Europan: Der mobile Architekt
Einleitung
Text: Geipel, Kaye, Berlin
Europan: Der mobile Architekt
Einleitung
Text: Geipel, Kaye, Berlin
Was genau ist die europäische Stadt? Alle Versuche, den Begriff auf fixe Eigenschaften festzunageln, auf mehr als das, was Hartmut Häußermann einmal ganz elastisch „eine bestimmte Vorstellung von Urbanität“ genannt hat, führen in die Irre.
Selbst in Berlin, wo die Idee eines überzeitlichen Regelwerks lange Jahre offizielle Planungsdoktrin war, sind die festen Rezepte nicht mehr en vogue. Das Problematische an der primär historisierenden Auslegung des Begriffs lag nicht nur darin, dass er die Dynamik der Stadt unter Generalverdacht stellte, sondern dass er zentrumsfixiert war.
Dabei spielt sich der Umbau der europäischen Stadt zu einer Post-Oil-City vornehmlich in den Zwischenzonen, in den brachliegenden „Rändern und Löchern“ der Städte ab. Hier erweist sich, ob aus den Rezepten, die Post-Oil-City Realität werden zu lassen, mit all den Energistrategi 2050 (Dänemark), Minergie (Schweiz), Directives sur la performances energetiques des batiments (Frankreich) und EnEV etwas werden kann. Wie viel Bewegung in die Diskussion gekommen ist, zeigt der Umstand, dass sich die lange Zeit eher als gegensätzliche Modelle gehandelten Ideen der „Zwischenstadt“ und der „dichten Stadt“ längst ineinander geschoben haben. Die großen europäischen Stadtentwicklungsprojekte der letzten Jahre – Lyon-Confluence am Zusammenfluss von Rhone und Saône, Boulogne-Billancourt am Rand von Paris, der Umbau des Hafens von Oslo, die Hafen-City in Hamburg, die „Seestadt“ Aspern in Wien, die Ørestad in Kopenhagen und das wegen ökologischer Defizite und finanzieller Unregelmäßigkeiten inzwischen ganz gestoppte Santa-Giulia-Projekt in Mailand – sie alle konnten noch auf einen großen Zufluss an Mitteln setzen, auf eine kritische Masse, jenseits derer die neue Stadt am Rande der bisherigen immer neue Investoren anziehen würde. All diese Projekte, die den Umbau der europäischen Stadt als Strukturwandel auf ehemaligen Industrie- und Hafenarealen oder ausgedienten Flughäfen geplant haben, leben noch vom großen Atem einer politischen Anstrengung – ohne das „Instrument Großprojekt“ sind sie kaum vorstellbar. Entsprechend bescheiden ist ihre Beispielfunktion. Wichtiger sind heute Projekte, die aufzeigen, wie sich neue städtische Ideen in Zeiten der Sparsamkeit ohne die Garantie ausgedehnter Infrastrukturmaßnahmen umsetzen lassen: im laufenden Betrieb der Stadt, als offener Prozess.
Der im Zwei-Jahres-Rhythmus stattfindende, nach wie vor weltweit größte Architektenwettbewerb für junge Architekten Europan liefert solch konkrete Anschauung in Hülle und Fülle. Die meisten der 49 Standorte in 17 Ländern handeln von Verdichtung und Aktivierung problematischer Zwischenräume, oft verbunden mit der Aufforderung an die jungen Architekten, Auswege aus der Sackgasse der aktuellen Planung zu suchen. Die Programme der Wettbewerbsstandorte, zu finden unter www.europan.de, lesen sich teils wie die lange unterdrückten Wünsche der Stadtverwaltungen, die plötzlich gegen ihre eigenen Planungsroutinen andenken können. Zum Beispiel am Rand von Madrid, wo nach dem Zusammenbruch des Immobilienmarktes Ratlosigkeit über die Zukunft der bereits erschlossenen Entwicklungsterrains besteht; ob die riesigen Satelliten-Quartiere jemals so gebaut werden, steht in den Sternen. Zum Beispiel in Warschau, wo der kurzfristige Boom im Windschatten des neuen Stadions für die Fußball-Europameisterschaften heute die Frage aufwirft, wie naiv man gewesen sein muss, von den Investoren im Umfeld des Großereignisses auch die Sanierung des Mischgebiets am östlichen Weichselufers zu erhoffen. Zum Beispiel in Pejë, Kosovo, wo die Stadt die versprengten Ausbildungsstätten in einem Universitätsneubau bündeln will und sich davon ein Aushängeschild für das junge Land verspricht, unter der Hand aber kaum Alternativen wahrzunehmen sind, wie man dem dortigen Turbokapitalismus (Kai Vöckler) entgehen könnte.
