Die Erfindung des modernen Israel
Projekt Israel
Text: Efrat, Zvi, Tel Aviv
Die Erfindung des modernen Israel
Projekt Israel
Text: Efrat, Zvi, Tel Aviv
Von der zionistischen Vision zum modernen Staat: Der Architekt Arieh Sharon (1900–1984) erhielt 1948 den Auftrag, einen Masterplan für den neuen Staat Israel zu erarbeiten. Der Sharon-Plan ignorierte nicht nur die damals bestehenden Konflikte, sondern schuf auch neue Probleme, die bis heute ungelöst sind.
Ein zusammengewürfeltes, übervolles Zentrum, gleichförmige und monotone Ränder, so stellt sich Israels heutige Raumstruktur dar, als eine „in der Geschichte beispiellose Form“, die zeigt, wie durch eine „Landnahme ein Staat gegründet“ worden ist. (1) Doch im Gegensatz zu der weit verbreiteten Vorstellung ist diese Raumstruktur weder dem Zufall entsprungen oder improvisiert, noch ist sie eine Notlösung oder das Resultat von Bodenkäufen. Vielmehr ist sie die Umsetzung eines flächendeckenden, kontrolliert gelenkten, höchst effizienten Architekturexperiments der modernen Zeit.
Ist das israelische Nationalprojekt auch beispiellos, so hat das Experiment doch Vorläufer: Stalins Fünf-Jahres-Plan zum Aufbau der Sowjetunion, die Infrastrukturprojekte und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des New Deal in den 1930er Jahren der USA, die territorialen Pläne der Nationalsozialisten für die besetzten polnischen Gebiete und die englischen New Towns der Nachkriegszeit. In seiner durchschlagenden Reichweite ist das israelische Planungsexperiment mehr als die Summe aller angewandten Instrumente und der besonderen Umstände. Es wurzelt in der utopischen Vorstellung der zionistischen Bewegung und in der Umsetzung des Erlösungsgedankens in die Praxis. Diese Wurzeln bedürfen einer ausführlichen Darstellung, um nachvollziehen zu können, was sich im Einzelnen im „Masterplan Israel“ versteckt, der vorgelegt wurde, kaum dass der Staat „ausgebrochen“ war.
Allein die Idee eines „Ha Miph’al Ha Zioni“ (das „zionistische Unternehmen“ oder das „zionistische Projekt“) umfasst einen hochgradig institutionalisierten und künstlichen, aktiv angestoßenen und geförderten Prozess der Landnahme und des Nation Building durch Juden im 20. Jahrhundert. Alle Versuche, den Zionismus für „normal“ zu erklären, etwa durch die Überbetonung einzelner Aspekte der Bewegung wie spontane Einwanderung, organische Besiedlung oder Landkäufe, verfehlen das Wesentliche: nämlich den artifiziellen Charakter des Zionismus, seine Argumentation in den Begriffen „Negation“, „Inversion“ und „Synthese“; seine Selbstrechtfertigung als bloß abhängiger, berichtigender, erlösender oder sogar messianischer Eingriff in Raum und Zeit. In diesem Kontext ist die „zentral gelenkte Planung“ ultimativer Ausdruck für die Verknüpfung von „Worten und Taten“: Es ist der zionistische Geist selbst, der aus dem Amalgam fiktionaler Prosa, ideologischer Manifeste oder programmatischer Protokolle ausströmt und der dem Land mit jedem neuen Schritt in den Raum und jedem Stück gebauter Architektur immer wieder aufs neue eingeschrieben wird.
