Bauwelt

„Das Handy ist nur der Anfang.“

Mark Shepard im Gespräche mit Adam Greenfield

Text: Shepard, Mark, Buffalo; Greenfield, Adam, New York

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Adam Greenfield, Mark Shepard (v.r.l.)

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Reklametafeln am Times Square
Visualisierung: Evan Allen, Matthew Worsnick

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„Das Handy ist nur der Anfang.“

Mark Shepard im Gespräche mit Adam Greenfield

Text: Shepard, Mark, Buffalo; Greenfield, Adam, New York

Vernetzung, Orientierung, Überwachung – Urban Computing, die Computertechnologie im städtischen Raum, erzeugt eine neue Architektur der Stadt, an deren Gestaltung sich Planer und Architekten bisher wenig beteiligen. Zwei führende Forscher, im Gespräch über Sinn und Unsinn der neuen Technologie und ihre Auswirkungen auf das Selbstverständnis der „Raum-Planer“.
Mark Shepard | Der Begriff „Urban Computing“ hat sich als eine Bezeichnung für die Erforschung von mobiler und ubiquitärer, also allgegenwärtiger Computertechnologie im städtischen Kontext etabliert. Sie waren einer der ersten, der diesen Terminus verwendet hat. Wie sind Sie dazu gekommen?
Adam Greenfield | Im Sommersemester 2007 habe ich zusammen mit Kevin Slavin von area/code einen Kurs mit dem Titel „Urban Computing“ im Interactive Telecommunica-tions Program der Universität von New York eingerichtet. Wir waren beide von der grundsätzlichen Überzeugung geleitet, dass die allgegenwärtigen und alles durchdringenden Computertechnologien, über die Forscher, die sich mit der Schnitt­stelle zwischen Mensch und Computer beschäftigen, seit 20 Jahren diskutieren, nicht länger als bloße Spekulation abgetan werden können. Ganz im Gegenteil, sie haben bereits Einzug in unseren Alltag gehalten, als Gebäudesysteme und öffentliche Infrastrukturen, aber vor allem als Konsumgüter. Was ist schließlich ubiquitärer, also allgegenwärtiger, als das Mobiltelefon? Uns war klar, dass dieses breite Spektrum von vernetzten, eingebetteten Computergeräten jenseits des Desktops eine radikale Wirkung auf alles haben musste, was wir unter Urbanismus verstehen, auf die physische Gestalt der Stadt und auf die großstädtische Erfahrung. Wie das im Einzelnen aussehen könnte, und was geschehen würde, wenn alle Komponenten der Stadt miteinander kommunizieren und auf einander aufbauen, wussten wir ehrlich gesagt auch nicht so genau. Würde das gebäudegroße Display-Schirme bedeuten? Lokalisierung durch Geotagging? Mobiles Social-Networking? Städtisches Wi-Fi oder WLAN? Erwei-terte Realität? Eingebettete RFID-Chips? Intelligente Infrastruktur? Jawohl, all das – und sogar alles gleichzeitig.
Wie würden Sie „Urban Computing“ von „Read/Write Urbanism“ und „Ambient Informatics“ unterscheiden?
Naja, seien wir ehrlich, ich glaube, „Urban Computing“ ist ein Begriff, der sehr schnell überholt klingen wird. Irgendwie merkt man ihm an, dass er sich in nicht allzu ferner Zukunft wie „pferdeloser Wagen“ oder „ländliche Elektrifizierung“ anhören wird, weil dann Städte einfach so sein werden. Es ist für mich schlichtweg unvorstellbar, dass die Städte der entwickelten Welt das sehr ausgedehnte Angebot von vernetzten digitalen Geräten nicht nutzen werden, sei es, um Verkehrsströme zu leiten und zu optimieren, Gebäudehüllen gegenwärtigen Bedingungen anzupassen, aktuelle Nutzungsstände anzuzeigen oder sei es, weniger erfreulich, um so ungefähr überall maßgeschneiderte Werbung zu präsentieren.
