Ersehnte Tabula rasa
Wie der Luftkrieg die Stadtplaner-Phantasie beflügelte
Text: Hamm, Oliver G., Berlin
Ersehnte Tabula rasa
Wie der Luftkrieg die Stadtplaner-Phantasie beflügelte
Text: Hamm, Oliver G., Berlin
Von der „Stadt der Zukunft“ hatten Architekten und Städtebauer schon ab den 1920er Jahren geträumt. Die seit der industriellen Revolution rasant gewachsenen Städte mit ihren zum Teil unwürdigen Wohnverhältnissen nährten den Wunsch, diese umzugestalten – oder gar abzubrechen und völlig neu zu bauen. Realität wurde die Vision von der aufgelockerten Stadt am Rand einiger Großstädte, in den Stadtzentren hinterließ sie zunächst keine Spuren.
Das änderte sich im Zweiten Weltkrieg, als der Luftkrieg in europäischen Städten verheerende Zerstörungen verursachte – die viele Planer geradezu ersehnt hatten. Schließlich schufen erst sie die Voraussetzungen für die umfassende Neuordnung der Städte. Ob in Rotterdam, London, Hamburg oder Stalingrad, um nur einige zu nennen: Überall sprachen Experten von einer „guten Gelegenheit“; in Coventry nach den deutschen Angriffen im Februar 1941 gar von „a blessing in disguise“, einem „getarnten Segen“, der es ermögliche, nach der Trümmerberäumung menschenwürdigere Städte zu errichten.
Vielerorts begann man unmittelbar nach der Zerstörung, den Wiederaufbau nach modernen Prinzipien („Licht, Luft und Sonne“) zu planen, begleitet von Ausstellungen und öffentlichen Debatten. Eine Ausstellung in der Freien Akademie der Künste Hamburg (die anschließend nach Berlin und Rotterdam wandert) dokumentiert nun die Planungen während des Zweiten Weltkriegs für Städte in England, Frankreich, Holland und der Sowjetunion. Mit einer Vielzahl, zum Teil erstmals gezeigter Originalpläne erzählen die Kuratoren Jörn Düwel, Niels Gutschow und Volkwin Marg zudem die Geschichte der Wiederaufbauplanung Hamburgs bis 1945. Sie betten sie in den Kontext der europäischen Planungsdebatte jener Zeit ein, die trotz aller ideologischer Unterschiede erstaunlich einheitlich war. Das Text- und Bildmaterial der Schau wird von einer gut einstündigen Filmschleife mit Ausschnitten aus zwölf Filmen ergänzt, welche die Lebensbedingungen in den alten Stadtzentren vor 1940 ebenso vor Augen führt wie die Planungseuphorie zur Neugestaltung der Städte lange vor dem Zweiten Weltkrieg, vor allem aber nach den Flächenbombardements ab 1940.
Fast überall blieben die noch während des Kriegs begonnenen Tabula-rasa-Planungen ohne unmittelbare Folgen. Nur in Rotterdam machte man sofort Nägel mit Köpfen – für einen von den Strukturen der Vorkriegsstadt unabhängigen Neuanfang: Zwei Wochen nach dem Bombardement der deutschen Luftwaffe am 14. Mai 1940 wurden rund 12.000 Parzellen enteignet. Am 8. Juni 1940 legte Gerrit Witteveen, beauftragt mit der Wiederaufbauplanung, ein Konzept vor, das eine Beräumung der zerstörten Innenstadt ohne Rücksicht auf die vorhandene Infrastruktur vorsah. Zwei Jahre später war mit einer neuen Infrastruktur die Voraussetzung für ein Stadtzentrum mit völlig verändertem Leitbild geschaffen. Seither prägen Freiräume und sechsspurige Straßen die ehemals eng bebaute Innenstadt.
In Hamburg vernichtete die „Operation Gomorrah“, eine Serie alliierter Luftangriffe Ende Juli/Anfang August 1943, knapp die Hälfte des Wohnungsbestands – mehr als 30.000 Menschen starben. Max Karl Schwarz schlug Ende August 1943 eine großflächige Aufforstung der zerstörten Gebiete vor, aus der später eine „echte Stadtlandschaft“ entstehen sollte. Konstanty Gutschow aber, Leiter von Albert Speers „Arbeitsstab für den Wiederaufbau bombenzerstörter Städte“, griff bei der Neubearbeitung des Generalbebauungsplans ab Dezember 1943 auf Planungsmaximen zurück, die bereits seinen ersten, 1941 ausgearbeiteten Generalbebauungsplan (zum Ausbau Hamburgs zur „Führerstadt“) gekennzeichnet hatten: „Allgemeine Auflockerung des Großstadtkörpers, Bildung der von Grün umgebenen Siedlungszellen, Verlagerung der Siedlungsentwicklung in bandartiger Ost-West-Richtung ...“
Doch die Planungswirklichkeit wandelte sich schlagartig nach der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945: Nur drei Wochen später legte Konstanty Gutschow einen Plan für den östlich der Binnenalster gelegenen Teil der Innenstadt vor, dessen Gebäudebestand er größtenteils als wiederherstellbar einschätzte. In den Geschäftsvierteln der Hamburger Innenstadt, aber auch an vielen anderen Orten in den westlichen Besatzungszonen sollte es – nicht zuletzt weil die Besitzverhältnisse an Grund und Boden unangetastet blieben – für hochfliegende „Träume in Trümmern“ bald keine Grundlage mehr geben.
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