Der verdächtig machende Einsatz zentralisierter Planung, nicht bloß bei der territorialen Organisation und Steuerung des sozialen Lebens, war längst kein bloßes Instrument mehr, eher schon eine Apparatur, die eine neue Gesinnung schuf und die sich in dem Bestreben manifestierte, das politische, kulturelle und ökonomische Gewicht aus den Städten auf das Land, aus dem Zentrum an die Peripherie zu verlagern. Kurz gesagt: Die zionistische Bewegung hat in ihren ersten fünfzig Jahren eine ganze Reihe von Pioniermodellen ländlicher Siedlungen entwickelt, unterstützt von einer ausgeklügelten Logistik von Produktion, Organisation und Vertrieb, aber zu keiner Zeit – weder in der Vorstellung noch in der Planung oder gar in der Realität – hat sie eine „Stadt“ gebaut. Sowohl in den literarischen Utopien wie in der alltäglichen Propaganda gilt die moderne Großstadt als größter Gegenspieler des zionistischen Konzepts der Landnahme, eine parasitäre Wucherung, die die Grundwerte der gerade wieder neu entstehenden hebräischen Kultur zu unterminieren droht.
Experiment Masterplan
Eine revolutionäre Zielsetzung, eine vollständig kontrollierte Planung und ein gut koordiniertes Vorgehen kennzeichnen die zionistische Bewegung von Anfang an. Doch mit der Gründung des souveränen Staates Israel trat eine entscheidende Wende ein. Die Beendigung des Britischen Mandats im Jahre 1947 und das darauf folgende Machtvakuum, der Krieg von 1948 und die zerstörerischen Geister, die er rief, der Austausch der Flüchtlinge während und nach dem Krieg, die Konfiszierung und Nationalisierung von über 90 Prozent des Agrarlandes, die Notverordnungen (von denen die meisten bis heute in Kraft sind) und die strikten Sparbeschlüsse, das virtuelle Monopol der Mapai, der israelischen Arbeiterpartei, am gesamten Staats- und Gewerkschaftsapparat und schließlich die moralische und materielle Unterstützung des neuen Staates durch die Weltmächte – alles zusammen schien die Legitimation für ein Projekt des Aufbaus – und der Vernichtung – zu liefern, mit einer größeren Schlagkraft als alle seine literarischen Vorläufer. (2)
Nur wenige Wochen nach der Unabhängigkeitserklärung – noch während des Krieges von 1948 –, wurde Arieh Sharon, ein Bauhaus-Schüler und einer der prominentesten Architekten der israelischen Arbeiterbewegung, mit dem Aufbau einer staatlichen Planungsbehörde beauftragt. Innerhalb nur eines Jahres legte diese einen kompletten Masterplan für Israel (unter dem Namen Sharon-Plan) vor und gab der politischen Führung jener Zeit ein wirkungsvolles Instrument an die Hand, ein ganzes Land zu gestalten und allem, was noch kommen sollte, die Richtung zu weisen.
Auf der Eröffnungssitzung des Regierungsausschusses für die Gebiets- und Zonenplanung am 6. Dezember 1948 sah Sharon nicht nur eine Chance, als Architekt buchstäblich ein ganzes Land zu planen, sondern setzte vor allem die räumlichen Vorstellungen seines Förderers David Ben-Gurion um und traf damit den Kern der zionistischen Planungsrhetorik. (3) Die dringliche nationale Aufgabe, mit der Sharon und sein Planungsteam betraut war, war die schnelle Lösung der Wohnungsfrage für die Massen der neuen jüdischen Einwanderer und die Besiedlung und Befriedung der Grenzen des Landes. Die Waffenstillstandslinien von 1948 waren zu festigen, territoriale Zugeständnisse zu verhindern und die Rückkehr palästinensischer Kriegsflüchtlinge zu unterbinden.
Die Planer erledigten ihre Aufgabe, indem sie ein landesweites Netz von Binnengrenzen aus Durchgangslagern und landwirtschaftlichen Siedlungen als Vorposten aufbauten wie auch durch eine Wiederbesiedlung verlassener arabischer Dörfer mit neuen jüdischen Einwanderern. Gleichzeitig wurde als langfristiges Ziel ein Masterplan für die „intensive und dichte Entwicklung des Landes“ entwickelt.