„Ambient Informatics“ hingegen bezieht sich weniger auf diesen technischen Unterbau oder die installierten Infrastrukturen als auf die Bedingungen, die durch ihre Verwendung geschaffen werden. Vielleicht lässt sich das am einfachsten so beschreiben, dass Information losgelöst wird von der umständlichen Armatur des Webs mit seinen Sites, Feeds und Browsern und stattdessen in die Umwelt freigesetzt wird, mit unbeschränktem Zugriff, wann, wie und wo man will: ständig und mühelos erhältlich, wie Luft. Wir bewegen uns eindeutig auf diesen Zustand hin.
Gibt es Urban Computing, das nicht „ambient“ ist?
Sicher, aber ich denke, das ist ein Übergangsmodus. Werfen Sie etwa einen Blick auf das von Stamen Design entwickelte Oak­land Crimespotting, das Kriminalitätsdaten des Oakland Police Department über eine Karte von Google Maps legt (siehe Seite 62/63). Indem gemeldete Zwischenfälle auf einer Karte eingezeichnet werden, wird dieses Wissen an den Bür­-ger zurückgegeben. Das macht etwas transparent, das sowohl die affektive Erfahrung des Sich-in-der-Stadt-Befindens, wie auch die Entscheidungen, die wir dort treffen, formt – die aktuelle Wirklichkeit der Straßenkriminalität. Geographisch organisierte Daten wie diese schreien geradezu nach einer di­rekten Referenzierung zu den fraglichen Standorten. Wieviel machtvoller und handlungsrelevanter werden Dinge wie Crimespotting sein, wenn sie „ambient“, also umgebungssensitiv sind – wenn die Information über einen Ort uns genau dann erreicht, wenn wir uns an dem Ort befinden? Wenn wir, anstatt getönte Kreise auf einem Computerbildschirm zu betrachten, die Information in Echtzeit mitgeteilt bekommen, z.B. als einen ansteigenden Ton in unserem Kopfhörer, als ein Kitzeln im Schuh oder als eine plötzliche Gelbeintönung unserer Brillengläser?
Mit „Read/Write Urbanism“ wiederum will Kevin Slavin das Neuartige im städtischen Leben unter den Bedingungen von Ambient Informatics umschreiben: die Vorstellung, dass die Benutzer die Stadt nicht länger nur passiv erleben, sondern befähigt werden, ihre Empfindungen unmittelbar in die Stadt einzuschreiben, dass diese Empfindungen topographisch verankert werden und Menschen, die sich zu einem späteren Zeitpunkt am selben Ort aufhalten, darauf reagieren können. Das heißt, wenn man einen Ort durchquert, ihn nutzt oder auf irgendeine Weise in ihn investiert, hinterlässt das eine konkrete Informationsspur, die aufgegriffen und auf die individuell reagiert werden kann. Und wie gesagt, ich glaube, wir werden erleben, wie sich das großstädtische Le­ben genau in diese Richtung entwickeln wird.
Traditionellerweise war es der Architektur und dem Städtebau vorbehalten, uns die Hinweise zu liefern, die uns helfen, uns im städtischen Raum zu orientieren und anschließend durch ihn zu navigieren. Interessant an Ambient Informatics finde ich, dass es eine Verschiebung von materiellen, konkreten Hinweisen – wie Straßen, Plätzen, Flüssen, Denkmälern oder Verkehrsknotenpunkten – hin zu immateriellen, ambienten Hinweisen vermuten lässt, durch die wir unsere mentalen Landkarten bilden. Bisher mögen ortsbezogene Dienste wie Google Maps auf einem Handy toll sein, um ein Restaurant in der Nähe zu finden, aber sie operieren im Maßstab von individuellen Bewegungsmustern. Doch was ist mit Informationen, die das Potenzial haben, größere Bewegungs- und Handlungsmuster innerhalb der Stadt zu beeinflussen? Ich denke an Projekte wie „iSEE“ des Institute for Applied Autonomy, das eine webbasierte Schnittstelle zu einer Karte mit Standorten von Überwachungskameras in Manhattan anbietet. Mit dieser Schnittstelle können Besucher eine Route von A nach B planen, die einem „Weg der gering­sten Überwachung“ folgt (siehe Seite 64/65). Interessant ist hier, dass das Interface vermeintlich unsichtbare Kräfte innerhalb der Stadt sichtbar macht, nicht unähnlich dem Crimespotting, und potentiell die Bewegungsmuster ändert. Welche anderen Möglichkeiten – und Dilemmata – gibt es sonst noch für Urban Computing auf der Ebene der Infrastruktur, die, wie Sie sagen, sowohl die affektive Erfahrung des Sich-in-der-Stadt-Befindens formen, wie auch die Entscheidungen, die wir dort treffen?
