Die Landschaft – Annäherung an ein zerrissenes Geflecht
Zukunftsraum Land
Text: Klauser, Wilhelm, Berlin
Die Landschaft – Annäherung an ein zerrissenes Geflecht
Zukunftsraum Land
Text: Klauser, Wilhelm, Berlin
Land, das ist heute vor allem ein ökonomisches Konstrukt, in dem sich technologische Entwicklungen genauso abbilden wie gesellschaftliche Veränderungen. Während die Ackerflächen ins Enorme wachsen, zerfallen vertraute Lebensweisen und familiäre Wirtschaftsformen. Diesem zerrissenen Geflecht begegnet die Raumordnung immer noch mit einem hierarchischen Konzept aus „zentralen Orten“ – eine Strategie, die die Versorgung auf homogen verteilte Zentren konzentriert. Das ist angesichts der neuen Lebenswirklichkeit nicht länger haltbar.
Es ist schwer, den „Acker“ als Ort der Geschichte zu akzeptieren. Es ist schwer, sich vorzustellen, dass er Lebensverhältnisse gestaltet und Räume formt. Das erklärt die allgemeine Missachtung, die dem Land entgegengebracht wird. Von den großen Plätzen und Gebäuden, von den urbanen Kulturen, die das Denken der Planer leiten und in denen sich Geschichte materialisiert, ist der Acker weit entfernt! Nicht einmal die grüne Bewegung der vergangenen 30 Jahre hat den Blick aus der Landschaft heraus auf eben diese Landschaft gerichtet. Ihre Argumentation reflektiert den Acker aus der Sicht des Städters -– und wirkt damit immer irgendwie sentimental.
Konkurrenz fürs Urbane
Der Paradigmenwechsel, der nun stattfindet, wenn der Bau von Energiespeichern, Off-Shore-Kraftwerken oder neuen Stromnetzen notwendig wird, wenn von Ressourceneffizienz die Rede ist oder Saatgutrichtlinien, wenn „Greening“ und Lebensmittelsicherheit diskutiert werden, ist bemerkenswert. Geschichtswürdig maximal als ein Schlachtfeld, war der ländliche Raum bisher eher heimeliger Mythos, den Zeitschriften wie „LandLust“ lukrativ inszenieren. Plötzlich bekommt der Acker aber einen anderen Stellenwert: Er wird wahrgenommen als ein Raum ganz pragmatischer Wertschöpfung, und damit als Konkurrenz fürs Urbane. Energiewende und Präszisionslandwirtschaft verändern die Einschätzung der Fläche, sie wird neu interpretiert. Die Fachkongresse jagen sich, und die Verhandlungen in der EU-Kommission über eine Neuordnung der Agrarpolitik sind unerbittlich. Das Thema ist brisant: Die Fläche rückt vor dem Hintergrund der Ökonomie in eine neue Position.
Wer sorgfältig zurückschaut, erkennt allerdings, dass gar kein Paradigmenwechsel stattfindet: Jede historische Schlacht auf dem Acker ging meist nicht um die große Stadt, sondern um das Territorium! Bewirtschaftetes Land stellte die Grundlage jeden Reichtums dar und war daher ebenso verteidigungswert wie die bewirtschaftenden Bauern. (In dieser Dualität findet sich ein Automatismus, der – wollte man spitzfindig sein – noch immer aktiv ist: Wie anders lässt sich das enorme Budget erklären, das der EU-Haushalt für Erhalt, Pflege und Förderung der Flächen ausweist?) Dass Bauern dann leicht zur anthropologischen Konstante werden und „der Acker zur kulturellen Selbstverständlichkeit“1, ist ein Risiko, das man lange nicht erkannt hat. Denn damit wird diese Umgebung theoretisch jeglicher Innovationsfähigkeit enthoben. Das Bild vom Land ist stabil, es muss sich gar nicht verändern: Landlust, Dorfleben, Misthaufen. Ehe man sich versieht, haftet dem ländlichen Raum dann der Nimbus des Rückständigen an. Allenfalls die „Bauernschläue“ will man ihm zugestehen, aber garantiert keine Innovationskraft. Es bleibt die Inszenierung: Die Vielfalt der europäischen Agrarlandschaft ist als selbstverständliches und nicht zu hinterfragendes Asset gesetzt. Weinberg und Wald, Feld oder Brachland sind eins: Die Landschaft ist Natur – und damit gottgegeben.