Entflechtung und De-Urbanisierung
Der Plan sah eine Bevölkerung von 2.650.000 Einwohnern vor (eine Zahl, die 1966 erreicht wurde). Über das ganze Land verstreut, sollten sie die „Anomalie“ oder das „koloniale Muster“ der jüdischen Gemeinschaften auf dem Lande während der britischen Mandatszeit, was sie in den Augen der Planer waren, korrigieren. Zum Zeitpunkt der Staatsgründung Israels lebten zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung in drei großen Städten, in Tel Aviv, Jerusalem und Haifa. 82 Prozent lebten in der Küstenebene. Folgt man dem Sharon-Plan, sollten nur noch 45 Prozent der städtischen Bevölkerung in den Großstädten, 55 Prozent hingegen in Klein- und Mittelstädten wohnen. Der Plan war in fünf Teilbereiche gegliedert: Landwirtschaft, Industrie, Verkehr, Forsten und Naturschutz (Parks) sowie New Towns. Eine landwirtschaftliche Besiedlung galt als entscheidender Faktor für die Entwicklung und Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit. Dementsprechend sah das Planungsziel eine Zahl von 600.000 Bauern vor, die 75 Prozent der benötigten Lebensmittel der Bevölkerung aufbringen sollten. Ein Bewässerungssystem würde Wasser aus dem Norden Israels in die Negev-Wüste und die Berge von Judäa leiten und damit eine Bewohnbarkeit des Negev möglich machen. Ein landesweites Verkehrsnetz wurde skizziert, mit einem neu angelegten Seehafen, zwei Flughäfen, Eisenbahnlinien und einem fein verästelten Straßennetz zur Erschließung der verstreuten Dörfer und kleinen Städte. Der Plan sah in fernerer Zukunft umfassende Aufforstungskampagnen ebenso vor wie die Ausweisung von Nationalparks und Naturreservaten entsprechend ihrer schützenswerten Qualitäten und ihres ökologischen Nutzens.
Automatisierte Planung
Aus der Sicht des Planers ist der Masterplan Sharons in keiner Weise innovativ oder originell, sondern ein Sammelsurium von Modellen, Theorien und Experimenten, von denen einige schon während der Britischen Mandatszeit, vor allem von Mitgliedern des „Settlement Reform Forum“ entwickelt und erprobt, andere aus Europa als Ready-mades importiert und umstandslos eingebürgert wurden, beispielsweise Walter Christallers „Theorie der Zentralen Orte“. In Wirklichkeit ist der Plan nur in einer Hinsicht einmalig, in seinem Totalitätsanspruch und in seinem Ehrgeiz, auf einen Schlag eine räumliche Ordnung zu schaffen. Ein derart ambitionierter Plan wäre bloße Anekdote geblieben, wäre er nicht wortwörtlich und nahezu vollständig, häufig durch eine Abkürzung der regulären Planungsprozesse, aber immer durch die systematische Reproduktion des Flächennutzungsschemas, der Gebäudetypologien und Bauweisen umgesetzt worden.
Ohne jemals rechtskräftig gewesen zu sein (genauer: ohne sich je Gesetzgebungsprozessen stellen zu müssen) wurde aus dem Sharon’schen Grundsatzpapier in weniger als einem Jahrzehnt ein Megaprojekt mit Dutzenden von New Towns und Hunderten von ländlichen Siedlungen. Schon bald nach seiner Veröffentlichung war Sharon und seinem Team klar geworden, dass sie die Regierung wohl mit einem allzu leichtverständlichen Handbuch versorgt hatten. Obwohl sie weiterhin dem zentralistischen Planungsmodell anhingen und der Partei gegenüber loyal blieben, bemühten sie sich um eine Verlangsamung der buchstabengetreuen Umsetzung des Plans. Aber der genetische Code, den sie einmal schwarz auf weiß veröffentlicht hatten, war bekannt, wurde bereits geklont, über das Land gestreut und konnte, selbst unter den widrigsten Umständen, seine Vitalität und Überlebensfähigkeit beweisen.