Dazu fällt mir als Allererstes eine Werbeanzeige ein, mit der New Yorker Busse plakatiert waren. Sie bezog sich auf eine frühere Anzeige, in der Bürger aufgefordert wurden, eine Polizei-Hotline anzurufen, wenn ihnen suspekte Personen oder verdächtige Gegenstände in New Yorks Nahverkehrssystem aufgefallen waren. Der Text lautete: „Letztes Jahr haben 1944 New Yorker etwas gesehen und etwas gesagt.“ Für mich ist ganz klar, dass derlei Anzeigen in sehr naher Zukunft in
Echtzeit aktualisiert werden – gespeist von Daten, die aus den verfügbaren Sensoren im städtischen Raum gewonnen werden. Für was auch immer das gut sein soll, aber auf jeden Fall ist es der Heilige Gral der Marketingbranche – man kann kaum noch Ausdrücke wie „standortbasiert“ oder „kontextbewusst“ in den Mund nehmen, ohne dass jemand das Bild von Rabatt-Gutscheinen für Latte Macchiato beschwört, die automatisch auf Ihrem Handy erscheinen, wenn Sie sich durch den Einzugsbereich von Starbucks bewegen. Das ist eines der größten Klischees des Interaction Design, das es gibt.
Doch obwohl es andauernd thematisiert wird, haben anscheinend relativ wenige Menschen den nächstliegenden Schritt getan und sich vorgestellt, wie ein gesamtes System solcher Anzeigen aussieht und sich anfühlt. Matt Worsnick und Evan Allen haben projiziert, wie die Landschaft von Reklametafeln auf dem Times Square in der vollen Blüte von Ambient Informatics aussehen würde (siehe links). Einige ihrer Reklamesprüche reagieren auf die Ortung bestimmter Objekte, in diesem Fall („Eine illegale Glock-Pistole überquert gerade die 42. Straße. Wir sind an der Sache dran! – NYPD.“), während andere Ort, Zeit und Identität zueinander in Beziehung setzen („Jane Doe, wenn Sie dieses Taxi nicht erwischen, verpassen Sie Ihren Flug nach Morokko.“). Ich weiß nicht, ob ich das wirklich als eine „Chance“ bezeichnen würde...
Es ist doch interessant, dass diese Ambient-Informatics-Projekte sehr oft nur die Reichweite von Beschilderung und Werbung in dichten urbanen Räumen ausdehnen. Als kämen wir nicht von dieser Szene in Minority Report los, in der der abtrünnige Cop John Anderton (gespielt von Tom Cruise) auf der Flucht vor seinen Kollegen ist, und während er durch die Einkaufszone jagt, von Anzeigen bombardiert wird, die auf seinen jeweiligen Standort und seine Identität zugeschnitten sind (eine ernste Belastung in seiner Lage). Aus irgendeinem Grund streben viele Designer ein solches Sze­nario an. Aber was passiert, wenn solche mobilen, „virtuellen“ Technologien benutzt werden, um derlei Informationen von der gegenständlichen Welt zu subtrahieren, um das visuelle Feld der Straße zu reduzieren, anstatt ihm etwas hinzuzufügen?
Ich bin mir nicht so sicher, ob die visuelle Belastung jemals wirklich reduziert wird. Es ist nicht gesagt, dass der Kanal des Groß- oder Gebäudeformats automatisch verschwindet, nur weil irgendwann dieser zusätzliche, persönliche Informationskanal zur Verfügung steht. Aber ein eindringliches Bild ist das schon, muss ich sagen – ich stelle mir dabei eine eher nüchtern monochromatische Stadt vor, die in erweitertes Realitäts-Chaos ausbricht, jedes Mal wenn ich meine Kontaktlinsen oder was auch immer aktiviere.
