrachte.
Einstweilen liegt Flandern aber noch immer in Belgien. Die linguistischen Konflikte, die in das Fundament des Staates eingegossen sind, machen einen Teil der Erbmasse des heutigen Flanderns aus. Da sind einerseits die Verwirrungen der politischen Verhältnisse. Andererseits gibt es das Phänomen der Großstadt Brüssel, der Hauptstadt Europas wie auch Flanderns, die unter der Führung ihrer neunzehn Bürgermeister in einen Zustand des glückseligen Chaos’ abzugleiten droht, das zu überleben eben nur mit einem Hang zum Surrealen möglich ist. Womit vielleicht auch der ganz spezifische Beitrag Belgiens zur Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts erklärt wäre.
Was ist das, eine „flämische“ Architektur?
Kann es unter diesen Vorzeichen so etwas wie eine „flämische“ Architektur geben? Und wie verhält sie sich zu den Traditionslinien und kulturellen Überlagerungen, die diese Region im Westen des alten Europas charakterisieren? Was ist unter „regionaler Architektur“ überhaupt zu verstehen vor dem Hintergrund der zunehmenden Nivellierung kultureller Unterschiede und der erodierenden nationalen Souveränität? Die Definition einer zeitgenössischen Architekturproduktion als „flämisch“ ist neueren Datums. Sie hängt direkt zusammen mit den so genannten Staatsreformen der achtziger und neunziger Jahre, in denen sich Flandern eine weitreichende Autonomie in der Wirtschafts- und Verkehrspolitik, dem Unterrichtswesen, dem Wohnungsbau und der Landesplanung erstritt. Weiterhin impliziert die Zuordnung einer Architektur zu einer Region neben der Existenz eines Territoriums auch das Bestehen einer kulturellen Definition. Beides, das Gebiet wie die Kultur, war im Fall Flanderns bis in die jüngste Zeit problematisch. Eigentlich ist erst 1993, durch die Föderalisierung der fünf nördlichen (niederländischsprachigen) Provinzen des zentralistischen Belgique à Papa, ein neues Gebilde entstanden, das sich als eine physische Einheit begreift. Flandern hat seitdem nicht nur eine Regierung und eine Verwaltung, sondern hat auch ein Bürgerschaftsverständnis entwickelt, das eine Vision für die ganze Region erst sinnvoll macht. Die Einrichtung des flämischen Teil-Staats, der in weiten Bereichen die Funktion des Nationalstaats de facto übernommen hat, zieht die Konstruktion des Territoriums nach. Und die Tatsache, dass dieser Teil-Staat sein Entstehen dem Verlangen nach kultureller Autonomie verdankt, hat zur Folge, dass auch Bestrebungen, die architektonische Qualität zu fördern, kulturell – als Ausdruck „flämischer Identität“ – gedeutet werden, auch wenn dies gar nicht intendiert ist.
Eine radikal aufgegebene Allgemeinheit
Dabei gab es Ende der achtziger Jahre auch unabhängig von Autonomiebestrebungen viel zu tun. Großstädte wie Antwerpen und Gent boten einen verkommenen Eindruck. Die Bausubstanz halber Stadtviertel, selbst in den historischen Kernen, war über Jahrzehnte dem Verfall preisgegeben worden. Straßenbahnen aus industriellen Urzeiten bewegten sich ächzend auf den Gleisen, während der öffentliche Raum in einem Ausmaß sich selbst überlassen worden war, dass er an Städte des real existierende Sozialismus erinnerte. Bereits in den sechziger Jahren geißelte der Architekt Renaat Braem Belgien als das „hässlichste Land der Welt“ und dachte dabei vor allem an Flandern, mit seiner von immensen Autobahnen durchschnittenen Landschaft, der Kakofonie von Einfamilienhäusern und Gewerbehallen, den suburbanen „Fermettes“ im bäuerlichen Stil, in denen sich der flämische Unternehmergeist seine Denkmäler setzt. Über Braems moralistische Ablehnung der architektonischen Vorlieben seiner Landsleute mag man denken, wie man will. Die Zersiedelung und extreme Privatisierung des Landschaftsraums sind in jedem Fall die Kehrseite eines politischen Konsenses, der Toleranz mit dem unbeschränkten Recht, alles überall bauen zu können, gleichsetzte und die Freiheit des Einzelnen darauf reduzierte, sich auf Kosten einer radikal aufgegebenen Allgemeinheit perfekte Rückzugsorte zu schaffen. In einem dicht besiedelten Gebiet wie Flandern, in dem auch das kleinste Stück Land besetzt ist, wird die Grenze zur Banalität schnell überschritten.
Noch 1987 konstatierte der Antwerpener Architekturkritiker und Professor Geert Bekaert die Abwesenheit von Baukultur und eines Diskurses, der diese zu unterfüttern vermocht hätte. Die Arbeit des Architekten sei beschränkt auf die Dienstleistung und damit mehr als anderswo zurückgeworfen auf die eigentliche Aufgabe der Disziplin, dem Schaffen von Räumen für konkrete Auftraggeber. Bekaert ignorierte damit zwar kunstvoll, dass es durchaus Ansätze eines originär (damals noch) belgischen Architekturdiskurses gab, wie die international beachtete Declaration de Bruxelles, einem Schlüsseldokument der Debatte über die europäische Stadt von 1980. Dennoch, die Architekturszene Flanderns bestand aus der Initiative einiger weniger Akteure und brachte zunächst lediglich vereinzelte Beispiele zeitgenössischer – will heißen: moderner – Architektur hervor. Die Anfänge der neuen „flämischen“ Architektur waren bescheiden in ihrem programmatischen Anspruch. Ein inspirierter Hausumbau hier, eine moderne Villa dort, daneben geschmackvolle „minimalistische“ Gestaltungen für den gehobenen Einzelhandel. Kleine Projekte, die als Zeichen für einen künstlerischen Aufbruch und eine neue Baukultur herhalten mussten.
