Griff in den Fundus
Das Münchner Architekturmuseum öffnet sein Archiv
Text: Bachmann, Wolfgang, München
Griff in den Fundus
Das Münchner Architekturmuseum öffnet sein Archiv
Text: Bachmann, Wolfgang, München
Es mag an meinem Alter liegen: Genau so stelle ich mir eine gute Architekturausstellung vor. Ganz altmodisch wie eine begehbare Zeitschrift, in der, zu einem Thema geordnet, Pläne, Zeichnungen, Modelle und begleitende Erläuterungen eine Bauaufgabe erzählend lebendig werden lassen.
Man muss das erwähnen, weil Afritecture, die vorhergehende, erste Präsentation von Andres Lepik, dem neuen Direktor des Architekturmuseums der TU München, mit der informellen Dramaturgie eines antiautoritären Kinderzimmers überrascht hatte (Bauwelt 36.2013). Jetzt also Ernst, aber mit welchem Gewinn!
Schon wenn man die schwere Tür der Architekturabteilung in der Pinakothek der Moderne aufzieht (sie steht normalerweise einladend offen), steht man gebannt vor einer raumhohen Regalwand mit Modellen aus der Sammlung. Wie in der Asservatenkammer bei Peter Zumthor, Steven Holl oder Richard Rogers. Ohne die Hinweise an der Seitenwand könnte es ein Ratespiel sein: Welche Gebäude erkennen Sie, wer waren ihre Architekten? Aber es gibt nichts zu gewinnen. Genießen kann man dafür die an den Wänden aufgereihten und in Vitrinen präsentierten gut 40 Beispielstationen, die Planungen und Gebäude als Episoden der Baugeschichte in die Gegenwart holen. Wenn man die Orte kennt – natürlich München –, kann man sein brachliegendes Wissen auffrischen, Verbindungen zwischen Architekten entdecken (Thiersch und Wallot) oder den Zeitgeist, der Neuperlach förderte und die Metastadt vergraulte.
Die Auseinandersetzung zwischen Adenauer und Schwippert um den Entwurf eines Schreibtischs, der damit endete, dass der Bundeskanzler dem Architekten beschied: „Lieber bleibe ich bei meinem jetzigen Schreibtisch, der ein anständiges, gutes Stück ist“, verführt zum Festlesen. Ebenso die langwierigen Querelen um den Bonner Kanzlerbungalow (der nun fragmentarisch auf der kommenden Architekturbiennale reanimiert wird). Gerade die selbst erlebte Zeit tritt einem mit spannenden Fragen entgegen: Hatte man Ludwig Erhard unterschätzt, war der gemütlich dicke Kanzler am Ende ein heimlicher Enthusiast der Moderne, der hier ohne Umstände den Architekten seines Tegernseer Feriendomizils beauftragt hatte? Oder hat ihm Sep Ruf geschickt seine Maßhalte-Appelle mit puristischem Funktionalismus heimgezahlt? Vielleicht war Erhard nur ahnungslos, verunsichert und schloss sich einfach dem amerikafreundlichen Zeitgeist an, mit dem er glaubte, nichts falsch zu machen? Show and Tell, heißt kurz gefasst diese Präsentation. Dass man dann liest, vergleicht, erinnert und verbindet, ist die unvermeidliche Fortsetzung.
Aber nicht nur der kulturbeflissenen Aufwärmung der Baugeschichte dient die Sammlung des Museums. Sogar zur Beweissicherung eines Bauschadens bei der Funkübertragungsstelle auf der Zugspitze wurden die Pläne im Archiv schon befragt: So ließ sich mit dem verwahrten Nachlass des Architekten Hans Maurer beweisen, dass nicht die Planung, sondern der falsche Betrieb der Anlage Schäden verursacht hatte.