Eine Folge wird allerdings sein, dass die Fähigkeit, sich unabhängig von den in der Umgebung eingebetteten Hinweisen zu orientieren, allmählich schwindet. Hier bewahrheitet sich eigentlich, was in meinem Lieblingszitat von Marshall McLuhan behauptet wird: „Every extension is also an amputation.“ („Jede Erweiterung ist gleichzeitig auch eine Amputation.“) Ich sehe es schon kommen, dass man sich beim Fahren – wenn es nicht gerade die aller vertrautesten und naheliegendsten Ziele sind – ausschließlich auf Hinweise verlässt, wie wir sie bereits von den eingebauten oder tragbaren GPS-Navigationssystemen kennen, oder vom Routenplaner, nur in einer umgebungssensitiven Echtzeit-Version: „HIER links einbiegen.“ „DIESEN ZUG nehmen.“
Was passiert also, wenn all das crasht – was ja mit Sicherheit ab und zu passieren wird? Was geschieht, wenn wir eine Generation von Menschen haben, die daran gewöhnt sind, solchen Hinweisen zu folgen, und die Hinweise auf einmal verschwinden? Ist die Stadt dann für diese Menschen noch lesbar? Oder haben sie ihre Fähigkeit verloren, die auf Standortbestimmung und Navigation bezogenen Hinweise zu erkennen, die beinahe seit Menschengedenken ein inte­graler Bestandteil des Systems sind, mit dem wir Städte bauen? Ich weiß es einfach nicht.
Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die in den britischen Medien die Runde machte, über einen Schulausflug, der buchstäblich daneben ging. Anscheinend hatte der Busfahrer „Hampton Court“ in sein GPS-Sat-Navigationssystem eingegeben, aber anstatt zu dem beliebten Touristenziel geführt zu werden, landeten sie in einer Sackgasse gleichen Namens in Nord-London. Derlei Geschichten häufen sich heutzutage. Ich fand die Vorstellung, dass man ein GPS dazu benutzen kann, um sich zu verfahren, faszinierend, es hat mich an die Aufforderung der Situationisten erinnert, mit einem Londoner Stadtplan Paris zu durchwandern. Aber im Ernst: Die Tatsache, dass der Busfahrer nicht gemerkt hat, dass etwas nicht stimmt, als er in diese Sackgasse einfuhr, gibt Anlass zur Sorge bezüglich der Kehrseite dieser Technologien.
In der Tat sollten wir hier nochmal betonen, dass die Entwicklung viele Kehrseiten hat – falls ernsthaft immer noch jemand glauben sollte, Urban Computing verspreche nur Friede, Freude, Eierkuchen. Man denke nur daran, wie Urban-Com-puting-Plattformen von einem autoritären Staat instrumentalisiert werden können, um soziale Kontrolle auszuüben. Ich behaupte, dass Ambient Informatics als System – also der gesamte Apparat, der aus ubiquitären, eingebetteten Multikanalsensoren und den Data Mining,- Analyse- und Visualisierungsinstrumenten besteht, die erforderlich sind, um sie wirkungsvoll einzusetzen – auf der elementarsten Ebene den Begriff „Überwachung“ vollkommen neu definiert. Es geht hier nicht mehr nur um Kameras und Richtmikrofone, schon heute ist mit biometrischen Gesichts- und Spracherkennungstechnologien viel mehr möglich. Es geht um die Fähigkeit, völlig verschiedene Daten in Beziehung zu setzen, Rückschlüsse aus wahrscheinlichen Verhaltensmustern zu ziehen, im Entstehen begriffene Phänomene vorwegzunehmen – mit anderen Worten, genau die gleichen Potenziale, mit denen adaptive Werbung entwickelt wurde, nur ausdrücklich auf Kontrolle ausgerichtet. Einige der erschreckendsten und interessantesten Möglichkeiten, die sich abzeichnen, umgehen krude Unterdrückung im Tiananmen-Stil und üben stattdessen so etwas wie sanfte Kontrolle aus.

