Ganz individuell
Alexander-Rodtschenko-Ausstellung in Wien
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
Ganz individuell
Alexander-Rodtschenko-Ausstellung in Wien
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
„Nie dagewesene Ansichten von Bewegung, von Menschen, Tieren und Autos. Bislang unbekannte Augenblicke“, jubelte Alexander Rodtschenko im Jahr 1934 in einem Aufsatz, der für die Zeitschrift „Sowjetisches Foto“ gedacht war, jedoch nicht zum Abdruck kam.
Rodtschenko verherrlichte die Fotografie insgesamt – aber er versuchte natürlich, seine eigene Auffassung von ihr zu verteidigen. 1934 war Rodtschenko längst in die Defensive geraten, hatte Kritik über sich ergehen lassen müssen, die zu jener Zeit des Stalinismus bedrohlich werden konnte. „Fotografie hat alle Rechte“, schrieb er in seinem erst 1971 publizierten Aufsatz. Aber zuvor stand da noch ein anderer, verräterischer Satz: „Meister der Fotografie entwickeln wie alle anderen Künstler Geschmack, Stil und Methode ganz individuell.“
„Ganz individuell“ sollte die Fotografie in Stalins Sowjetunion nun gerade nicht sein; sondern im Sinne von Stalins berühmtem Diktum über die Schriftsteller als „Ingenieure der Seele“ berechenbare Reaktionen erzeugen. Sie sollte propagandistisch wirken, zur Arbeit anspornen, sozialistisch erziehen und den Untergang der alten Welt besiegeln. Rodtschenko hat beides getan: Er war Künstler aus eigenem Recht und hat Propaganda verfertigt. Die jetzt im privaten Wiener Fotomuseum Westlicht gezeigte, in der Auswahl der Objekte vom Moskauer Haus der Fotografie übernommene Ausstellung „Revolution der Fotografie“ bringt beide Aspekte ins Gleichgewicht: den selbstbestimmten Künstler und den Aufträge abarbeitenden Dienstleister.
Alexander M. Rodtschenko (1891–1956) hat die Fotografie in der Tat verändert – „Revolution“ ist vielleicht ein zu plakatives Wort. Er hat mit der Einführung der Diagonalen als Gestaltungsprinzip gerade der Stadt- und Architekturfotografie neue Ausdrucksformen erschlossen. Seine schräg durchs Bild fahrenden Straßenbahnen, seine Häuser ohne Sockel und Dach, seine Ansichten von schräg oben und schräg unten befreiten die Fotografie davon, als bedauerlich kleiner Ausschnitt der Wirklichkeit wahrgenommen zu werden, und stattdessen zu einer eigenen Kunstform zu reifen, die sich der Realität als Material bedient. So sind in Wien zahlreiche Moskauer Aufnahmen zu sehen, die das Zufällige und Lakonische ihrer Entstehung vorführen und sich damit von der damals gängigen „Wirklichkeitsabbildung“ absetzen. Zudem zeigt die Schau Beispiele von Rodtschenkos frühen, seiner Fotografentätigkeit vorausgehenden Arbeit als Fotomonteur. In der Fotomontage, die er später als freier Gestalter der aufwendigen, für höhere Funktionäre und ausländische „Meinungsmacher“ gedachten Zeitschrift „USSR im Bau“ wieder aufnimmt, kommt die Verschiebung der Größenverhältnisse und das Ineinandergreifen disparater Elemente besonders zur Geltung.
Rodtschenko hat zahlreiche Zeitschriftenumschläge und Fotoreportagen entworfen; in den späten 20er Jahren für die linksästhetische Zeitschrift „Nowy Lef“, später für „USSR im Bau“ und daneben für eine Fülle kleinerer, auch kunst- und fotofremder Zeitschriften. Als Porträtist hinterließ er Weniges, aber Hochbedeutendes, das berühmte Foto seiner lesenden Mutter mit Kopftuch und Brille oder die Serie seines engen Freundes, des Dichters Wladimir Majakowski. Einfach so zu fotografieren, war zur Stalinzeit übrigens nicht möglich. Es bedurfte einer offiziellen Genehmigung, wie sie Rodtschenko 1933 vom Verlagsimperium „Isogis“ erhielt, um Fotos für den Bildband „Moskau“ zu machen. Der kam nicht zustande; um so eindrucksvoller daher die Bildwand in der Ausstellung, die Aufnahmen dieses Projekts zu einem Kaleidoskop der sowjetischen Hauptstadt fügt, die vor Mitte der 30er noch nicht durchgreifend umgeräumt und auf Monumentalität getrimmt war.
Die Reportage vom Bau des Weißmeerkanals 1933, dem ersten Großprojekt des beginnenden und rasend schnell ausufernden Gulag-Systems, kommt ebenfalls zur Ansicht. Sie lässt die Tragik eines Künstlers erahnen, der, bedrängt, zum Reporter des Regimes werden muss, um zu überleben. Seine Ästhetik hat Rodtschenko jedenfalls nicht verraten, er bleibt auch in diesen Aufnahmen so lakonisch, so beobachtend, so unengagiert wie je. Das hat ihm bei ande-ren Reportagen gehörige Kritik eingebracht, etwa der Serie aus der Moskauer Automobilfabrik „AMO“. Da fehlten den Partei-Zensoren die heroischen Arbeiter. Stattdessen Maschinendetails wie von Renger-Patzsch – mit dem er in einer üblen Polemik denn auch verglichen und entsprechend als unpatriotisch gebrandmarkt wurde. Später, 1934, durfte Rodtschenko froh sein, vom übergeordneten Fotografen-Kollegen Boris Ignatowitsch beauftragt zu werden, „den Festschmuck Moskaus sowie die Aufmärsche zu den Feierlichkeiten zum 13. Jahrestag der Oktoberrevolution zu fotografieren“. So sehr einzelne Fotografien Rodtschenkos zu Ikonen erstarrt sein mögen – in den schönen Räumen einer ehemaligen Hinterhof-Fabrik, die das Fotomuseum Westlicht nutzt, ist die Begegnung mit dem großartigen und letztlich tragischen Lebenswerk ein Erlebnis. Alexander Rodtschenkos „Geschmack, Stil und Methode“ sind so, wie er es forderte, „ganz individuell“.
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