Dabei ist die Landschaft heute vor allem ein ökonomisches Konstrukt. Dass sie sich weiterentwickelt und dass sich in ihr technologische Entwicklungen genauso abbilden werden wie gesellschaftliche Veränderungen, ist klar. Deshalb lohnt die Auseinandersetzung mit der Fläche. Was sagt die moderne, ökonomisch optimierte Ackerfläche aus über die Ortslagen der Zukunft, die in sie eingestreut sein werden? Wie werden sie sich entwickeln? Lassen sich womöglich aus der Betrachtung der Fläche Ansätze für einen anderen Umgang mit der dörflichen Struktur herauskristallisieren?
Wachsen, wachsen, wachsen
Die Felder werden immer größer. Das ist statistisch nachweisbar. Was in Deutschland historisch einfach durch die 1989 beendete Teilung erklärbar wäre, irritiert beim zweiten Hinsehen: Die Flächen wachsen auch nach der Vereinigung. Der beschriebene Dimensionssprung wird fassbar nicht nur im Rückgang der Vollerwerbslandwirte oder in der Zahl der Beschäftigten, sondern auch in der Börsennotierung der Zugmaschinen- und Saatgut-Hersteller. Ihre Werte steigen. Die neue Dimension zeigt sich in den Produktivitätssprüngen der Agrarindustrie und in enormen Ernteerträgen. Der ländliche Raum ist, wenn der Blick auf die Flächenerträge fällt, keine Region der Schrumpfung und Stagnation. Die Preise für Ackerland steigen. Die Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH verkaufte im vorigen Jahr ostdeutsches Acker- und Grünland zum Verkehrswert von durchschnittlich 13.761 Euro pro Hektar. Das waren 9 Prozent mehr als im Vorjahr. 2011 hatten sich die Flächen bereits um 21 Prozent verteuert.
Baulich übersetzt sich die Tendenz zur Größe in enorme Lager oder Stallungsbauten. Sie reflektiert sich in verkürzter Bauzeit, Vorfabrikation, in Standorten an guten Straßenverbindungen oder in südgeneigten Dachflächen zur Aufnahme von PV-Anlagen. Oder noch einfacher: Sie zeigt sich in einem radikalen Bruch mit den bislang strukturgebenden familiären Wirtschaftsformen, im Bruch mit den korrespondierenden Landschaftsformen und in der Auflösung der vertrauten Lebensweisen. Es führt kein Weg daran vorbei: Das alte Dorf funktioniert unter den gegebenen Umständen nicht mehr. Was sagen dem Laien schon Flächengrößen der Höfe oder Ernteerträge? Was bedeutet ihm Leerstand? Die Anzahl der in der Landwirtschaft beschäftigten Personen geht seit Jahren kontinuierlich zurück. Die Höfe in den Dörfern werden als Produktionsstandorte schlicht nicht mehr gebraucht; die Einfamilienhaussiedlungen auf dem Land werden von Angestellten bevölkert, die in mittelständischen Industrien, in Volks- und Raiffeisenbanken, in Verwaltungen, in Pflegediensten oder in Energiekonzernen arbeiten. Das agrarurbane Leben auf dem Land unterscheidet sich nur graduell vom Alltag am Stadtrand – urbanisierte Land-Wirtschaft.
Die Überraschungen, die solch eine Landschaft in ästhetischer Hinsicht bereithält, wurden schon vor 90 Jahren entdeckt, als die Großsilos der amerikanischen Prärie als formale Inspiration dienten oder der industrielle Ackerbau zur Grundlage einer neuen Siedlungspolitik stilisiert wurde – sei es als Broadacre City, Bandstadt oder Agronica. In allen Fällen lässt sich dahinter weniger die Idee eines ganzheitlichen, womöglich alternativen ruralen Lebensstils erkennen, sondern der Einfluss, den die Arbeitsteilung hatte. Es ist wichtig, die Modernität der Fläche zu verstehen, wenn man sich dem Landbau im Jahr 2013 annähert: Die Warnlichter der Windräder schweben über den Autobahnen, die Traktoren werden von GPS-Systemen gesteuert. Da ist mehr als ein Bauer.