Was müssen angesichts dieser Fragen Architekten Ihrer Meinung nach über Urban Computing wissen? Oder anders herum, was müssen Technologen über Städte wissen?
Ich glaube, dass Architekten in ein oder zwei entscheidenden Hinsichten den Technologen ein Stück voraus sind, wenn es darum geht, sich vorzustellen, wie Städte unter den Bedingungen von Ambient Informatics aussehen und sich anfühlen. Meiner Meinung nach bleibt das konventionelle Denken der Technologen oft auf einer Ebene stecken, die ich als „Super-Home-Theater“ bezeichnen würde, im Stil von: „Also dein Haus wird über dein Handy zum Auto sprechen, so dass deine Windschutzscheibe dich benachrichtigen wird, wenn bei dir zuhause ein Paket abgegeben wurde.“ OK, toll, was? Das bleibt bei diesem 360-Grad-Panorama eines digital optimierten Lifestyle-Konsums stehen, das von Mühelosigkeit, Bequemlichkeit und Sicherheit erzählt. Architektur hingegen hatte zumindest Zeit, einen kritischen Diskurs zu entwickeln, als Gegengewicht zur Anpreiserei, und es gibt eine altbewährte Tradition, Ideen schon vor ihrer technischen Machbarkeit zu visualisieren, siehe Sant’Elia, Mies an der Friedrichstraße, Archigram oder die Metabolisten. Zumindest auf einige der Möglichkeiten von vernetzten Sensoren und Leitern haben Architekten keineswegs zögerlich reagiert. Wenn auch die meisten von uns sich Gebäude nicht als computerbasierte Artefakte vorstellen, hat es in den letzten Jahren einen stetigen Strom von Projekten gegeben – das Galleria-Einkaufszentrum in Seoul von UNStudio, das Kunsthaus Graz von Peter Cook, die Allianz-Arena von Herzog & de Meuron, oder am poetischeren und flüchtigeren Ende, der Blur-Pavillon von Diller Scofidio – die auf genau ein solches Verständnis gründen, die sich alle in unterschiedlich starkem Maß auf digital gesteuerte und vermittelte formale Effekte stützen. Also bewegt sich zumindest eine Strömung des Mainstream-Architekturdiskurses in diese Richtung.
Ich glaube, die derzeitige Begeisterung für Gebäudehüllen, die aus großformatigen programmierbaren „Urban Screens“ bestehen, oder für Firmenlobbys, die mit sogenannter „interaktiver Architektur“ ausgerüstet sind, macht ein Dilemma deutlich: Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem bloßen Reagieren oder Sich-Anpassen und einem komplexen Zusammenspiel, wo im eigentlichen Sinn auf etwas geantwortet wird. Reaktive Szenarien folgen gewöhnlich einer linearen Kausalität und beinhalten Interaktionsarten, wie wir sie etwa von automatischen Türöffnern oder Thermostaten kennen. Letztendlich geht es darum, dass Systeme unsere Gegenwart registrieren, oder eine Veränderung der räumlichen Umweltbedingungen, und darauf auf vorherbestimmte Weise reagieren. Ich würde behaupten, dass gegenwärtige Mainstream-Arbeiten der sogenannten „interaktiven“ Architektur dazu neigen, sich auf diesen Interaktionsmodus zu beschränken. Aber welche Möglichkeiten liegen jenseits davon, in offenen Systemen, in denen mein Handeln das Resultat auf eine Art und Weise beeinflussen kann, die nicht vorherbestimmt ist? Grundkonzepte dazu gibt es zwar schon seit geraumer Zeit, aber sie haben jetzt, angesichts des Angebots von mobiler und eingebetteter Computertechnologie, neu Verbreitung gefunden. Welche Herausforderungen sehen Sie bei der Übertragung dieser Konzepte auf Ambient Informatics und Urban Computing?
