Bauwelt

Brutalismus

Eine Berliner Tagung näherte sich dem unübersichtlichen Phänomen

Text: Baus, Ursula, Stuttgart

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Nora Vass, Vass Gergely

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Brutalismus

Eine Berliner Tagung näherte sich dem unübersichtlichen Phänomen

Text: Baus, Ursula, Stuttgart

Sie war mit Spannung erwartet worden: die Tagung, die auf Initiative des 2011 verstorbenen Architekturtheoretikers Werner Sewing und mit dem Engagement seiner Mitarbeiter Florian Dreher, Anette Busse und der Wüstenrot Stiftung zustande kam.
In der Berliner Akademie der Künste ging es im Mai um den Brutalismus – ein heißes Eisen war angefasst, wenn man an die umstrittene Bewertung des Baubestands aus den 1950er bis 70er Jahren denkt. Zwar kann man davon ausgehen, dass der Brutalismus als internationales Architekturphänomen jener Zeit durchaus anerkannt ist; in ihren Standardwerken erwähnen ihn Pevsner (1987), Pehnt (2005), Ibelings (2011) und viele andere dezidiert. Aber zugleich zeigt sich, dass er wissenschaftlich nicht hinreichend analysiert wurde. „Wissenschaftlich“ bezieht sich auf die Architektur­geschichtsschreibung, die sich lieber der vergleichsweise klaren Episode der Post­moderne widmet als der unübersichtlichen, facetten­reichen Erscheinung „Brutalismus“. Es mag Gründe dafür geben: Mit den klassischen Kriterien der Architekturgeschichte kommt man ihr kaum bei, Stilfra­gen sind zweitrangig. Außerdem ist die Architektur dieser Provenienz gemeinhin (noch) kein Sympa­thieträger – weswegen mancher Wissenschaftler lieber andere, gefälligere Themen sucht.

Den Architekturhistorikern schwimmen derweil die Felle davon, weil die Distanz zwischen Geschichts­wissenschaft und Gegenwartsanalyse schrumpft. Die Zyklen, in denen Bau und Abriss einander abwechseln, werden immer kürzer, die Bewertung von Architektur wird immer öfter zur populistischen Geschmackssache. Bautechnische Forderungen – Energie, Haustechnik, Kommunikationstechnik usw. – beschleunigen obendrein die Halbwertszeit jeglicher Architektur. Und die Denkmalpflege als jene klassische Kraft, die als Mittlerin zwischen Erhalt und Abriss wirken soll, wird seit zwei Jahrzehnten politisch entmachtet.

Es geht bei dem Phänomen „Brutalismus“ um viel mehr als um eine stilistische Episode. Reyner Banham hatte den Begriff als Ausdruck einer konstruktionsbezogenen, verantwortungsvollen Hal­tung zur Architektur propagiert, in einem Aufsatz von 1955 (erstmals ins Deutsche übertragen in Candide 5/2012) und mit dem Buch Brutalismus in der Architektur. Ethik oder Ästhetik? von 1966. Ursprünglich geht der Begriff auf den Schweden Hans Asplund zurück. Und während in England Peter und Alison Smithson, James Stirling und Mitglieder aus dem Dunstkreis des Team X dazugerechnet werden, bezieht man sich in Frankreich auf Le Corbusiers béton brut und die art brut – „brut“ im Sinne von echt und materialgerecht. Bei der Berliner Tagung bat Werner Oechslin konsequent darum, doch erst einmal etwas Ordnung in die Brutalismus-Geschichte zu bringen – und genau diese Aufgabe steht für eine Neuausrichtung der Architekturgeschichtsschreibung an.

Überzeugend erläuterte Jörg Gleiter die Situation in Japan, wo Kenzo Tange und Arata Isozaki, vom Krieg traumatisiert, einen anderen Brutalismus verfolgten als die Franzosen beispielsweise mit den ateliers des bâtisseurs ATBAT in Nordafrika, die Tom Avermaete vorstellte. Wie sich Kriegserfahrungen
in der Haltung von Architekten niederschlagen, thematisierte auch Beatriz Colomina.

Brutalismus – ein Wendepunkt in der Architektur­geschichts­schreibung


Solche Erkenntnisse aus Soziologie, Politikwissenschaft und Psychologie in der Architekturgeschichte zu berücksichtigen, fällt immer schwerer: In einer Hochschullandschaft, in der Architekturgeschichte zugunsten technischer und ökonomischer Lehrinhalte reduziert wird, stehen die Chancen dafür schlecht. Deswegen durfte man sich umso mehr über Stephen Bates freuen, der als praktizierender Architekt und Schlussredner davon erzählte, wie sein Büro (Sergison Bates Architects) den Upper Lawn Pavillon „re­novierte“, das in Südengland gelegene Wochenendhäuschen der Smithsons. Was Sergison Bates bei ihrer Arbeit 2008 bewegte, füllt eine Lücke in der bauhistorischen Auseinandersetzung: Gedanklich lagen die Architekten den Smithsons dermaßen nahe, dass die ästhetische Annäherung an das kleine, archaische Bauwerk zu einer romantischen Aneignung mutierte. Man kann von einer „Kippfigur“ sprechen – mit der die Architekturgeschichtsschreibung standesdünkelhaft hadert.

Für die aktuelle Debatte zur Architektur und Stadtentwicklung hat all das Folgen. Die traditionellen Rhythmen, in denen eine eben vergangene Epoche schlecht, die ihr vorangegangene gut und die zeitgenössische umstritten bewertet wird, gilt es mit Hilfe der Architekturgeschichtswissenschaft zu durchbrechen. Aber welche Foren hat eine solche Wissenschaft? Generell informiert sich heute jeder, der mitreden möchte, bei Wikipedia. Die Bauten, die dort unter dem Stichwort „Brutalismus“ präsentiert werden, zeigen wohl die große Vielfalt der Beispiele, aber diese Vielfalt wird nur im Bild präsentiert, nicht wissenschaftlich analysiert. Zudem erweist sich die Sprache als Dilemma: Brutalismus im Deutschen hat, im Gegensatz zum Englischen oder Französischen, mit „brutal“ eine alltagssprachliche Konnotation. Dass die mangelhafte Analyse des Phänomens Brutalismus eines Tages nicht als trauriger Wendepunkt einer Geschichtswissenschaft, sondern als Beginn neuer Erkenntnismethoden zu werten ist, wollen wir hoffen.

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