Acht von 49 Standorten haben wir für dieses Heft ausgewählt, alle haben mit Auseinandersetzungen zu tun, die über den Fall hinausreichen, und eines ist unübersehbar: Nach Jahren, in denen der Blick wie hypnotisch auf das hypermoderne Überwachstum der chinesischen Stadt gerichtet war, springt die Nadel der Aufmerksamkeit in Europa wieder zurück. Die Transformation der Stadt, die sich jahrelang am Nacheifern des Maßstabs „Großprojekt“ messen lassen musste, beweist sich hier an den neuen Spielräumen, die sich zwischen Nachhaltigkeitszwang, demographischem Umbau und Austerity-Politik auftun. Die Herausforderungen liegen vor der eigenen Tür.
Von Schottland nach Spanien ins Kosovo | Der Blick auf die europäische Stadt hat sich längst auch bei den jungen Architekten verändert. Europa ist zu einem Spielbrett geworden. Als ich mit Héctor Arderius, dem Gewinner des Wettbewerbs für den Standort Pejë, Kosovo, über sein Projekt sprach, erwähnte er die geografischen Umwege, unter denen das Konzept entstanden ist. Entworfen wurde via Internet. Er selbst hatte – der Krise auf dem spanischen Arbeitsmarkt wegen – zu der Zeit in einem schottischen Büro gearbeitet. Sein Partner war in Madrid geblieben. Es geht aber längst nicht nur um volatile Arbeitsmärkte. Für kleine und junge Büros wird immer wichtiger, aus den Krisen anderswo zu lernen. Etwa aus den Erfahrungen mit den Shrinking Cities im Osten Deutschlands, die bei der Frage nach der Aufwertung minimaler Infrastrukturen für den Umgang mit den Investitionsruinen des spanischen Baubooms (Bauwelt 8.2012) hilfreich sein können. Solche „Krisenpraxis“ sammeln die Architekten sowohl in einschlägigen Büros als auch in Postgraduate-Studien an Universitäten. Die vier Architekten aus Rom, die in Pejë den zweiten Preis gewannen, hatten zuvor mehrere Jahre über den Stadtumbau in den post-jugoslawischen Staaten geforscht. Die Programme vieler Europan-Standorte machen auch deutlich: Nachgefragt werden keine fertigen Entwürfe mehr, sondern Entwerfer, die über spezifisches Wissen verfügen. Das Interessante dabei ist, dass eigentlich nur wenige Städte das „Risiko“ eingehen, junge Architekten zu Wettbewerben einzuladen. Bei Europan ist die Situation anders. Das Manko der relativen Praxis-Unerfahrenheit der Architekten wird aufgewogen durch das breite Know-how und die Ideendichte, die in herkömmlichen Verfahren nicht zu haben wäre. Für den Stadtplanungsdirektor von Malmö Christer Larsson ist dies der Grund, warum er sich entschied, den Umbau und die Erweiterung des 70er-Jahre-Quartiers Holma über einen Europan-Wettbewerb laufen zu lassen.
Zu den Konstruktionsfehlern von Europan zählt, dass der Übergang von der Idee in die Realisierung viel zu häufig brüchig ist. Manchmal ist schon zu Anfang klar, dass die prämierten Vorschläge, die gegen die Planungsroutinen gerichtet sind, in der Realität kaum Chancen haben. Vom 1. Preis in Polens Hauptstadt ist der Warschauer Architekt und Europan-Juror Jakub Szczesny begeistert – nicht ohne den zynischen Satz nachzuschieben: „Ich kenne mindestens sechs Gründe, warum ein solches Projekt in Warschau NICHT umsetzbar ist.“
Weak architecture und Rucksackstrategien | Zu den merkwürdigen Begriffen, die die Postmoderne erfunden hat, gehört der der „weak architecture“. Gemeint war das Plädoyer für eine „schwache Architektur“ als paradoxer Kampfbegriff für das Ausloten neuer Freiheiten, weg vom Schraubstock der direktiven Planungskonzepte der Nachkriegszeit. Im Zeichen der Globalisierung ist diese Schwäche des Architekturprojekts auf eine Art und Weise Realität geworden, die man sich damals nicht hätte träumen lassen. Die Einflussmöglichkeiten auf öffentliche Bauten und Vorprägungen von städtebaulichen Entwicklungsarealen werden immer geringer, gesteuert wird von den Investoren. Nirgendwo ist die hoheitliche Planung noch selbstverständlich, selbst in Frankreich mit seinen „projets urbains“ nicht. Dort lehnt sich der Europan-Wettbewerb seit einiger Zeit an die Transformation der Terrains der französischen Eisenbahn an, weil hier noch ein gewisser Spielraum besteht. Solche „Kooperationen“ sind inzwischen bei Europan gang und gäbe, auch um die Konzeptionsphase zu finanzieren, die aus den öffentlichen Mitteln allein nicht zustande zubringen wäre. Meist hilft den Städten ein geschicktes Bündeln von Subventionen, an denen auch EFRE-Gelder beteiligt sind. Diese Kooperationen betreffen aber auch die Aufgabenstellungen selbst, die im Kontext eines größeren Programms breiteres Gehör finden. Zu solchen kooperativen Programmen, die medialen Rückenwind haben und an die sich ambitionierte Projekte andocken, gehört die IBA – leider hat sich die Hamburger IBA in Wilhelmsburg nicht getraut, den herausragenden 1. Preis von Europan 8 zu realisieren (Bauwelt 15–16.2006).