Für mich besteht die nächste Herausforderung darin, sich von simplen aktiven, reaktiven und selbst interaktiven Strukturen zu lösen, hin zu transaktionellen, in denen jede an der Interaktion beteiligte Partei der anderen etwas gibt, das einen Wert darstellt – ich als Nutzer gebe dem Gebäude oder der Stadt etwas, das sie nutzen kann, und erhalte selber dafür etwas von gleichem oder größerem Wert zurück. Doch dieses delikate Gleichgewicht auch nur annähernd richtig hinzu­bekommen, das ist nochmal eine ganz andere Größenordnung.
Dann haben wir es, selbst im einfachsten Fall, mit einer Situation zu tun, in der die Funktionalität der räumlichen Umwelt entweder aktiv und willensmäßig kontrolliert wird oder auf passivere Inputs reagiert. Dieser Input könnte z.B. aus Sensoren stammen, die im Boden eingebettet sind – eine Quelle, mit anderen Worten, die relativ beständig wäre, selbst wenn die aus ihr gesammelten Daten variieren – oder sich aus Sensoren speisen, die in die Kleidung von Personen eingewebt sind. Sogar die Passantendichte auf einem Bürgersteig am anderen Ende der Stadt könnte ein Input sein! Das bringt Datenschutzprobleme mit sich: Sagt man den Leuten, dass man ihnen Daten entnimmt? Wenn ja – und das will ich stark hoffen – wie informiert man sie so, dass sie eine sinnvolle Wahl treffen können, ob sie an diesem Ort sein wollen oder nicht? Und die Frage, die unbedingt vor jeder anderen gestellt werden muss: Nur weil wir jetzt die technische Möglichkeit ha­ben, um, sagen wir, Beleuchtungsstärken mit dem durchschnittlichen Blutdruck aller im Raum befindlichen Personen zu korrelieren, sollten wir das deswegen auch tun?
Andererseits würde ich mir von Designern wünschen, dass sie sich um den Ausfallzustand kümmern, um das, was
Ingenieure „graceful degradation“ nennen. Jean Nouvels Institut du Monde Arabe ist ein gutes Beispiel dafür – ich glaube nicht, dass die komplizierten Irisblenden der Fassade jemals richtig funktioniert haben, aber sie sind zweifellos atemberaubend schön, selbst in einem inaktiven Zustand. Ich weiß nicht, wie eine Gegend aussieht, wenn ihr technologischer Unterbau ausfällt, wie sie lebensfähig bleiben kann, wenn all
die verschiedenen Zusatzebenen, Interventionen und techni- schen Vermittler versagt haben. Aber jemand muss sich irgend­wann ganz intensiv mit der Lösung dieser Frage beschäftigen.
Nun will ich mal den Spieß umdrehen und Sie fragen, was Ihrer Meinung nach Architekten heute über Urban Computing wissen müssen?
Nun, ich denke, wir müssen allmählich erkennen, dass die Art, wie wir die Stadt erleben, nicht mehr in erster Linie durch die urbane Form bestimmt wird, sondern auch durch die verschiedenen Medien, Informations- und Kommunika­tionstechnologien, mit denen wir im Alltag agieren. Ein Beispiel: Kürzlich saß ich im Garten meiner Lieblingskneipe in Brooklyn neben einem Pärchen, das sich unterhielt. Die Aufmerksamkeit des Mannes wechselte ständig zwischen seiner Gesprächspartnerin und seinem neuen iPhone hin und her. Es ist zwar ganz normal, dass man, wenn man gerade mit jemandem spricht, den Blick hin und wieder zu anderen Menschen oder Dingen um einen herum schweifen lässt. Ich würde sagen, das macht eine wesentlichen Teil der Attraktivität der städtischen Umwelt aus. Doch der Unterschied ist hier, dass Mr.iPhones Aufmerksamkeit ständig zwischen realen und virtuellen Modi der Gegenwart hin und her wechselt. Die Fragen, die sich hier für mich stellen, sind: Was passiert, wenn das Virtuelle und das Reale nicht mehr streng getrennt verstanden werden, sondern eher als eine Kontinuität oder als Verlauf? Wie könnten wir Szenarien wie dieses berücksichtigen?
