Ein Bild von der Stadt machen
Stadtdarstellungen aus 300 Jahren in Venedig
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
Ein Bild von der Stadt machen
Stadtdarstellungen aus 300 Jahren in Venedig
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
Vom Annus mirabilis 1500 spricht der Katalog. Und tatsächlich geschah in diesem Epochenjahr etwas Wunderbares. Der Venezianer Jacopo de’Barbari gab eine Ansicht seiner Heimatstadt heraus, an der er gut zwei Jahre gearbeitet hatte: den ersten Vogelschauplan einer Stadt überhaupt – zu einer Zeit wohlgemerkt, da der Blick aus der Höhe noch gänzlich unmöglich war.
Jacopos enorm großer Plan, 134 auf 282 Zentimeter und mit sechs Holzstöcken gedruckt, markiert die kopernikanische Wende, da die Erfindung der Zentralperspektive nicht nur das Sehen, sondern das Denken insgesamt von Grundauf veränderte – und schließlich zu jener „Rationalisierung“ führte, die Max Weber vier Jahrhunderte später als Besonderheit des Okzidents beschrieb.
Mit der ungemein detaillierten Venedig-Schrägansicht, die jedes einzelne Haus der Lagunenstadt wiedergibt, beginnt die Ausstellung „Das Bild der europäischen Stadt von der Renaissance bis zur Aufklärung“ in Venedig. Das Museo Correr am Markusplatz bedient sich dazu nicht nur aus dem eigenen Bestand (wozu die originalen Druckstöcke Jacopos zählen, mit denen bald drei Jahrhunderte lang immer neue Exemplare des nie mehr übertroffenen Plans gedruckt wurden), sondern zeigt auch zahlreiche Leihgaben aus einschlägigen Museen und Archiven. Der reale Blick aus der Höhe war erstmals gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit den ersten Montgolfièren möglich, und in Venedig wurde der Flug eines solchen Heißluftballons dann auch malerisch festgehalten. Das in Berlin bewahrte Gemälde von Francesco Guardi aus dem Jahr 1784 hätte gut in die Ausstellung gepasst, schon um deutlich zu machen, dass alle früher geschaffenen Pläne und Aufsichten sich allein der Imaginationskraft verdanken, der gedanklichen Übersetzung der am Boden gewonnenen Informationen über Topografie und Bebauung in die dritte Dimension des Raums.
Von der Kunst zum Militär
Jacopos Plan blieb nicht ohne Nachfolge. Pedro Texeiras gleich mit 20 Stöcken gedruckter Holzschnitt-Plan von Madrid, mit 169 auf 292 Zentimetern nochmals größer, nimmt einen noch steileren Blickwinkel ein – anderthalb Jahrhunderte später. Giovanni Battista Nollis Plan von Rom aus dem Jahr 1748 ist dann ein vollkommener Stadtplan, der die Bebauung zu bloßen Feldern zwischen den mit feinen Linien dargestellten Straßen abstrahiert. Leider fehlt er in der Ausstellung, die stattdessen mit mehreren Plänen und Ansichten die Bedeutung der spanisch geprägten Residenzstadt Neapel im 17. und 18. Jahrhundert belegt. Ein faszinierendes Mittelding zwischen Vedute und Plan ist die gemalte „Ansicht von Neapel im Vogelflug“ von Didier Barra von 1647, die die enorme Größe der Stadt dramatisch überhöht.
Die Fortschritte im Messwesen durch Kompass, Fernrohr und dergleichen, die immer genauere Karten und Pläne ermöglichten, beschreibt der Katalog ausführlich. Die exakte Dokumentation der Stadt wandert aus dem Bereich der Kunst insbesondere in den des Militärs. Fortifikationen werden millimetergenau geplant. Der Kunst bleibt die Vedute. Und folgerichtig führt die Ausstellung zu den topografisch exakten, gleichvoll atmosphärisch dichten Stadtbildern von Bernardo Bellotto, genannt Canaletto, der mit Ansichten aus Warschau, seiner letzten Wirkungsstätte, vertreten ist.
Was die Ausstellung zu diesem so wichtigen und doch nur selten ausgebreiteten Thema nicht zeigt, das berichtet der als Anthologie zur Stadtdarstellung angelegte Katalog. Beispielsweise in einem Kapitel zu den deutschen Städten: Hierzulande war bereits 1493 mit der in Nürnberg verlegten „Schedel’schen Weltchronik“ ein Kompendium von Stadtansichten vorhanden, bei dem die topografische Genauigkeit im Mittelpunkt steht, allerdings in Seitenansicht als Panorama mit der steten Akzentuierung durch herausragende Kirchtürme. Und schließlich hat der Nürnberger Albrecht Dürer unvergleichliche Ansichten im Aquarell geschaffen, etwa von Salzburg oder Trient 1495/96. Da war er auf Reisen – und zwar nach Venedig, diesem Zentralort der Zeitenwende.
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