Deterritorialisierung und Dezentralisierung waren die nicht hinterfragbaren Prinzipien, die alle Züge und Verfahren des Nationalen Aufbauplans beherrschten, auch wenn sie gelegentlich mit den planerischen Grundsätzen unvereinbar waren und vollständig gegen die wirtschaftliche Logik verstießen, auch dann, wenn sich die beschworene Phrase vom „Schmelztiegel“ gegen sich selbst wandte und eine gravierende geographische und soziale Segregation zwischen der alteingesessenen Bevölkerung und den Neuankömmlingen hervorrief. Trotz des beachtlichen Propagandaaufwands der Regierung, eine Bevölkerungswanderung Richtung Peripherie in Gang zu setzen, war es der politischen Führung wie den Planern klar, dass der Sharon-Plan nicht auf freiwilliger Basis umsetzbar war. Eliezer Brutzkus, einer der Verantwortlichen des Masterplans, beschrieb im Nachhinein dessen Leistungen im Vergleich mit den sozialistischen Arbeiterstädten Stalins. (4)
Das sowjetische Modell war nicht das einzige Vorbild, von dem sich die israelischen Planer anregen ließen. Von ebenso großer Bedeutung für Sharon und seine Mannschaft waren die Wiederaufbauprogramme Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg, darunter vor allem die Satellitenstädte, die von der englischen Labour-Regierung rund um London angelegt wurden. An dieser Stelle kann man nur kurz auf das neue Paradigma hinweisen, das im israelischen Versuchslabor erschaffen wurde und das auf einer merkwürdigen Vermählung der Idee der suburbanen Gartenstädte westeuropäischer Wohlfahrtsstaaten mit jener der peripheren Industriestädte an den Rändern des bolschewistischen Großreichs beruht. Ein solches Mit- oder Nebeneinander verkörperte die beiden tief in Sharons Masterplan verwurzelten Paradoxien: Der Versuch, mit einem rationalen Mechanismus „organische“, „regionalistische“ und quasi-historische Siedlungen zu konstruieren, und die explizite Ideologie einer anti-urbanen Urbanisierung – so viel Stadt wie nötig, so wenig Urbanität wie möglich.
Das wesentliche Mittel, mit dem dieses einmalige Konstrukt umgesetzt werden sollte, war die mathematische Neuaufteilung des Landes in 24 Bezirke, die alle die etwa gleiche Anzahl von Einwohnern aufnehmen konnten. Die Bezirke unterschieden sich lediglich durch geographische Besonderheiten und waren als Kränze agrarischer Siedlungen um zentrale Dörfer geplant, die durch Regionalstädte bedient werden sollten. Größe, Ausdehnung und Anzahl galten als die verlässlichen Kriterien für das Funktionieren des gewünschten Zusammenwirkens von Zentrum und Peripherie, von Stadt und Land, von Industrie und Landwirtschaft.
Über 400 agrarische Siedlungen wurden im ersten Jahrzehnt des Staates Israel nach Maßgabe des Masterplans gegründet, und mehr oder weniger dieselbe Zahl indigener palästinensischer Dörfer wurde während und in der Folge des Krieges evakuiert, verwüstet und zerstört. Der Inbegriff des Plans aber war die Schaffung von Bezirksstädten, die berühmt-berüchtigten „Entwicklungsstädte“, deren optimale Größe zwischen 20.000 und 50.000 Einwohnern lag. Sie waren die „Ausnahme“, die Überwindung von Orientierungslosigkeit, Entfremdung und sozialer Ungerechtigkeit, also jener Eigenschaften, die mit kosmopolitischen Großstädten assoziiert wurden. Um die für die Neue Welt typischen Entwicklungskosten einer wilden Kolonisierung zu vermeiden, war der Sharon-Plan darauf angelegt, das europäische Siedlungsmuster zu kopieren und die Umsetzung innerhalb einer einzigen heroischen Dekade zu erzwingen, untermauert mit Theorie-Importen, wie eben Christallers „Theorie der Zentralen Orte“, in denen der Zusammenhang von Siedlungsmuster und Widerstandsfähigkeit in Krisenzeiten untersucht worden waren. (5)
Der paradoxe zionistische Gestus einer rückwärtsgewandten Revolution oder der Eroberung einer Alten Welt durch Pioniere zeigt sich nicht nur in den auf die Landkarte gestreuten Siedlungen, sondern auch im Versuch, die traditionelle Stadt im Massenwohnungsbau und Autoverkehr mit mechanistischen Planungsmethoden noch effizienter zu machen, also zu stärken, sie aber andererseits mit pittoresken Vorstellungen umzugestalten und zu schwächen. Die Stadt wurde in kleine, autonome Nachbarschaften zerlegt, vor dem unkontrollierbaren Straßenleben geschützt, weit abgerückt von den Industriegebieten und eingebettet in eine grüne, ländliche Umgebung.