In diesem Szenario – und ich stimme Ihnen zu, dass dies ein fast beispielhafter Fall ist – passiert etwas, das für mich einer umfassenden Neudefinierung von „Nebeneinander“ gleichkommt. Im Wesentlichen ist es so, dass die soziale und materielle Umwelt, die räumlich gegenwärtige Realität, ihren zu­vor alleingültigen Anspruch, dem „Nutzer“ seine Aufmerksamsamkeit abzuverlangen, zunehmend einbüßt, weil man sich jetzt nicht mehr nur neben der Person befindet, mit der man zusammen am Tisch sitzt. Man befindet sich auch neben den Personen, die in dem Artefakt der gemeinsamen Gegenwart, das man gerade benutzt, also z.B. dem Smartphone, im Moment mit einem zusammen sind.
Das stimmt. Und ich denke, wenn Architekten diese Phänomene als eine Chance sähen, anstatt als ein Dilemma oder einen Angriff auf ihre berufliche Autonomie, gegen den es sich zu wehren gilt, dann würde ihnen das neue Betätigungsfelder erschließen. Würden sie sich näher mit den komplexen räumlichen Praktiken befassen, mit denen Menschen beim Computing in städtischer Umgebung agieren, wären Architekten besser in der Lage festzustellen, welche Aspekte der gebauten Umwelt heute wirklich noch relevant sind und welche vollkommen neu gedacht werden müssen. In welchem Maße, zum Beispiel, haben wir uns jenseits einer Psychogeographie der „Anziehungen des Terrains“ zu einer Schizogeographie von Knoten und Netzwerken bewegt? Man könnte sogar überspitzt fragen: In welchem Maße hat mobile und allgegenwärtige Computertechnologie inzwischen begonnen, die Autonomie der traditionellen Architekturpraxis als Technologie des Raum-Schaffens zu verdrängen?
Ja, das ist ein Riesen-Thema. Wenn man mal genau darauf achtet, wie Menschen heutzutage physisch mit Raum umgehen, stellt man fest, dass es schon jetzt unter den Bedingungen von Ambient Informatics wesentliche Veränderungen gegeben hat. Zum Beispiel das wie betrunken wirkende Torkeln von Menschen, die in ein Handy sprechen. Ich glaube, das Phänomen kennen wir alle. Ich mache das auch. Es ist ein eindeutiger Hinweis, dass die Person sich in einem Zustand eines bestenfalls ambivalenten Nebeneinanders befindet. Mir kann keiner erzählen, dass die Frau in der Fotoserie von Horst Kiechle (siehe oben) auf die räumlichen Bedingungen um sie herum reagiert, außer als Raumbegrenzungen der gröbsten Art. Sie schafft sicherlich einen Raum, doch ihre Entscheidungen werden dabei von einer anderen Logik geleitet als jener, die die urbane Form im Verlauf unserer Geschichte bestimmt hat, die Bedingungen, die unserem Verständnis von Mauern, Türen, Straßen, Kreuzungen und dergleichen zugrunde liegen. Wenn für mich irgendwas mit Recht als „Schizo-Geographie“ bezeichnet werden kann, dann dies.
Das Handy ist nur der Anfang. Wenn man erst einmal Gebiete der Anziehung und Abstoßung mühelos visualisieren kann – wirtschaftliche Attraktoren, Brennpunkte der Kriminalität, optimierte oder gestörte Passantenströme – und diese direkt über die Stadt legt, werden diese Aspekte Entscheidungen im großen Maßstab bestimmen. Nicht nur auf der Grundlage von Nähe, sondern von Präferenz. Diese Dinge werden in zunehmendem Maße explizit, bzw. explizit gemacht.
