Bauwelt

Die Erdölstadt

Text: Schultz, Brigitte, Berlin

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Die Erdölstadt

Text: Schultz, Brigitte, Berlin

1949 beginnt die Sowjetunion mit dem Bau der ersten Ölplattform der Welt ohne Verbindung mit dem Festland. Es entsteht mitten im Kaspischen Meer eine Kleinstadt für 5000 Einwohner. Seit dem Einzug der freien Marktwirtschaft steigen und fallen die Überlebenschancen der Erdölstadt mit dem Ölpreis. Auch eine zum 60. Jubiläum spendierte Sanierung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich der Ort mit der Ausbeutung der Ölquelle langsam, aber sicher die Existenzgrundlage entzieht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sind die bisherigen Erdölvorkommen der Sowjetunion fast alle erschöpft. Das Land muss neues Öl finden, egal wo und zu welchem Preis. Eine kleine Felsengruppe inmitten des Kaspischen Meers, die bei den örtlichen Fischern unter dem Namen „Schwarze Felsen“ bekannt ist, weckt die Neugier der Geologen. Sie führen von einem Schiff aus erste Bohrungen durch und entdecken unter den Felsen, 110 Kilome­ter östlich von Baku, ein riesiges Erdölfeld in nur 1000 Meter Tiefe. Doch die Förderung des Öls mitten auf dem Meer gestaltet sich schwierig. Die Felsen sind mit zehn Quadratmeter Fläche viel zu klein für eine Förderstation, also wird improvisiert. Zunächst lässt man sieben ausgemusterte Schiffe im flachen Wasser um die Felsen auf Grund laufen und verbindet sie durch einen Steg. Die „Insel der sieben gesunkenen Schiffe“ dient als Unterkunft für die ersten Bohrmannschaften.
Aber die Pläne für den Ort sind von weit größerer Natur. Getreu der offiziellen Linie der Sowjetunion, den Arbeitern die bestmöglichen Bedingungen zu bieten, wird mit dem Bau eines Dorfes auf Pfählen begonnen. Lange Stege verbinden zweigeschossige Satteldach-Häuser untereinander und mit den immer weitläufiger in dem Gebiet um die Felsen entstehen­den Förderanlagen. Ab 1951 werden Autobahnen über dem Meer angelegt, durch die selbst der entfernteste Bohrturm bei jedem Wetter erreichbar wird. Straßen und Gebäude werden auf Pfählen aus Stahl errichtet, die in der hier durschnittlich nur 20 Meter tiefen See genügend Halt bieten. Zwischen 1952 und 1956 entstehen auf diese Weise 16 zweigeschossige Schlafhäuser, ein Speisesaal mit 100 Plätzen, eine Bibliothek mit 25.000 Büchern, ein Club, ein Badehaus, ein Verwaltungsgebäude, ein Kino für 300 Zuschauer und viele kleinere, tech­ni­sche Gebäude. Niemand kümmert sich um den immensen Aufwand oder den Stahlpreis. Das Wichtigste ist, die Stadt zu bauen, die ein großartiges Vorzeigeobjekt für die Sowjetunion und ein Symbol ihrer technischen Fortschrittlichkeit gegen­über dem Westen werden soll. Man tauft sie auf den Namen „Neft Dashlari“, „Die Felsen des Erdöls“.
Anfang der siebziger Jahre wird mit dem Bau eines neuen Zentrums begonnen. Dieses soll auf festem Boden stehen, um sich dem Bild einer normalen Stadt anzunähern und so auch dringend benötigte Arbeitskräfte für das ungewöhnliche Leben auf dem Meer zu gewinnen. Auf 1000 Schiffsladungen wird eine halbe Million Kubikmeter Erde herangeschafft. Symbolträchtig wird auf der Aufschüttung zuallererst ein Park mit Bäumen angelegt. Es folgen bis zu neungeschossige Häuserblöcke, getrennt nach Männern und Frauen, ein Veranstaltungssaal mit 500 Sitzplätzen, ein Krankenhaus, ein Elektrizitätswerk, ein Gewächshaus, Bars, eine Bäckerei und sogar eine Limonadenfabrik, die ihre Erzeugnisse ans Festland exportiert. Für das Bild einer echten sowjetischen Stadt dürfen auch Wandmosaike mit heroischen Arbeitermotiven nicht fehlen, Friese bringen dem Betrachter die Geschichte der sozialistischen Ölproduktion näher, ein Monument präsentiert die Erbauer der Stadt, und auf einem kleinen Platz zwischen dem Verwaltungsgebäude und den Wohnblöcken wird die erste, „heilige“ Ölpumpe als Denkmal erhalten.