Diese additive Struktur innovativer Projekte, nach der sich die Entwürfe vor allem als Prozess verstehen und ständig entsprechend begründet werden müssen, verändert auch die Rolle des Architekten bei der Umsetzung. Diese Tatsache ist zwar nicht wirklich neu. Neu aber ist, dass in vielen Programmen mit nachgerade gieriger Selbstverständlichkeit nach Architekten verlangt wird, die die Umsetzung ihrer preisgekrönten Ideen in offensiver Auseinandersetzung vor Ort selbst in die Hand nehmen. Das sind Anforderungen, die man noch vor einigen Jahren, als es vor allem darum ging, grelle, investorenwirksame Bilder zu produzieren, eher belächelt hätte.
Der Ideenwettbewerb hat heute zwei unterschiedliche Seiten: Das Entrée sind die drei Tafeln, die die internationalen Juries überzeugen müssen. Nach dem Wettbewerbsgewinn kommt als Kehrseite der Medaille die Auseinandersetzung mit vielen lokalen Akteuren, die dem Begriff „Ideenwettbewerb“ eine neue Bedeutung hinzufügt. Ein Beispiel ist der Standort der Europäischen Kulturhauptstadt Guimarães, Portugal. Während sich die offiziellen Programme in der Innenstadt tummeln, spielt der Europan-Standort am Rand und verhandelt dort das dringliche Problem der viel zu schnell gewachsenen portugiesischen Stadtlandschaft, die heute in einem quasi undurchdringlichen Geflecht funktional kollabiert. Die Stadt will mit dem Wettbewerb den Anstoß für einen neuen Entwurfsprozess geben; die neuen städtebaulichen Verbindungen und öffentlichen Räume müssen die Architekten dann selber weiterentwickeln, in einem diskursiven Prozess mit Anwohnern, Gewerbetreibenden und Logistikunternehmen.
Ob die meist auswärtigen Preisträger mit solchen Strukturen und Anforderungen nicht überfordert sein werden, bleibt abzuwarten – ohne das Engagement der städtischen Planer, sich für die Rahmenbedingungen diskursiver Prozesse einzusetzen, wird es nirgendwo gehen. In Guimarães gehört es zu den Zufällen des Wettbewerbs, dass hier ein französisches Büro den ersten Preis davon trug, das sich explizit mit Veränderungen des öffentlichen Raums auseinandersetzt und dabei ist, eine Art „mobile Bürostruktur“ aufzubauen. Zurzeit reist das Team in Südfrankreich von Stadt zu Stadt. Für den Sommer ist die Intervention im Autobahnkreisel von Guimarães-Silvares geplant. Workshop nennt man das, und gemeint ist eine Ad-hoc-Intervention, die in Zeiten, in denen das Programm selbst unsicher geworden ist, dessen kooperative Entwicklung mit den Akteuren zum Planungsziel hat. Nicht nur im Süden, sondern auch im reichen Norden ist solches Know-how gefragt. Das österreichisch-italienische Team, das in der norwegischen Stadt Skien-Porsgrunn gewonnen hat, ist von der Stadt bereits zu einem längeren Planungsprozess eingeladen worden. Es wird vor Ort für mehrere Monate ein Ladenlokal beziehen – mit offenen Türen für die Bevölkerung. Europan 11 zeigt den Durchbruch der Architekten als mobile Eingreiftruppe.
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