Das muss zwangsläufig mit dem in Konflikt geraten, was die Architektur immer als ihren alleinigen Imperativ angesehen hat, das Schaffen von Raum. Ich werde nicht so entmutigend weit gehen wie Martin Pawley in seinem Buch „Terminal Architecture“, wo er beinahe genüsslich von einer Welt mit vollkommen atomisierten Individuen ausgeht, die sich in den vernetzten Life-Support-Gondeln ihrer, zutreffend benannten, „Terminals“ durch eine ruinierte und ungeliebte Landschaft schleppen. Aber ich glaube, dass formale Schönheit, auf jeden Fall, und selbst traditionelle humanistische Anliegen wie Proportionen und Textur, allmählich in den Hintergrund treten und verschwinden werden gegenüber jenen Eigenschaften, die einen Raum zuträglich für vernetzten Gebrauch machen. Ich will nicht behaupten, dass das so toll ist. Aber ich sehe, dass es sich abzeichnet.
Würden Sie also sagen, dass die Wende hin zum Urban Computing die Autonomie der Architektur grundsätzlich stärkt oder schwächt?
Ich würde sagen, Urban Computing ist sowohl eine Krise als auch eine Chance für die Architektur. Einerseits wird es wohl die privilegierte Argumentation und den Autonomie-Anspruch der Architektur entscheidend schwächen. Ich glaube, die Auswirkung auf die großstädtische Erfahrung wird in etwa dem ähneln, was im Internet höchst unglücklich als Web 2.0 bezeichnet wird – wenn Sie dachten, benutzergenerierter Inhalt ist etwas Besonderes, nun, dann werden Sie von benutzergenerierten Städten begeistert sein! Andererseits er­öffnet es eine ungeheuer erweiterte Rolle für Interpreten dieser Bedingungen, Schöpfer von Frameworks, sozusagen Autoren von „schönen Rändern“. Es wird wahrscheinlich eine gewisse Egolosigkeit erfordern, die bisher in der Architektur eher selten anzutreffen war. Doch jene Praktiker, die sie erreichen, werden den Benutzern der von ihnen entworfenen Räume Augenblicke von tiefer Schönheit und Verbundenheit bescheren können.
Ich glaube, es ist auch wichtig, dass man nicht einem vermeintlich „verlorenen“ öffentlichem Raum nachtrauert. Heutzutage werden „Öffentlichkeit“ und „öffentliche Meinung“ in viel stärkerem Maße durch die Nachrichtenkanäle der Netzwerke, Internet-Blogs und Websites gebildet als auf Bürgersteigen und in Cafés, Parks oder Einkaufspassagen. Für die Jugend von heute haben soziale Online-Netzwerke wie My Space und Facebook die Straße oder die Passage als bevorzugten Ort ersetzt, um „zu sehen, gesehen zu werden und sich auszutauschen“. Mit Blick auf die Zukunft, glaube ich, dass wir uns letztendlich doch von den Kategorien des öffentlichen Raumes, der Öffentlichkeit usw. etwas lösen müssen, wenn wir einige der neuen Möglichkeiten, die von den Technologien geboten werden, wahrnehmen wollen. Städte waren immer schon Plätze der Interaktion und des Austauschs – von Menschen, Gütern, Dienstleistungen, Informationen, Ideen – und technologische Entwicklung ist schon seit langem eine treibende Kraft des Wandels im städtischen Umfeld. Zusammen mit einigen dieser technologischen Transformationen entstehen neue gesellschaftliche Situationen, und mit ihnen neue räumliche Praktiken, um den städ­tischen Alltag zu bewältigen.
Im Gegensatz dazu muss ich offen sagen, dass ich das, was passiert, wenn Leute iPods und Blackberrys und was weiß ich alles benutzen, eher als einen Rückzug von dieser Realität betrachte, eine Verleugnung und einen Verzicht. Das hat sogar einige einfühlsamere Beobachter der conditio urbana zu dem Schluss veranlasst, dass personalisierte Informationstechno­logie, im urbanen Kontext eingesetzt, unweigerlich die persönliche Umgebung bereichert auf Kosten des gemeinschaft­lichen, öffentlichen Bereichs. Ich bin trotzdem für Urban Computing, weil es nicht zwangsläufig diese Entwicklung nehmen muss. Ich setze meine Hoffnungen darauf, dass Menschen sich dieser Technologien auf kreative und spontane Art bedienen werden, um Räume der Resonanz und Bedeutung zu schaffen. Ob das Wunschdenken ist, wird sich zeigen.

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