Wer sich durch die Gründungsdaten der großen Nahrungsmittelkonzerne und ihre geografische Aufstellung hindurcharbeitet, stellt fest, dass ihr Entstehen unauflöslich mit dem Wachstum der Großstädte verbunden ist. Da sind aber nicht nur Kelloggs, Mars oder Nestlé. Da gibt es eine vielschichtige Industrie, die über Jahrzehnte hinweg ihre Beschaffungsmechanismen optimiert hat. Ausgerichtet an den Produktionsorten, an verfügbaren Transportmitteln, an Verpackungsformaten und technischen Entwicklungen, zielte sie schon sehr früh auf eine Klientel in der Stadt. Ölmühlen platzierten sich an den Kanälen, da das getrocknete Schüttgut am besten per Lastkahn ins Ruhrgebiet transportiert wurde. Zuckerraffinerien entstanden im Zentrum der Rübenfelder, um die Zulieferwege der Ernte zu minimieren. Das alles hatte zunächst noch eine inhärente Logik, die sich bei der Betrachtung der wirtschaftsgeografischen Zusammenhänge erschließt. Effizienzsteigerung und Reduzierung der Transportkosten führten später allerdings zu einer Konzentration auf immer weniger Standorte der Veredelungsbetriebe. Existierende Strukturen wurden dabei nicht zuletzt durch Förderung ausgehebelt. Die nachvollziehbare Logik der organisatorischen Zusammenspiele wurde durch eine Vielfalt nicht abgestimmter Subventionsmechanismen verzerrt, denn der Standortwettbewerb ist erbarmungslos. Selbst Molkereien, die, bedingt durch sensible Transportverläufe, lange Zeit unmittelbar in den lokalen Produktionszusammenhängen angesiedelt waren, konnten sich diesem Druck nicht entziehen. Großmolkereien zur Herstellung von Bio-Produkten rücken jetzt auf die Abnehmer zu, nehmen in Kauf, dass die Anfahrtszeiten und Einzugsradien für die empfindlichen Rohstoffe sich vervielfachen. Milch aus Tschechien erreicht Berlin.
Entmündigung der regionalen Räume
Zu allem Überfluss führt die enorme Konzentration, die in den letzten 10 Jahren in Deutschland gerade im Lebensmitteleinzelhandel stattgefunden hat, zu einer weiteren Verzerrung des Marktes. Während 1999 noch acht große Handelsunternehmen 70 Prozent des Marktes unter sich aufteilten, bringen es 2011 die vier größten Unternehmen auf einen Marktanteil von 85 Prozent. Das sichert ihnen eine bedenkliche Einkaufsmacht. Die Hersteller sitzen da schnell am kürzeren Hebel, und ihre Margen schwinden. Regionalen Produzenten mit überschaubaren Mengen bleibt der Zugang zu den Märkten leicht ganz versperrt, und der Druck, besser und schneller und mehr zu produzieren, wächst. Seit 2011 überprüft das Bundeskartellamt, ob durch die Konzentration unzulässige Marktverzerrungen zu Lasten der Hersteller stattfinden – letztendlich also zu Lasten der Bauern oder, schärfer noch, zu Lasten jener Kulturlandschaft, die zumindest als Ideal noch besteht.
