Der Stoff der Träume
Werkschau des Fotografen Nino Migliori in Bologna
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Der Stoff der Träume
Werkschau des Fotografen Nino Migliori in Bologna
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Der Palazzo Fava ehrt Nino Migliori mit einer Werkschau. Zu sehen sind Arbeiten aus einer Schaffenszeit von fast 65 Jahren.
Die Eröffnung von Nino Miglioris großer Werkschau im Palazzo Fava fällt auf einen entschieden winterlichen Tag. Dichter Schneefall von Ligurien bis in den Veneto macht an diesem Donnerstag Mitte Januar die Anreise aus benachbarten Städten beschwerlich, wenn nicht unmöglich, und selbst in Bologna, wo Kolonnaden kilometerlang die Straßen säumen, dürfte so mancher Interessierte angesichts von zehn Zentimetern Schneematsch auf den Straßen daheim geblieben sein. Trotzdem ist der Andrang gewaltig.
Das Interesse der Bologneser ist verständlich. Während einer Schaffenszeit von fast 65 Jahren hat Migliori sich immer wieder mit Bewohnern, Gebäuden und Räumen seiner Heimatstadt beschäftigt – von der 1950 im Duktus des Neorealismo begonnenen Serie „Gente dell’Emilia“ über die in den 50er und 70er Jahren porträtierten „muri“ bis hin zu der mit einer selbst entwickelten Doppelkamera aufgenommenen und 2007 publizierten Serie „Via Emilia“ spiegelt sich in seinem Werk die Entwicklung von Stadt und Region seit der Nachkriegszeit wider.
Die „Gente dell’Emilia“ bilden gemeinsam mit den verwandten Serien „Gente del Delta“, „Gente del Nord“ und „Gente del Sud“ denn auch einen wichtigen Part der Schau im Palazzo Fava. Diese fotografische Erkundung von italienischem Temperament, Physiognomie und Alltagsleben eröffnet die Raumfolge im zweiten Obergeschoss des Ausstellungsgebäudes; sie wirkt wie eine italienische Vorweg-nahme der ab 1955 so erfolgreichen MoMA-Schau „Family of Man“.
Erst einmal Treppen steigen müsste also, wer Miglioris Schaffen chronologisch nachvollziehen möchte. Das ist aber gar nicht notwendig – denn so vielgestaltig sich dieses Künstlerleben vor dem Betrachter auch äußert, ist es doch mitnichten als lineare Folge klar von einander abgegrenzter „Phasen“ zu verstehen. Vielmehr arbeitete Migliori zur selben Zeit realistisch wie experimentell; widmete sich parallel einer bildlichen Erzählung von der Welt wie Gedichten über die Bildproduktion des Fotografen, über das Handwerk selbst. Letzteres führte ihn zu Bildern, die seinen Zeitgenossen gar nicht mehr als Fotos erschienen. In der Ausstellung hängen sie den neorealistischen Aufnahmen unmittelbar benachbart. Aus deutscher Sicht lassen diese Bilder – pirogrammi, cellogrammi, polarigrammi, ossidazioni, lucigrammi, idrogrammi – unweigerlich an Fotos denken, wie sie Ende der 20er Jahre am Bauhaus entstanden; tatsächlich aber sind sie ein Dokument des Austauschs, den Migliori seinerzeit mit den Bologneser Vertretern des Informel pflegte.
In der Serie „muri“, der dritten Werkgruppe hier oben, fallen die beiden Pole zusammen. Die Nahaufnahmen von Wandoberflächen in Bologna zeigen einerseits die Schönheit des (vermeintlich) Zufälligen, andererseits das Interesse des Künstlers an den Spuren alltäglichen Lebens. Mit ihren Graffiti, Plakatresten, Putz- und Farbfragmenten erscheinen die Mauern der Stadt wie die „aufgeschlagenen Seiten eines kollektiven Tagebuchs“, wie es die Einleitung zu dieser Serie treffend formuliert.
Allein schon wegen dieser drei Werkgruppen empfiehlt sich der Besuch der Ausstellung. Zwei weitere Räume aber darf der Besucher auf keinen Fall versäumen. Da ist zum einen, im ersten Obergeschoss, die in gedämpftes Licht getauchte Arbeit „Cruor – Elegia della carne“, die mit ihren eindrucksvollen, ja aufrüttelnden Bildern, welche Migliori in einem Schlachthof aufgenommen hat, Bezug nimmt auf Annibale Carraccis 1585 vollendetes Gemälde „La bottega del macellaio“, „Das Geschäft des Fleischers“: Der Betrachter fühlt sich in eine Kapelle versetzt, an deren Wänden der vom Menschen der Kreatur aufgezwungene Kreuzweg sein Klagelied anstimmt. Und da ist schließlich, im Erdgeschoss, „Orantes“, Miglioris jüngstes Werk: eine Skulptur aus 200 zerbeult-zerknickten Plastikflaschen, wie sie in fast jedem Abfalleimer in der Stadt stecken, die aber, auf Augenhöhe gebracht, plötzlich menschliche Haltung annehmen bzw. diese zu parodieren scheinen – Betende sind es, von Migliori mit Bronze übergossen, in Großaufnahmen porträtiert und mit einer düster dräuenden Musik untermalt.