Jäten, ergänzen, beschneiden
Der Griff in den Fundus ist für Andres Lepik auch eine Vergewisserung, welches Erbe er eigentlich angetreten hat. Es ist ein Kapitel klassischer Archivarbeit, das er hier mit seinen Kuratorinnen und Kuratoren aufschlägt. 30 Architekten haben zusätzlich für diese Schau ein Stück aus ihrem Werkfundus beigesteuert. Damit wächst der Bestand des Museums weiter. 550.000 Zeichnungen von 700 Architekten, 200.000 Fotos und 1100 Modelle hat man beim letzten Kassensturz gezählt. Es handelt sich um Nachlässe und Vorlässe (also zu Lebzeiten übergebenes Material), die in München zusammengetragen werden. Angesichts der Menge könnte der Verdacht aufkommen, dass hier alles genommen wird, dass das ehrgeizige Streben nach Umfang und Größe gar nicht mehr aufzuhalten ist. „Zum Wegwerfen zu schade!“ reicht indes nicht, es braucht den Gärtner, der Kulturen anlegt, jätet, ergänzt und beschneidet. Welche Strategie man künftig verfolgen will, diese Kriterien will Lepik erst noch entwickeln.
Ben von Berkel meint, dass Architekten eine Disziplin geerbt hätten, „in der sich das Konstruktive mit dem Reflexiven mischt“. Zu dokumentieren, Wort und Werk zu verknüpfen, gehört also selbstverständlich dazu, man kann das als breite Fortsetzung der Leistungsphase 9 betrachten. Der aktuelle Rückblick in die bis 1868 zurückreichende Lehrsammlung der „Königlich-Bayerischen Polytechnischen Hochschule zu München“ konfrontiert allerdings auch mit Methoden und Techniken der Archivierung. Dieses Problem tauchte auch auf, als Friedrich Achleitner dem Wiener Architekturzentrum seine 30.000 Dias vermachte. Wie sollte man sie nutzbar verwahren? Auf welches mottensichere digitale Medium übertragen? Floppys, Disketten, CDs, DVDs, Festplatten? In zwei Jahrzehnten haben sich die Speichermedien bald jahreszeitlich verändert. Aber wer kann sich um die Übertragung kümmern, wenn man den Inhalt regelmäßig einer neuen Technik hinterhertragen muss?
Arbeitsmittel mit ästhetischem Wert
Auch das Münchner Architekturmuseum versucht eine Lösung. Ein Indiz für die begonnene Digitalisierung sind die Karteikästen in der Ausstellung, die für Interessierte den Bestand nachweisen. Sie sind nicht mehr unersetzlich, da seit 1992 ihr Inhalt in Bits und Bytes den Kuratoren zur Verfügung steht. Ebenso kann das Publikum übers Internet auf die Sammlung zugreifen (http://mediatum.ub.tum.de/?id=647610) und sich nach einer Fernrecherche zusätzlich in die Kasematten der Materialsammlung führen lassen. Eine weitere Entwicklung sind Videoproduktionen, mit denen Zeitgenossen ihren persönlichen Beitrag zur Baugeschichte erzählen. Christiane Thalgott, Auer & Weber oder Otto Meitinger gehören zur ersten Staffel der Produktion.
Neue Medien sind dennoch kein Fetisch, dem man verfallen wird. Das Museum ist keine obligatorische Schnittstelle, das, über die BIM-Wolke mit den internationalen Architekten verlinkt, auf einen unbegrenzten Planfundus zugreifen möchte. Je mehr Material zur Verfügung steht, umso heikler sind Auswahl, Bearbeitung und reflektierende Nutzung. Denn es wird auch in Zukunft dabei bleiben: Die zwei- und dreidimensionalen Pläne aus den Büros sind Arbeitsmittel und keine autonomen Kunstwerke. Sie nehmen phasenweise wünschenswerte Bauwerke oder Freiräume vorweg und verhelfen zu ihrer Herstellung. Es gehört nur zu dieser Disziplin, dass selbst die Darstellung der Absicht einen ästhetischen Wert besitzt. Im Zenit der Postmoderne genoss sie mit einmaligen Originalen (Tusche und Buntstift auf Packpapier) ein Doppelleben. Im Architekturmuseum zählen sie als Ausdruck einer Epoche zum Bestand, belegen ein Fach im Archiv. In der aktuellen Ausstellung gibt es viel mehr zu erfahren, ein sprechendes Nebeneinander der Baukultur.
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