Klar ist, dass durch die Konzentrationsprozesse den regionalen Zusammenhängen Wertschöpfung entzogen wird. Damit werden der Region und ihren Akteuren aber auch Mitsprache- und Partizipationsanreize entzogen, auf die eine Stärkung der viel beschworenen „endogenen Potenziale“ im ländlichen Raum, der eigenen, regionalen Entwicklungsmöglichkeiten also, aufsatteln könnte. Regionale Kräfte müssen sich in dergestalt entmündigten Räumen deshalb zwangsläufig auf die Verwertung des verbliebenen „Immobilen“ stützen: Die Landschaften werden beispielsweise touristisch aufgewertet. Man schminkt die Braut mit Klettergärten, Fahrradtouren, Gesundheitsangeboten und schönen Dörfern. Was an der Ostsee, im Allgäu oder am Bodensee noch funktionieren mag, stößt in der Uckermark, im Solling oder in der Lommatzschen Pflege mangels entsprechender Exponate klar an seine Grenzen. Was im Sommer funktioniert, ist unter den gegebenen klimatischen Verhältnissen außerdem zwischen November und April meist nicht nachgefragt, Tourismus ist Saisongeschäft. Der Verlust an räumlicher Orientierung und Bindung im Kontext hochtouriger räumlicher Mobilität und angesichts der Auflösung überkommener Siedlungsstrukturen ist offensichtlich. Ein Verweis zur Stadtentwicklung – Stichwort soziale Segregation, Kriminalität und Isolation – liegt nahe. Dass identische Prozesse auf dem Land stattfinden, womöglich unter anderen Kernbegriffen subsumiert, wird übersehen. Wer identifiziert sich noch mit diesem Raum? „Es funktioniert ganz gut“, sagt der junge Bankangestellte. „Ich mache abends eine Weinflasche auf und trinke ein Glas, während ich mit meinen Freunden in der Stadt über Skype kommuniziere.“
Entwicklungskonzepte in der Krise
Die Bibel nennt die Sache beim Namen: Der erste Mord, der von Kain an Abel, fand auf offenem Feld statt. Da ist die Schrift weitaus realistischer als die Vorstellung vom friedlichen Ackerbauern mit W-LAN-Anschluss und Biokiste und Marktstand: Der Übergang von der nomadischen zur sesshaften Lebensweise generierte Verteilkämpfe, und die sind nicht beendet. Der Acker ist nicht nur der Ort der Kooperation, die sich in charakteristischen Gebäude- und Siedlungsformen niederschlägt, die sich in Familienstrukturen und Clans, ja selbst in Namen wiederfindet, die einst das Funktionieren dieser agrarkulturellen Strukturen absicherten: Müller, Meier, Jäger... Der Acker ist auch Ort der Konfrontation und des Streits. Insofern ist eine Annäherung an die Landschaft in jedem Fall auch eine Annäherung an ein zerrissenes Geflecht, an divergierende Interessen und radikale Positionen, die sich abbilden in dysfunktionalen Ortsbildern, unverständlichen Straßenbauwerken und me-too-Gewerbegebieten, die wohl ewig auf Ansiedlungen warten werden. Dorferneuerung und Dorfumbau, gezielter Abriss – die ganze Werkzeugkiste der Umbauer und Schrumpfer kommt in diesen Räumen zum Einsatz und wirkt seltsam deplaziert, weil sie Wirkzusammenhänge nicht anerkennt, die aus der Fläche kommen. Raumordnungspolitisch aufgesetzt wird nämlich bei der Betrachtung der Ortslagen auf eine Theorie, deren Unzulänglichkeit bekannt ist, die aber trotzdem als argumentative Leitplanke herhalten muss.
Mit dem System der „Zentralen Orte“ leitete Walter Christaller 1933 ein ideales Zusammenspiel von Siedlungen und Wirtschaft aus empirischen Phänomenen ab (Dass er zum Nachweis seiner Überlegungen damals die an den Standorten verfügbaren Telefonanschlüsse zählte, erscheint im Rückblick unglaublich!). Durch ein hierarchisches System zentraler Orte sollte die Versorgung der Bevölkerung und der Wirtschaft mit privaten Dienstleistungen und Arbeitsplätzen und einem komplexen Bündel öffentlicher Leistungen der Daseinsvorsorge wie Schulen, Krankenhäusern, Kultureinrichtungen, öffentlichem Nahverkehr, Ver- und Entsorgungsinfrastrukturen zu angemessenen Erreichbarkeitsbedingungen gewährleistet werden. Über ihre Versorgungsfunktion hinaus sollten „Zentrale Orte“ gleichzeitig als Träger von Entwicklungsfunktionen fungieren und zu einer räumlich konzentrierten wirtschaftlichen Entwicklung beitragen. Die Theorie ging dabei von einer absoluten Homogenität und Ökonomie aus und legte, fast mechanistisch, Raumbezüge fest, die in der Realität nicht haltbar sind, schon gar nicht, wenn Kommunikationstechnologien, globale Märkte oder dezentrale Produktionen mittlerweile eine andere Lebenswirklichkeit schaffen.
