Bauwelt

„Es geht nicht darum, jetzt alles in Bottom-up aufzulösen“

Interview mit Klaus Overmeyer

Text: Schultz, Brigitte, Berlin

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Foto: Fred Ernst

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Zeichnung: Klaus Overmyer

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„Es geht nicht darum, jetzt alles in Bottom-up aufzulösen“

Interview mit Klaus Overmeyer

Text: Schultz, Brigitte, Berlin

Was können andere Städte von Rotterdam lernen? Klaus Overmeyer über große Tanker und kleine Boote, Krisenarchitekten, kreative Immobilienbesitzer und den Nutzen der Stadtverwaltung
Herr Overmeyer, Sie waren im letzten Jahr als „International Urban Guest Critic“ nach Rotterdam geladen. Dafür wurden Sie eine Woche lang durch die Stadt geführt, haben Initiativen besichtigt und mit verschiedensten Akteuren gesprochen. Wie ist die Stimmung in der Stadt?
In Rotterdam hat die Krise stärker zugeschlagen als in Amsterdam oder in deutschen Städten. Das System dieser Projektstadt, die immer eine enorme Euphorie ausstrahlte, ist in Frage gestellt worden. Der Bausektor ist zusammen gebrochen. Es gibt Architekturbüros, deren Belegschaft auf ein Zehntel geschrumpft ist. Viele Architekten sind arbeitslos geworden.
Das klingt nach einer harten Woche voller depressiver Architekten ...
Irrtum! Wenn man mit Rotterdamer Kollegen spricht, dann sagen die: „Rotterdam ist eigentlich total entspannt. Der Wohnungsmarkt ist nicht so überhitzt, man hat Raum in der Stadt, überall schießen irgendwelche Initiativen aus dem Boden.“ Architekten sehen darin ein Potenzial.
Über die Potenziale der Krise kann man sich doch nur freuen, wenn man noch etwas zu tun hat, oder?
Selbstverständlich hat die Situation auch ihre Härten! Insbesondere für junge Architekten. Die wurden bisher nach der Uni automatisch in den Sog der Architektur- und Projektentwicklung hineingezogen – jetzt sind auf einmal alle Tore verschlossen. Sie sind nun auf sich selbst gestellt und müssen sich seitdem überlegen: „Welche Rolle nehme ich als Architektin, als Architekt in Zukunft ein?“ Sie mussten nicht die Stadt neu erfinden, sondern ihr Berufsbild.
Wie sieht das neue Berufsbild des „Krisenarchitekten“ aus?
Die Arbeitsweise krempelt sich komplett um. Bisher hat man in Abriss-Neubau-Mentalität die Welt mit immer größeren Bauprogrammen erfunden. Der florierende Immobilienmarkt hat riesige Planungsbüros hervorgebracht. Aus heutiger Sicht Dinosaurier, die für die neuen Aufgaben völlig ungeeignet sind. Jetzt gibt es einen deutlichen Trend zu kleinen, informellen Zusammenschlüssen.
Wie finden die ihre Bauaufgaben?
In der architektonischen Praxis geht es heutzutage darum, situativ vorzugehen, also sich in bestehende Situationen einzunisten und aus der Erfahrung vor Ort oder aus eigenen Experimenten eine Idee zu entwickeln. Die Architekten wohnen teilweise an den Orten, für die sie planen, oder organi­sieren dort Veranstaltungen. Das gibt ihnen ein Gespür dafür, was eigentlich wertvoll ist und weiter gebraucht werden kann, wen man in Netzwerke mit einspinnen kann und wie sich aus dieser Konstellation eine neue Vision für den Ort entwickeln lässt. Das ist ein neues Berufsbild, so eine Art Do-it-yourself-Projektentwickler an der Schnittstelle zwischen Architekt, Kurator und Bauunternehmer.
Also genau die „Bürgernähe“, die derzeit in vielen Städten gefordert wird ...
Ja, das trifft auf eine gesamtgesellschaftliche Stimmungslage, die solche Dinge auch mit ermöglicht. Die Leute wollen nicht mehr nur informiert werden über irgendwelche Projekte, sie wollen viel stärker mitbestimmen, nicht mehr nur alle vier Jahre unser demokratisches System bedienen. Und sie sind bereit, sich aktiv an den Projekten zu beteiligen, weil sie Einfluss darauf haben wollen, was öffentlich ist und was nicht und welche Rolle sie darin spielen.
Wie werden diese neuen Herangehensweisen von der Stadtverwaltung aufgenommen?