In den achtziger Jahren bietet der Ort Platz für 5000 Arbeiter. Sie sind in Mehrbettzimmern untergebracht und arbeiten in Schichten von 12 Stunden, so dass sie sich immer abwechselnd ein Bett teilen können. Die Förderplattformen erreichen sie über ein Netz aus insgesamt 300 Kilometer Stegen, die sich wie Tentakel bis zu 30 Kilometer um das Zentrum erstrecken. In diesen Hochzeiten werden in dem auf 200 Plattformen mit bis zu 2000 Bohrstellen angewachsenen Komplex über 50 Prozent der Ölproduktion Aserbaidschans gefördert.
Der langsame Zerfall einer sozialistischen Welt
Der Alltag in Neft Dashlari hat sich, zumindest auf den ersten Blick, bis heute kaum verändert. Die meisten Arbeiter wohnen seit weit über zehn Jahren hier, einige haben fast ihr ganzes Leben in der Erdölstadt verbracht. Kaum einer hat sich allerdings den Beruf oder den Arbeitsort bewusst ausgewählt. Sie kamen, weil sie keine andere Alternative hatten – so zum Beispiel viele ehemalige Häftlinge, aus der Armee entlassene Soldaten oder ungelernte Arbeiter – oder wegen der vergleichsweise guten Bezahlung. Klavdia Fomina, in der Sowjetunion Komiteeinstruktorin, war die erste Frau auf der Bohrinsel, inzwischen ist sie die älteste Arbeiterin der Stadt. Im Interview mit Marc Wolfensberger, der als Regisseur des Dokumentarfilms „La cité du pétrole“ als bisher einziger Ausländer länger in der Stadt filmen und die Bewohner befragen durfte, erzählt sie von den Schwierigkeiten, selbst eingeschworene Partei­kader für das Leben in Neft Dashlari zu gewinnen: „Als die Erdölstadt gebaut wurde, rief der Parteisekretär einen Mann nach dem anderen zu sich. Er sagte: ‚Sie werden in die Erdölstadt versetzt. Das ist ein Befehl.‘ Der erste Kollege sagte: ‚Bring mich um, aber dort geh ich nicht hin.‘ Ein anderer ist in Tränen ausgebrochen: ‚Ich gehe nicht aufs Meer arbeiten, niemals!‘“ Klavdia Fomina musste die Familie ihres Vaters ernähren und ging, wohin die Partei sie schickte – und blieb für 60 Jahre. Wer wie sie geblieben ist, hat sich an das ungewöhnliche Leben gewöhnt, die Stadt liebgewonnen und als Heimat akzeptiert. Viele wollen hier bis zur Rente weiterarbeiten oder sogar, wie Klavdia Fomina, ihren Lebensabend in Neft Dash­lari verbringen und hier auch begraben werden (was allerdings nicht möglich ist, da die Stadt der staatlichen Ölgesellschaft SOCAR gehört – die auf dem Gelände nur aktive Arbeiter duldet, die jünger als 80 sind – und außerdem keinen Friedhof besitzt).
Doch der Geist der „strahlenden Stadt“, der den Sowjets so wichtig war, ist verschwunden. Man findet ihn nur noch in alten sowjetischen Propagandafilmen, wo das Wohlergehen der Arbeiter am meisten zu zählen schien. Sie verkündeten: „Die erste Devise hier heißt: Nach einem anstrengenden Tag sollen die Arbeiter sich richtig ausruhen können.“ Tatsächlich war ein attraktives Freizeitangebot schon deshalb unerlässlich, um die Bewohner langfristig zu binden, welche die meiste Zeit des Jahres hier lebten, unterbrochen nur alle fünf Wochen von kurzen Landgängen. Damals dauerte die Reise nach Baku per Schiff fast 12 Stunden, so dass manche Bewohner diese nur einige Male im Jahr antraten. Also wurde für alles gesorgt: Institutionen wie das Bolschoi-Theater hielten Gastspiele in der Erdölstadt, ein Kulturbeauftragter betreute ein Orchester aus Ölarbeitern, das regelmäßig Konzerte gab, und noch 2001 erschien alle zwei Wochen eine Inselzeitung. Alexandra Sokolova, die vor 20 Jahren auf die Inselstadt kam, da sie trotz guter Ausbildung keine lukrative Arbeit in Baku fand und nun auf Neft Dashlari den Gaskollektor bedient, zählt die Annehmlichkeiten auf: „Hier ist das Klima hervorragend, fast tropisch. Wir haben Blumen gepflanzt – damit es hier schöner aussieht –, und sie wachsen wie am Ufer. Die Luft ist rein, es ist ruhig, und es gibt keinen Verkehr. Man braucht sich um nichts zu sorgen. Du musst nur deine Arbeit gut machen, der Rest wird für dich erledigt. Es gibt alles hier, was man braucht: eine Bibliothek, eine Kantine, eine Bäckerei, eine Wäscherei. Auch einen Kulturverein und ein eigenes Fernsehen. Man braucht nur zu sagen, was fehlt, und sie bringen es.“ Nur vier Dinge sind verboten: Kinder, Angeln, Baden und Alkohol.