Mit der Überführung der Theorie in ein Konzept, die zwischen 1963 und 1975 erfolgte, wurde der abstrakte Charakter der Idee von Christaller zum Werkzeug der Raumplanung, das später auch auf Ostdeutschland übertragen wurde. In wirtschaftsgeografischer Terminologie allerdings waren „Zentrale Orte“ bereits 1999 am Ende. Raumplaner „klammern sich offensichtlich an die Idee der zentralen Orte, weil sie in diesem Instrument eine eigenständige Kompetenz begründen wollen“2. Fakt ist, dass die Mechanismen der zentralen Orte vor dem Hintergrund neuerer handlungs- und akteursorientierter Konzepte der Raumentwicklung bereits damals zum Anachronismus wurden. Sie gerieten mit der Diskussion um „endogene Potenziale“, d.h. aus einer Region selbst heraus getragener Regionalentwicklung von unten, in die Defensive. Die treibenden Kräfte einer Region saßen häufig eben nicht in den zentralen Orten, sondern ganz woanders: Abseits der Grund- und Mittelzentren kam nämlich längst ein Potpourri an Fördertöpfen zum Tragen, das im Wesentlichen die einzelnen Akteure in der Fläche stützt – Bauern, Energiewirte, Agrargenossenschaften, Kleinunternehmer. Es ist klar, dass derart unterschiedliche Konzepte nicht kompatibel sind. Hierarchisch angelegte räumliche Betrachtungen geraten angesichts der kurzen Innovationszyklen der Produkte oder eines fördertechnisch ausgelösten Schwarmverhaltens in der Fläche unter die Räder. Trotzdem werden sie von den Planern aus der Versenkung geholt, um die klassischen Problemlagen, etwa die Einzelhandelsentwicklung oder die Verkehrssteuerung, in den Griff zu bekommen. Dann, wenn die Märkte gesättigt sind, wenn weitere Verkaufsflächen beispielsweise nur durch Verdrängung zu platzieren sind, wenn Neugründungen auf der grünen Wiese den eingesessenen Handel in der Innenstadt oder im Dorfzentrum verdrängen, dann werden zur Standortsicherung die räumlichen Umverteilungsprozesse argumentativ mit zentralörtlichen Strukturen ausgehebelt. Ähnliches gilt in der Schulnetz- oder Infrastrukturplanung unter Schrumpfungsbedingungen.
Dörfer versus Mittelzentren
Angesichts einer kontinuierlichen Hybridisierung und der fortgesetzten Auflösung der Dienstleistungen und Versorgungsmöglichkeiten, wie sie durch individuelle Mobilität, durch die sozialen Medien, durch ganz simplen Internetzugang und ergänzende Apps praktiziert wird, ist bedrückend, dass diese Hierarchisierung auch im jüngsten Raumordnungsbericht wieder aufgelegt wird. Was soll überhaupt ein Konzept der zentralen Orte noch, wenn einzelne Bundesländer bereits „die unterschiedenen Zentralen-Orte-Kategorien oder die Anzahl der zentralen Orte substantiell reduziert haben“, wie der Raumordnungsbericht 2011 ausführt? Damit wird das Hauptargument der Konzeption ausgehebelt, eine verlässliche Sicherung der Versorgung zu gewährleisten. Wer genauer hinsieht, erkennt, dass nicht die Fläche schrumpft, sondern dass in der Fläche gerade die Grundzentren ihre Populationen verlieren, und das in einem geradezu schwindelerregenden Tempo: Die Grund- und Mittelzentren haben Tragfähigkeitsprobleme. Zumindest was den Einzelhandel angeht, scheint auch die gängige Strategie der Konzentration zunehmend fragwürdig. Flexible, dezentralisierte Versorgungsmodelle haben stattdessen Wachstumspotenzial. Die kleinen Dörfer also stehen womöglich ungleich besser da, wenn es um Zukunftschancen geht. Autofahren ist auf dem Land eine Selbstverständlichkeit. Das Individuum unterläuft hierarchische Planungsansätze spielend – selbst wenn seine Mobilitätskosten steigen. Neue Zentren entstehen an den Autobahnausfahrten. Die Dorfjugend trifft sich bei McCafé, und Distant Learning wird vielerorts längst praktiziert, man möge sich nur die enormen Einschreibezahlen bei den Online-Kursen der großen Universitäten ansehen. Versorgung funktioniert also auch anders. Von der ursprünglichen Idee Christallers einer ökonomisch-geografischen Raumwirtschaftstheorie ist in der Fläche im Jahr 2013 in der Praxis wenig geblieben. In der Regional- und Kommunalpolitik sind „Zentrale Orte“ und zentralörtliche Bereiche zu einem Schlagwort des öffentlichen Lebens verdichtet. Die entsprechenden Textpassagen vieler Landesentwicklungspläne und Planungen auf regionaler Ebene stellen das ursprüngliche Prinzip letztlich auf den Kopf: Sie nennen nicht Einrichtungen, um einen Ort bestimmter Stufe zu charakterisieren, sondern „sie normieren die Ausstattung und leiten davon gegebenenfalls Ausstattungsdefizite ab“3. So also entstehen Schrumpfungsszenarien. Falscher Ansatz. Könnte der ländliche Raum anders gedacht werden, könnte er anders funktionieren, könnte er gar ein Zukunftsraum werden, wenn er anders funktioniert?