Recht positiv. Weil Rotterdam traditionell eine Projektstadt ist. Bisher genügte es, wenn Koolhaas auf dem Coolhaven­eiland ein neues Gebäude baut. Jetzt merken die Rotterdamer, dass sie immer noch Projektstadt sind, immer noch enorme Energie haben, die Projekte aber ganz andere sind. Ich beschreibe den Paradigmenwechsel gerne mit dem Bild des Supertankers, der gekentert ist. Und auf einmal merkt man, dass man mit einer Speedboot-Flotte aus vielen kleinen, wendigen Booten genauso gut, wenn nicht sogar besser, vorankommt.
Wie äußert sich das konkret?
Wirft man einen Blick auf das offizielle Stadtentwicklungsprogramm, kann man eine deutliche Reduktion auf das wirklich Machbare feststellen. Noch vor einigen Jahren gab es 14 strate­gische Entwicklungsgebiete in der Stadt. Durch die Verlagerung des Hafens an die Maasvlakte werden insgesamt 1600 Hektar frei, die wollte man eigentlich im großen Stil mit globalem Kapital entwickeln. Mittlerweile gibt es nur noch drei zusammengeschmolzene Entwicklungsgebiete: die Innenstadt, ein Teil vom Hafen und das Gebiet um das Feyenoord Stadium.
Welche Projekte geben dieser Speedboot-Flotte Orien­tierung?
Zum Beispiel der Luchtsingel-Boulevard, eine neue, öffent­liche Promenade in Rotterdams zentralem Büroviertel am Hauptbahnhof, den ein kleines Architekturbüro unter an­derem über Crowd-Funding entwickelt hat. Oder die Stadsboerderij im Hafen, wo Gemüse angebaut wird.
Urban-Gardening als Freizeitbeschäftigung für arbeitslose Architekten?
Das ist nicht nur so eine kleine Urban-Gardening-Initiative, sondern Europas größter Stadtbauernhof. Da wird in Gewächshäusern richtig viel Gemüse produziert, das dann in einem lokalen Restaurant verarbeitet und auch an Kantinen und Restaurants in der Stadt geliefert wird. Das Projekt ist zu einem öffentlichen Anziehungsort geworden. Selbst die Stadtentwickler greifen das auf und werben z.B. bei der Ansiedlung von internationalen Unternehmen mit der Nähe zum Bauernhof. Das zeigt, dass viele dieser Initiativen an der Schnitt­stelle von ideellen und monetären Werten stehen.
In die eine Richtung kennt man diese Schnittstelle: ideelle werden zu monetären Werten, und das Ganze heißt dann Gentrifizierung. Aber wie nun in die andere Richtung?
Zum Beispiel gibt es Immobilienbesitzer, die neue Wege gehen. Ich habe sie in meiner Zeichenserie der verschiedenen Akteure [siehe oben] Hausprobierer getauft. Eigentümer, die sagen: „Ich suche nach Modellen, wie ich meine Gebäude für eine stabile Nachbarschaft einsetzen kann.“ So werden z.B. Erdgeschosse über Quersubventionierung durch höhere Mieten in anderen Gebäudeteilen günstig an Initiativen oder kleine Unternehmen aus der Nachbarschaft vermietet.
Sprechen wir nur von Einzelpersonen, oder hat das eine breitere Basis?
In vielen Fällen sind es auch Wohnungsbaugesellschaften mit größeren Beständen und dementsprechend größeren Spielräumen. Sie können es sich leisten, einen Wohnungsblock auch mal drei Jahre zu Betriebskosten zur Verfügung zu stellen. In Rotterdam-Charlois im Süden der Stadt haben z.B. verschiedene Wohnungsbaugesellschaften der Stiftung „Nieuwe Ateliers Charlois“ leerstehende Wohnungen für 100 Euro im Monat an Künstler vermietet, die die Häuser renovierten und kulturelle Initiativen im Stadtteil starteten. Mittlerweile ist es das Quartier mit der höchsten Künstlerdichte der Niederlande. Teil des Programms ist außerdem ein Fonds.
Wozu braucht eine Wohnungsbaugesellschaft einen Fonds?
Der Fonds ist ein Umverteilungsinstrument, mit dem Mittel lokal gebunden werden können. In der Regel fließen die Steuern ja in einen großen Topf und werden nicht da wieder ausgegeben, wo sie veranlagt wurden. In den Fonds in Charlois fließen Ressourcen wie Gebäude und Flächen, Geld der Wohnungsbaugesellschaften aber auch Arbeitskraft von den Bewohnern.
Und welchen Lohn bekommt man für seine Arbeit?