Heute verbringen die meisten Arbeiter nur zehn Tage in der Erdölstadt, dann zehn Tage an Land. Die geschlossene Gemein­schaft von einst und das Heimatgefühl sind aufgebrochen, der Zusammenhalt gesunken. Ausgelassene Feiern, wie sie früher an den Wochenenden stattfanden, sind durch das nun streng überwachte Alkoholverbot unterbunden, auch die Konzerte des heimischen Orchesters finden nur noch selten statt. Die Rolle des Staates ist viel geringer geworden, der Kapitalismus hat Einzug erhalten. Im Gegensatz zur Versorgung aus der Gemeinschaftsküche kostet das Essen in der Kantine umgerechnet 1,50 Euro – zu viel für die Arbeiter, obwohl sie mit rund 400 Euro doppelt so viel wie auf dem Festland verdienen. Daher wird die Kantine nun eher gemieden, gekocht wird auf den kleinen Mehrbettzimmern oder im Gang. Auch Freizeitangebote wie das Fußballfeld oder die Bibliothek verfallen und werden kaum mehr genutzt. Aus Angst vor Extremismus oder Drogenschmuggel wird die Stadt streng überwacht, inzwischen ist einer von zwanzig Ölarbeitern ein Polizist.
Nicht nur der Enthusiasmus der Bewohner, auch der Zustand der Anlagen hat stark gelitten. Durch einen bis heute ungeklärten Anstieg des Kaspischen Meers um 1,80 Meter war vor zehn Jahren der gesamte Park überflutet, die Gebäude standen bis zum ersten Stock unter Wasser. Die Bewohner bewegten sich auf selbstgebauten Holzbrücken von einem Gebäude zum anderen. Damals war der Ölpreis mit ungefähr 15 Dollar pro Barrel extrem niedrig, und es wäre rentabler gewesen, die Anlage aufzugeben. Doch die staatlichen Stellen sind träge, und so lief in Neft Dashlari alles weiter seinen gewohnten Gang – und verfiel Stück für Stück.
Auch wenn das Wasser inzwischen wieder auf seinen ursprünglichen Stand gesunken ist, befindet sich die Infrastruktur in keinem guten Zustand. Viele der stählernen Bohrtürme, die für eine maximale Laufzeit von 25 Jahren ausgelegt waren, sind seit 60 Jahren nicht ausgewechselt worden. Ein Großteil der Verbindungsstege zwischen den Plattformen und dem Zentrum wurde von Unwettern und heftigen Winden zerstört, ersetzt wurden sie nie. Von den ursprünglichen 300 km Steg sind noch 45 km befahrbar, und dies auch nur im Schneckentempo, für drei Kilometer Weg ist der Bus nicht selten eine halbe Stunde unterwegs. Von den einst 5000 Arbeitern sind nur etwa 2500 übrig geblieben, ein Drittel von ihnen kann nicht mehr im Zentrum schlafen, da ihre Plattformen viel zu weit entfernt sind, als dass sie – ohne die Verbindungsstege – innerhalb eines Tages bequem erreichbar wären. Also müssen die Arbeiter unter extremen Bedingungen auf ihren Förderplattformen schlafen, wo ihnen nicht mehr Platz als in einer Kajüte zur Verfügung steht.
Noch heute ist die Erdölstadt eine verbotene Zone, der Zutritt wird von der Nationalen Marine strikt überwacht. Aserbaidschan, das die Anlage 1991 von der Sowjetunion geerbt hat, spricht nicht darüber, wie viel Erdöl wirklich gefördert wird und wie viel in zahlreichen Lecks versickert. Dieses Bild passt so gar nicht zu dem Image eines modernen Landes, das es auf der internationalen Bühne vorführen möchte.
Eine ungewisse Zukunft
Die Erdölstadt ist nicht nur die erste Offshore-Plattform der Welt ohne Verbindung mit dem Festland, sie ist auch die größte, die je auf einem Meer erbaut wurde. Ein Ort, der zu dem Riesen Sowjetunion passte, und der ihn – bisher – überlebt hat. Die Umstellung auf die freie Marktwirtschaft war jedoch ein Schock für diese sozialistisch organisierte Welt. Die Förderung eines einzigen Barrels kostet hier 35 Dollar, in den Golfländern weniger als fünf Dollar. Die Ölförderung auf den ca. 200 Plattformen beträgt mit 18.000 Barrels pro Tag gerade mal ein Zwölftel von der zu Sowjetzeiten, moderne Ölplattfor­men internationaler Firmen im Kaspischen Meer produzieren pro Tag drei bis viermal so viel, und das mit einer einzigen Plattform. Der Anteil der Ölproduktion von Neft Dashlari liegt heute nur noch bei ein bis zwei Prozent der Gesamtfördermenge von Aserbaidschan, ein Ende ist absehbar.