Was ist, wenn das rurale Schrumpfungsszenario und das korrespondierende Lamento der Verwaltung gar nicht die reale Entwicklung abbildet? Die Dominanz der Fläche im ländlichen Raum signalisiert Dezentralisierung. Im Unterschied zu allen anderen Politikbereichen wird Agrarpolitik mit Direktzahlungen allein durch die EU finanziert. „Insgesamt werden von 2014 bis 2020 für die erste und zweite Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik rund 373,5 Milliarden Euro zur Verfügung stehen. Deutschland kann pro Jahr mit rund fünf Milliarden an Direktzahlungen und weiteren knapp 1,2 Milliarden für die ländliche Entwicklung planen.“4 Das ist eine Menge Geld, die sehr gezielt über gut eingespielte Systeme in einzelne Wirtschaftsakteure injiziert wird. Die Statistik des BMELV verzeichnet 2012 insgesamt 332.410 Betriebsinhaber, die Zahlungsansprüche anmelden können. Für Deutschland ergibt sich dabei für 2013 ein kalkulatorischer Durchschnittswert von 339,23 Euro Zahlungsanspruch je Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche. Addiert man Zins- und Investitionszuschüsse, Agrardieselzuschüsse, Ausgleichszulagen, Zahlungen aus Agrarumweltmaßnahmen und so weiter, verzeichnet der Agrarumweltbericht 2011 eine durchschnittliche Subvention für jeden Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche von 435 Euro. Durch die „Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ fließen weitere Mittel in die Fläche, die im Rahmen der agrarstrukturellen Entwicklungsplanung seit 1994 verstärkt querschnittsorientierte Förderansätze verfolgen. Die integrierte ländliche Entwicklungsplanung hat seitdem Konzepte hervorgebracht, die als Basis der ländlichen Entwicklung dienen. Insgesamt standen für den Zeitraum 2007 bis 2013 für die Entwicklung des ländlichen Raums öffentliche Fördermittel in Höhe von 17,9 Milliarden Euro bereit, die zu 30 Prozent in die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Land- und Forstwirtschaft flossen, zu 41 Prozent in die Verbesserung der Umwelt und Landwirtschaft und zu 23 Prozent in die Verbesserung der Lebensqualität in ländlichen Räumen und Diversifizierung der ländlichen Wirtschaft. So entstehen nicht unbedingt „Zentrale Orte“. So entsteht ein engmaschiges Netz an Partikularinteressen, das synchronisiert werden muss, wenn sich überhaupt ein Gesamtbild ergeben soll. Das wird die zentrale Herausforderung für einen Zukunftsraum Land – und nicht die Akquise weiterer Fördermittel. Nur wenn es gelingt, diesen Raum sichtbar zu machen und für (prospektive) Bewohner auch erfahrbar als einen qualitativ hochwertigen und funktionierenden Lebensraum, wird es gelingen, qualifizierten Nachwuchs zu finden, um diesen Zukunftsraum auch zu besiedeln. Es geht um mehr als „schnelles Internet“ oder Daseinsvorsorge und Altenpflege. Es geht um ein neues Gesamtbild – es geht um eine neue Geschichte.
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