Falsches Versprechen
Demzufolge bildete die Maßeinheit der Nachbarschaft das strukturbildende Prinzip, ein intimes Stadtquartier mit biomorphen Konturen, das das orthogonale Raster überwinden und der Retortenstadt Elastizitzät und Schwung verleihen sollte. In der Realität aber schuf diese Trennung in autonome Einheiten ein Durcheinander von blutleeren Einrichtungen, einer beschränkten Anzahl von Gebäudetypen und in sich abgeschlossenen Handels-, Bildungs- und Freizeiteinrichtungen. Die Größe dieser Einheiten war durch die Kapazität von Schule und Kindergarten, die optimale Dimensionierung der Einzelhandelszentren und durch die gewünschte Wegelänge der Einheiten festgelegt. Die biegsamen und durchlässigen Grenzen der Nachbarschaften, das Fehlen von Freiflächen innerhalb und zwischen ihnen, das Unterbringen von Bildungs- und Freizeiteinrichtungen im Herzen der Einheiten umgeben von Rasen oder Wäldchen; die räumliche Distanzierung der Industrie- von den Wohngebieten und ihre Abtrennung durch Grüngürtel, die Anlage der immer gleichen Sozialwohnungen auf öffentlichem Grund und Boden, dieses alles erweckte eine äußerst trügerische Illusion: Die neue israelische Stadt wurde für einen aufgeblähten Kibbuz gehalten, die auf einer ebenso homogenen Gemeinschaft gründet, kollektiv und egalitär, vor privatem Kapital und dem unkalkulierbaren Wirken der Marktkräfte geschützt.
Aber ganz anders als der Kibbuz, anders selbst als die früheren Genossenschaftssiedlungen in gut funktionierenden Städten, die als exklusive und hegemoniale Strukturen durch und für die Mitglieder einer gesellschaftlichen Avantgarde geschaffen wurden, stellten sich die New Towns als bar jeder Exklusivität dar. Sie waren das Resultat einer fachlichen und bürokratischen Doktrin, die aus einer Bevölkerung von ahnungslosen Newcomern Leidtragende eines nationalen Experiments machten.
Mit der Gründung der ersten New Towns wurde offensichtlich, dass das fortschreitende Zonieren und die großzügig versprochene „ökologische“ Qualität schlichtweg nicht funktionierten. Mit den losgelöst im Raum stehenden, sparsam bevölkerten Retortenstädten ging es bergab – und zwar umgekehrt pro-
portional zu den Unsummen, die aus dem Staatshaushalt für die immensen Infrastrukturkosten aufzubringen waren.
portional zu den Unsummen, die aus dem Staatshaushalt für die immensen Infrastrukturkosten aufzubringen waren.