So ist man einerseits auf der Suche nach ausländischen Investoren, die in die Anlage oder ihren Rückbau investieren, andererseits bestehen jedoch Bedenken, die geschlossene Gesellschaft für Ausländer zu öffnen, auch wegen der erheblichen Umweltschäden, die hier weitab von der internationalen Aufmerksamkeit tagtäglich erzeugt werden. Eine US-amerikani­sche Firma hat vor Jahren eine neue Gas-Kompressionsanlage ca. drei Kilometer vom Zentrum entfernt gebaut (hier wurden Szenen des James-Bond-Films „The world is not enough“ gedreht). Die zwei amerikanischen Mitarbeiter, die dort stationiert sind, dürfen aber das Stadtzentrum im Gegensatz zu ih­ren ortsansässigen Kollegen nicht betreten. Einige japanische Firmen haben angesichts der hohen Stahlpreise großes Interesse an den Massen von Stahl, die seit dem Zusammenbruch der Stege im Meer liegen, und würden diese gratis entfernen. Obwohl die Stahl-Stümpfe ein erhebliches Problem für die Beschiffung der Gegend darstellen, geht das Projekt nur schleppend voran, auf erste Zusagen folgten Zweifel und Versuche der staatlichen Ölfirma, die Stahlreste mit Dynamit aus ihren Verankerungen zu sprengen, was nach kurzer Zeit wiederum vom Umweltministerium unterbunden wurde.
Doch der Ort und seine Besitzer sind nicht bereit, sang- und klanglos abzutreten. Der rasante Anstieg des Rohölpreises im Jahr 2005 hat genügend Petrodollars in die Staatskassen gespült, um Neft Dashlari eine Verschnaufpause zu verschaffen. Das 60. Jubiläum im Jahr 2009 wurde zum Anlass genommen, um mit einer groß angelegten Renovierungsaktion an alte Zeiten anzuknüpfen. Die Erdölstadt sollte nun „die schönste Erdölförderungsanlage der Welt“ werden, wie der Bauleiter stolz zu Protokoll gab. Die zum Teil vorher kaum mehr bewohnbaren Zimmer wurden renoviert und mit Bädern versehen, das vollkommen zerstörte Fußballfeld wiederhergestellt. Die alte Idee der Gewächshäuser für Orangen- und Mango­anbau soll wiederbelebt werden, im Park entsteht eine Teestube, ein Schwimmbad ist in Planung. Anfang 2009 wurde sogar eine Moschee gebaut – die allerdings nach zwei Monaten aus Angst vor Extremismus wieder abgerissen wurde.
Keiner der Bewohner kann sich vorstellen, dass dieses Leben zwischen Erde und Meer jemals aufhören wird. Und doch hat sich die Zukunft der Erdölstadt schon wieder verdunkelt. Der Rohölpreis ist gesunken, die Ertragsfähigkeit der Anlage ist gefährdet. Was tun? Warten, bis die Preise wieder steigen? Die Anlage mit Hilfe von Millionen von Dollar abbauen? Sie in einen Hotelkomplex verwandeln? Die einen träumen vom Tourismusziel „Oil Rocks“, andere haben eine „Backstage Oil City“ im Kopf, die als eine Art „Ölsanatorium“ für Arbeiter anderer Plattformen zur Verfügung steht. Marc Wolfensberger kann sich das gut vorstellen. Er erzählt: „Ich fühlte mich ein bisschen wie in Südfrankreich. Das Meer ist lange nicht mehr so schmutzig wie früher, und wenn der Wind weht, riecht man das Öl kaum mehr. Es ist ein schöner Ort. Man hat den Eindruck, man sei am Ende der Welt.“
Für jede Nachnutzung müsste das ganze Gebiet jedoch ausführlich gereinigt werden, die alten Öl-Lecks verschlossen, die Bohrtürme und Stege abgebaut werden. Dies könnte extrem kostspielig werden. Eine andere Variante steht darum unausgesprochen im Raum: Sollte man die Stadt einfach verlassen und damit einen ökologischen Albtraum auslösen? Die Zukunft bleibt ungewiss. Eine Sache aber ist sicher: die Regierung wird sich bald entscheiden müssen. In zwanzig Jahren spätestens sind die Erdölschächte der Stadt leer.

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