Das Interesse der Bologneser ist verständlich. Während einer Schaffenszeit von fast 65 Jahren hat Migliori sich immer wieder mit Bewohnern, Gebäuden und Räumen seiner Heimatstadt beschäftigt – von der 1950 im Duktus des Neorealismo begonnenen Serie „Gente dell’Emilia“ über die in den 50er und 70er Jahren porträtierten „muri“ bis hin zu der mit einer selbst entwickelten Doppelkamera aufgenommenen und 2007 publizierten Serie „Via Emilia“ spiegelt sich in seinem Werk die Entwicklung von Stadt und Region seit der Nachkriegszeit wider.
Die „Gente dell’Emilia“ bilden gemeinsam mit den verwandten Serien „Gente del Delta“, „Gente del Nord“ und „Gente del Sud“ denn auch einen wichtigen Part der Schau im Palazzo Fava. Diese fotografische Erkundung von italienischem Temperament, Physiognomie und Alltagsleben eröffnet die Raumfolge im zweiten Obergeschoss des Ausstellungsgebäudes; sie wirkt wie eine italienische Vorweg-nahme der ab 1955 so erfolgreichen MoMA-Schau „Family of Man“.
Erst einmal Treppen steigen müsste also, wer Miglioris Schaffen chronologisch nachvollziehen möchte. Das ist aber gar nicht notwendig – denn so vielgestaltig sich dieses Künstlerleben vor dem Betrachter auch äußert, ist es doch mitnichten als lineare Folge klar von einander abgegrenzter „Phasen“ zu verstehen. Vielmehr arbeitete Migliori zur selben Zeit realistisch wie experimentell; widmete sich parallel einer bildlichen Erzählung von der Welt wie Gedichten über die Bildproduktion des Fotografen, über das Handwerk selbst. Letzteres führte ihn zu Bildern, die seinen Zeitgenossen gar nicht mehr als Fotos erschienen. In der Ausstellung hängen sie den neorealistischen Aufnahmen unmittelbar benachbart. Aus deutscher Sicht lassen diese Bilder – pirogrammi, cellogrammi, polarigrammi, ossidazioni, lucigrammi, idrogrammi – unweigerlich an Fotos denken, wie sie Ende der 20er Jahre am Bauhaus entstanden; tatsächlich aber sind sie ein Dokument des Austauschs, den Migliori seinerzeit mit den Bologneser Vertretern des Informel pflegte.
In der Serie „muri“, der dritten Werkgruppe hier oben, fallen die beiden Pole zusammen. Die Nahaufnahmen von Wandoberflächen in Bologna zeigen einerseits die Schönheit des (vermeintlich) Zufälligen, andererseits das Interesse des Künstlers an den Spuren alltäglichen Lebens. Mit ihren Graffiti, Plakatresten, Putz- und Farbfragmenten erscheinen die Mauern der Stadt wie die „aufgeschlagenen Seiten eines kollektiven Tagebuchs“, wie es die Einleitung zu dieser Serie treffend formuliert.
Allein schon wegen dieser drei Werkgruppen empfiehlt sich der Besuch der Ausstellung. Zwei weitere Räume aber darf der Besucher auf keinen Fall versäumen. Da ist zum einen, im ersten Obergeschoss, die in gedämpftes Licht getauchte Arbeit „Cruor – Elegia della carne“, die mit ihren eindrucksvollen, ja aufrüttelnden Bildern, welche Migliori in einem Schlachthof aufgenommen hat, Bezug nimmt auf Annibale Carraccis 1585 vollendetes Gemälde „La bottega del macellaio“, „Das Geschäft des Fleischers“: Der Betrachter fühlt sich in eine Kapelle versetzt, an deren Wänden der vom Menschen der Kreatur aufgezwungene Kreuzweg sein Klagelied anstimmt. Und da ist schließlich, im Erdgeschoss, „Orantes“, Miglioris jüngstes Werk: eine Skulptur aus 200 zerbeult-zerknickten Plastikflaschen, wie sie in fast jedem Abfalleimer in der Stadt stecken, die aber, auf Augenhöhe gebracht, plötzlich menschliche Haltung annehmen bzw. diese zu parodieren scheinen – Betende sind es, von Migliori mit Bronze übergossen, in Großaufnahmen porträtiert und mit einer düster dräuenden Musik untermalt.
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