Das haben sie sehr schlau gelöst. Eine Arbeitsstunde wird zu einem normalen Firmenstundensatz mit 50 Euro angesetzt. Die Leute bekommen aber nur 10 Euro ausgezahlt. Zu den verbleibenden 40 Euro legt dann die Wohnungsbaugesellschaft noch 50 Euro dazu, damit sozusagen beide Seiten gleichviel eingezahlt haben. Und am Ende entscheidet ein Quartiersrat, was mit dem Geld passiert.
Quartiersräte, Crowd-Funding, Selbstbauinitiativen, vergünstigte Miete – wurstelt in dieser Stadt, die vorher den großen Plan hatte, jetzt jede Initiative so vor sich hin, und womöglich auch alle aneinander vorbei?
Interessanterweise bildet sich aus diesen informellen Zusammenschlüssen dann oft auch eine formale Struktur. So entsteht dann eine „Wijk BV“, sozusagen eine „Nachbarschafts GmbH“, eine Dachgenossenschaft, unter der sich verschiedene Initiativen sammeln, die zusammen ein Programm für die Nachbarschaft entwickeln.
Und das funktioniert?
Da wird es erst richtig spannend. Weil es dann nicht nur um einzelne Projekt-Wunderkerzen geht, sondern im günstigsten Fall unter so einem Dach verschiedene Vereine, Initiativen, aber auch Unternehmen eine Vision für ihr Lebensumfeld entwickeln. Da geht es um Fragen wie: Welche Räume können wir gemeinsam nutzen? Wie können wir Wohnen und Arbeiten näher zusammenbringen? Woher kommt unsere Energie? Wie finden wir eine neue Balance zwischen unternehmerischem und gemeinwohlorientiertem Engagement? Das ist, meine ich, ein ziemlich neuer Ansatz in der Stadtentwicklung, den man zurzeit sehr häufig an unterschiedlichen Orten in Rotterdam beobachten kann.
Das klingt, als würde sich alles von selbst organisieren – brauchen diese Initiativen die Stadtverwaltung überhaupt?
Es geht nicht darum, jetzt alles in Bottom-up aufzulösen. Darin liegt eine große Gefahr der neuen Entwicklungen, zu denken, in kleinen Bottom-up-Initiativen läge der Schlüssel zur besseren Stadtentwicklung. Es geht vielmehr darum, ein gesundes Verhältnis zwischen lokalen Ressourcen und einem gesamtstädtischen Organismus zu finden.
Wo lässt sich diese neue Balance herstellen?
Auf jeden Fall nicht auf der Parzelle! Auch wenn viele Architekten und auch Städte noch in diesem Maßstab denken. Ich bin überzeugt davon, dass die Parzelle der ungeeignetste Maßstab ist, um über heutige Herausforderung nachzudenken. In Rotterdam ist ganz schnell dieser Quartiersradius da gewesen. Da schauen die Leute, wie man zusammen ein in­taktes Lebensumfeld entwickeln kann. Und die Fragen lauten nicht nur: Wie können wir chic wohnen? Wie kann man tolle Architektur machen? Sondern, wie wir in Zukunft mit weitaus geringeren Ressourcen besser in unseren Städten leben können.
Ist Rotterdam in dieser Hinsicht derzeit zukunftsweisend?
Auch in den Köpfen der Rotterdamer klafft noch eine Schere zwischen Visionen für die großen Entwicklungsgebiete auf gesamtstädtischer Ebene und sozialem „Kram“ auf Quartiers­ebene. Aber meine Erfahrung ist, dass sie ihre Scheuklappen schon viel stärker abgelegt haben als wir in Deutschland. Viele denken ja auch schon über Postwachstum nach.
Da sind wir ja bei den großen Zukunftsfragen angelangt ...
Die Herausforderung der nächsten Jahre wird sein, sich viel intensiver mit den Folgen unseres starken Nachkriegswachstums auseinander zu setzen. Da werden Prinzipien wie Sparsamkeit, Suffizienz, Kooperation, neue gemeinsame Güter usw. debattiert. Ich würde nicht sagen, dass die Rotterdamer in dem Punkt viel weiter sind als z.B. wir in Deutschland. Aber in ihrer Tradition als Händler und Unternehmer sind sie risikofreudiger, diskutieren Dinge unkonventionell und probieren aus.
Können wir von Rotterdam lernen?
Es lohnt sich, die Entwicklung dort aufmerksam zu verfolgen. Denn hier zeigt sich gerade ein Wandel, in dem meines Erachtens für viele Städte Europas in Zukunft die Herausforderung liegt: eine Balance zu finden zwischen Mikro und Makro, zwischen lokalen Ressourcen und gesamtstädtischen Potenzialen und Entwicklungsrichtungen.
Fakten
Architekten Overmeyer, Klaus, Wuppertal
aus Bauwelt 12.2014
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