Das Angebot an Kapital und Unternehmergeist, das für die Schaffung von Arbeitsplätzen in diesen abgelegenen Standorten nötig gewesen wäre, hielt dem Tempo nicht stand, mit dem die Einwanderer in die New Towns geschickt wurden (in Kiryat Shmona z. B. entstand die erste Fabrik eine ganze Dekade später, nachdem die Stadt schon gebaut war). Die urbane Stammbevölkerung blieb in ihren Städten wohnen und ignorierte die nationale Herausforderung. Die alte agrarische Bevölkerung der Gemeinschaftssiedlungen auf dem Lande war bereits gut vernetzt, bedurfte der Dienste der New Towns nicht und durchkreuzte so die Vorstellungen der Planer davon, wie eine Region funktionieren sollte.
Die ungeheuren Flächen, die auf dem Papier mit grüner Wasserfarbe ausgemalt worden waren, waren dem Klima, den verfügbaren Wasserressourcen und der technischen Infrastruktur auf dem Lande vollkommen unangemessen, blieben tote Zonen, die über Jahrzehnte die städtischen Strukturen gefährdeten. Die autonomen, nach innen gerichteten Einheiten hemmten die Entwicklung öffentlichen Lebens. Die „Entfremdung und Degeneration“ der Großstädte, wie sie regelmäßig in der staatlichen Propaganda angeprangert wurde, war in null Komma nichts durch Homogenität, Abgelegenheit und Mangel ersetzt worden.
Von den New Towns zu den Settlements
Heute, sechzig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung, schmort der Sharon’sche Masterplan im eigenen Saft. Die Vision von Kolonisierung und Modernisierung, die der Plan umsetzen sollte, wurde zum größten Teil implementiert. Die New Towns – von den unterschiedlichen Regierungen zu „Zonen nationaler Priorität“ erklärt – zeigen sich heute mehr oder weniger noch so, wie sie einmal geplant waren: Sie sind öde Gartenstädte, lethargische Arbeiterstädte, links liegen gelassene regionale Zentren, die ewig gleichen Schmelztiegel, ein unterentwickelter Krimskrams von Stadt, der darum kämpft, seinen besonderen Steuersparstatus zu behalten.
Die Bewohner dieser New Towns, die in den fünfziger Jahren bei der Verwirklichung des „Bynian Ha’aretz“ (Aufbau des Landes) noch eine historische Rolle spielten, wurden zu Trägern der sozialen Unruhen und der politischen Wende der Siebziger, die den konservativen Likud an die Macht brachten und den ersten Verlust der Hegemonie der Arbeiterpartei bedeutete. Die Bürger des „zweiten Israel“, wie die New Towner genannt wurden, waren jetzt in der Lage, gegen das bevormundende Projekt der Linken aufzubegehren und Vergeltung zu fordern für ihre „Einsperrung“ in diesen Wohnungsprojekten und für die Verhinderung des Erwerbs von Wohneigentum.
Die eigentliche Methode der Verbreitung von New Towns wurde durch die nachfolgenden rechtsgerichteten Regierungen nicht aufgegeben. Ganz im Gegenteil, sie wurde radikalisiert und für die Durchsetzung ihrer politischen Agenda und ihres territorialen Ehrgeizes benutzt. Ihrer sozialistischen Rhetorik vom Schmelztiegel entkleidet, kehrte sie ihren Ursprüngen in der Reformbewegung der Gartenstädte den Rücken. Getrennt von den Vorstellungen eines Gleichgewichts zwischen Stadt und Land, erschienen die New Towns der Rechten nur noch als bloßes Instrument, um politische „Fakten auf Grund und Boden“ zu schaffen und die dauerhafte und irreversible zivile Besetzung des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens durchzusetzen.
Die äußere Gestalt der israelischen New Towns hat sich den Wendungen der politischen Vorlieben und den jeweiligen Konsumtrends angepasst – aber ihr Wesen als ein ewig offener Prozess der Stadtwerdung ist dabei im Kern immer am Leben geblieben. Unnötig zu betonen, dass dieser offene Prozess eine Entropie des beschleunigten Verfalls ist, seit die New Towns zu einem schnellen Altern verurteilt waren, saft- und kraftlos, in Teilen ganz aufgegeben, angesichts immer noch neuerer Städte mit noch verlockenderen Steuervergünstigungen, noch schöneren Sonnenuntergängen und noch üppigeren Infrastrukturangeboten.