Umso bemerkenswerter ist die tiefgreifende Veränderung der Verhältnisse, die sich in weniger als zwei Jahrzehnten vollzog und die man mit gebotener Vorsicht als ein kleines Wunder bezeichnen kann. Heute hat Flandern seinen von Staatswegen angestellten „Bouwmeester“ (seit 2010 hat Peter Swinnen vom Brüsseler Büro 51N4E dieses Amt inne), der über die architektonische Qualität größerer Bauwerke wacht – und ein Architekturinstitut, das nach dem Vorbild der Niederlande den öffentlichen Diskurs anregt und ein umfangreiches Angebot an Ausstellungen, Vorlesungen und Debatten organisiert. Die im zweijährlichen Rhythmus erscheinenden Architekturbücher dokumentieren, dass sich die Architekturszene Flanderns durch eine Vitalität aus zeichnet, die inzwischen weit mehr ist als eine kulturelle Randerscheinung oder das private Anliegen verstreuter Partisanen.
Der kulturelle Elan, der sich seit Anfang der Neunziger einer strukturellen Unterstützung durch die junge flämische Verwaltung erfreut, zeitigt Resultate, die kaum vorhersehbar waren. Zahlreiche öffentliche Gebäude wie die Universitätsgebäude in Gent (Stephane Beel/Xaveer de Geyter), die Polizeiwache in Schoten (Huiswerk) oder das Rathaus in Menen (NoAarchitecten) zeugen von einem bis weit in die Verwaltung reichenden Ehrgeiz, Architektur von überdurchschnittlicher Qualität zu schaffen. Großbauten für die Kultur wie das Brügger Concertgebouw von Robbrecht und Daem (Heft 21.2002), das Museum MAS in Antwerpen von Neutelings Riedijk (Heft 26.2011) und der Umbau einer ehemaligen Zechenanlage in Genk von 51N4E Architekten sind nur einige Beispiele für strategische Projekte zur Revitalisierung des städtischen Umfeldes. In Antwerpen zeichnen sich die Ergebnisse eines lang angelegten Umnutzungsprojekts für die ehemaligen Hafengebiete in der Innenstadt ab. Architektonischer Ehrgeiz ist zudem kein Privileg der großen Städte, auch Klein- und Mittelstädte realisierten Projekte für die Umgestaltung des öffentlichen Raums. Und auch der kollektive Wohnungsbau zeigt – zugegeben zaghafte – Anfänge wie das autofreie Quartier auf dem Gelände des ehemaligen Antwerpener Militärhospitals (Beel und Achtergael, Huiswerk/Collectief Noord) und die umgebaute Mouterij in Löwen (Bogdan Van Broek).
Risikobereitschaft und Architekturförderung
Ist diese Architektur nun „flämisch“? Die Architekten, soweit sie überhaupt ihr Domizil in der Region haben, würden die Frage höchstwahrscheinlich verneinen oder einer Antwort ausweichen. Und doch ist es offensichtlich, dass mit dem öffentlichen Fördersystem die Grundlage für eine Architektur geschaffen wurde , die mehr ist als eine Ansammlung von Einzelprojekten. Großangelegte städtebauliche Planungen und die Einrichtung eines transparenten Auswahlverfahrens durch den Bouwmeester sorgen dafür, dass Entwürfe als Beiträge zu einer neuen Vision für Flandern diskutiert werden können. Mit dem Plan „Flandern-in-Aktion“ (ViA) der flämischen Regierung ist die Region und ihr Territorium selbst zu einen Projekt geworden. Derlei Rhetorik ist in der konkreten Ausarbeitung einzelner Gebäude natürlich kaum einsetzbar. Ihr Effekt ist gleichwohl spürbar, da sie eine Atmosphäre geschaffen hat, in der das architektonische Experiment florieren kann und sich doch als Teil einer kollektiven Anstrengung, eines gemeinsamen Aufbruchs, versteht. Wie anders ist es zu erklären, dass eine auch in Flandern bestehende Debatte über städtische Lochfassaden zu eklatanten Verstößen gegen eherne Gesetze führen darf, wie sie de vylder vinck taillieu für eine Baulücke in einer Antwerpener Vorstadt abliefern (Seite 18)? Auch die Tatsache, dass mitten im sakrosankten Ensemble der Genter Altstadt mit der „Stadthalle“ derzeit ein Bau realisiert wird, der die Debatte über historische Rekonstruktionen – nicht nur in Flandern – verschiebt, deutet auf einen ausgeprägten künstlerischen Willen hin und auch auf die Risikobereitschaft der städtischen Auftraggeber.
Die resignativen Züge haben sich in Flandern verflüchtigt, zumindest in der Architektur. Das Misstrauen gegen die große Geste mag geblieben sein, aber es wird dazu genutzt, sich unorthodoxe Möglichkeiten für die Architektur offenzuhalten; eine Architektur, die sich ihrem Kontext mit Neugierde, Pragmatismus und zuweilen auch Naivität und einer Art von Humor zu nähern vermag, der womöglich der spezifische Beitrag Flanderns zur europäischen Architektur unserer Zeit ist.
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