Übersetzung aus dem Englischen: Michael Goj
1 „Von vornherein wird alles auf eine planvolle Art festgestellt sein. An der Ausarbeitung dieses Planes, den ich nur anzudeuten vermag, werden sich unsere scharfsinnigsten Köpfe betheiligen. Alle socialwissenschaftlichen und technischen Errungenschaften der Zeit, in der wir leben, und der immer höheren Zeit, in welche die langwierige Ausführung des Planes fallen wird, sind für den Zweck zu verwenden. Alle glücklichen Erfindungen, die schon da sind und die noch kommen werden, sind zu benützen. So kann es eine in der Geschichte beispiellose Form der Landnahme und Staatgründung wer- den, mit bisher nicht dagewesenen Chancen des Gelingens.“ Theodor Herzl, Der Judenstaat, 1896
2 „Die große Revolution ist noch nicht zu Ende und mit ihrer wesentlichen Bestimmung wurde kaum erst begonnen. In der nächsten Zeit müssen wir die Grundlagen für die kommenden Jahrzehnte, möglicherweise Jahrhunderte schaffen. Wir müs-sen dem Staat Israel eine Gestalt geben und ihn in die Lage versetzen, seine historische Mission zu erfüllen.“ David Ben-Gurion, Die Kriegstagebücher, Januar 1949
3 „Schon viele Jahre haben wir auf dem Feld der räumlichen Planung eine zentrale und nationale Planung vermisst. (...) Man sagt, dass auch verschiedene reiche Länder über lange Zeit ohne jede zentralistische Planungsbehörde existieren konnten. Dem wäre entgegenzuhalten, dass sich diese Nationen Experimente und eine fehlende Planung vielleicht auch eher leisten können. Zugleich muss man auch auf die unheilbaren und chronischen Krankheiten in den Großstädten eben dieser Länder hinweisen. (...) Die neuen Besitzverhältnisse auf dem Land ermöglichen eine Ordnung oder Neugliederung des Raumes und stellen das materielle und geistige Wohlergehen der Bevölkerung durch eine zentrale Planung sicher. Die ‚Alte Welt‘ ist bereits degeneriert, anfällig und gebiert wahre Monster an Städten. Bei uns aber gibt es jetzt die Chance auf einen Neubeginn, der auf einer tabula rasa basiert. Hier gibt es im Gegensatz zu dort nicht genügend Raum und auch keinen Spielraum für unkontrollierte Entwicklungen, hier ist kein Platz für Degeneration.“ Arieh Sharon, 1951
4 „Um die Wahrheit zu sagen, im Ergebnis wollten wir so etwas auch hier haben. Gegen den Willen der angesiedelten Menschen – namentlich der Einwanderer –, nach einer Methode zu verfahren, deren Maxime heißt: ‚Vom Schiff direkt in die Entwicklungsregionen‘.“ Eliezer Brutzkus, 1964
5 Der deutsche Geograph Walter Christaller (1893–1969) entwickelte in den 30er Jahren die Theorie der Zentralen Orte, ein hierarchisches System der Raumplanung, bei dem Oberzentren ringförmig von Mittelzentren umgeben sind, denen ihrerseits Unterzentren zugeordnet werden. 1940–45 war
er Mitarbeiter im „Reichskommissariat für die Festigung deutschen Volkstums“ und an der Siedlungsplanung im besetzten Polen beteiligt. Christallers Modell wurde nach dem Krieg zur Grundlage der Raumplanung in der BRD.
er Mitarbeiter im „Reichskommissariat für die Festigung deutschen Volkstums“ und an der Siedlungsplanung im besetzten Polen beteiligt. Christallers Modell wurde nach dem Krieg zur Grundlage der Raumplanung in der BRD.
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