Große Pläne, kleine Schritte
Nachhaltige und energieeffiziente Stadtentwicklung in Deutschland und Europa
Text: Erhart, Tobias, Stuttgart; Herrmann, Monika, Stuttgart; Hettler, Frank, Stuttgart; Jansen, Karl-Josef, Stuttgart; Pietzsch, Ursula, Stuttgart
Große Pläne, kleine Schritte
Nachhaltige und energieeffiziente Stadtentwicklung in Deutschland und Europa
Text: Erhart, Tobias, Stuttgart; Herrmann, Monika, Stuttgart; Hettler, Frank, Stuttgart; Jansen, Karl-Josef, Stuttgart; Pietzsch, Ursula, Stuttgart
Die Ziele sind verkündet, Initiativen gestartet, Bündnisse geschmiedet: Europa will die Energieeffizienz bis 2020 um 20 Prozent steigern. Deutschland würde gern mit gutem Beispiel vorangehen. Unsere Autoren sind optimistisch.
Dass die Kommunen eine Schlüsselrolle in der nachhaltigen Entwicklung spielen, darüber herrscht heute weitgehend Konsens. Der Begriff „Nachhaltigkeit“ in der heutigen Bedeutung einer ressourcenschonenden Entwicklung, die auch künftigen Generationen eine Basis für eine gute Lebensqualität bietet, wurde zum ersten Mal 1987 im Brundtland-Report der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen formuliert. Bald darauf begannen einige skandinavische Städte mit der Umsetzung dieser Ideen – ohne freilich geeignete Mittel zur Kontrolle ihrer Maßnahmen zu haben, um Erfolg oder Misserfolg messen zu können.
Die vielen Wege der EU – 2020, 40-40-40, Bündnisse und Best Performance
Von den europäischen Städten gingen auch die ersten großen Initiativen zu einer nachhaltigen Entwicklung aus. Der wegweisenden Aalborg Charta im Jahr 1994 folgten 2004 die Aalborg Commitments. 2007 wurden von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union unter reger Beteiligung der deutschen Kommunen übergeordnete Ziele einer nachhaltigen Stadtentwicklungspolitik in der „Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“ festgelegt, so u.a. die „Stadt der kurzen Wege“, die „klimagerechte Stadt“, die „Stadt als Wirtschaftsstandort“ und die „Stadt des sozialen Ausgleichs“. Ein gemeinsames Anliegen ist es, die gewachsene europäische Stadt vor weiterer Zersiedlung und Polarisierung zu schützen und gleichzeitig den Herausforderungen des demographischen, klimatischen und wirtschaftlichen Wandels zu begegnen. Dabei geht es um eine nachhaltige Entwicklung im ganzheitlichen Sinn, in der Energieeffizienz als Klimaschutzstrategie nur ein Bereich unter vielen ist.
Die Sicherung der Energieversorgung der Städte in der Zukunft und die Chance für deutliche Kosteneinsparungen macht diesen Bereich allerdings zu einem wichtigen Strategieziel der EU. So fordert die ebenfalls 2007 beschlossene EU-Strategie „Europa 2020“, die im vergangenen Jahr erneut bekräftigt wurde, von den Mitgliedstaaten bis zum Jahr 2020 die Reduzierung der Treibhausgas-Emissionen um 20 Prozent im Vergleich zu 1990, die Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien auf 20 Prozent und die Steigerung der Energieeffizienz um 20 Prozent (die sogenannten „20-20-20“ Ziele). Eine Verdoppelung der geltenden EU-Ziele auf eine 40-40-40-Strategie für ausgewählte Kommunen innerhalb einer „Smart-Cities-Initiative“ wird derzeit in der EU diskutiert. Städte, die bereit sind, innovative Ideen zu realisieren, sollen hier exemplarisch einen systemischen Ansatz entwickeln und umsetzen, bei dem neben den gebäudeseitigen Maßnahmen zur Senkung des Verbrauchs auch die dezentrale Energieversorgung, neue Speichertechnologien und intelligente elektrische und thermische Netze sowie ein ausgeklügeltes Energiemanagement eine Rolle spielen.
Auch in anderen Initiativen wie etwa dem Klima-Bündnis oder „Energy Cities“, beide bereits 1990 gegründet, oder dem von der EU-Kommission 2007 ins Leben gerufenen Konvent der Bürgermeister/innen (Covenant of Mayors) formulieren die Städte eigene strategische Ziele zur Reduktion von Energieverbrauch und CO2-Emissionen, die über die 20-20-20-Strategie hinausgehen. Beim Klimabündnis ist eine Reduktion der CO2-Emissionen um 10 Prozent alle fünf Jahre angestrebt. Bei den beiden anderen Initiativen setzen die Städte individuelle Ziele in Energiekonzeptionen um.
Neben strategischen Forderungen realisiert die EU-Kommission durch die Förderung von Pilotprojekten Beispiele für energieeffiziente Musterquartiere, die schon heute ein Optimum an Energieeffizienz und eine hohe Versorgungsrate auf Basis erneuerbarer Energien aufweisen. Ein besonderes Förderprogramm zur nachhaltigen Stadtentwicklung wurde 2004 unter dem Namen CONCERTO aufgelegt: nicht einzelne Gebäude oder Technologien standen im Fokus, sondern ganze Stadtquartiere, verbunden mit einem optimalen Mix an Techniken zur Senkung des Energiebedarfs und zur Energieerzeugung aus nachhaltigen Rohstoffen. So sollte die bestmögliche Performance unter realen Bedingungen erreicht werden. Heute, sechs Jahre später, sind schon 58 Städte in 23 europäischen Ländern in die CONCERTO-Initiative eingebunden, die zusammen derzeit 530.000 Tonnen CO2 jährlich einsparen. Unter Federführung der Hochschule für Technik Stuttgart ging das „EU-Projekt POLYCITY – energy networks in sustainable cities“ im Jahr 2005 als eines der ersten der europäischen CONCERTO-Initiative an den Start – mit drei Projektgebieten: einem Neubaugebiet im Norden von Barcelona, einem Altbau-Sanierungsgebiet mitten in Turin und dem Scharnhauser Park bei Stuttgart, der später als Beispielprojekt detailliert vorgestellt wird. Drei weitere CONCERTO-Projektgebiete gibt es in Deutschland: in Hannover (act2), in Neckarsulm (energy in minds!) und in Weilerbach (SEMS).
Mit der EU über die EU hinaus – Annex 51
Der Handlungsbedarf ist groß, und die Zeit drängt. Deutschland hat mit der Energieeinsparverordnung (EnEV) und weiteren Regelungen zwar Maßnahmen zur Reduktion des Energieverbrauchs von Gebäuden und zur Förderung erneuerbarer Energien ergriffen, es fehlen jedoch noch Konzepte, wie die Forderung der Europäischen Union durch die öffentlichen Verwaltungen erfüllt werden kann. Vor dem Hintergrund zahlreicher alter Gebäude zeichnet sich ab, dass gesamtstädtische Energiekonzepte in Zusammenhang mit Förderprogrammen notwendig sind, da die Sanierung aller Altbauten auf sehr hohe energetische Standards nicht finanzierbar erscheint. Auch für den Verkehrsbereich, der in Deutschland immerhin für knapp 30 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich ist, fehlen bislang wirksame gesetzliche Vorgaben.
Über die EU hinaus zielt daher das Projekt „Annex 51 – Energy Efficient Communities“ der Internationalen Energieagentur (IEA), das von 2007 bis 2013 durchgeführt wird, auf die Entwicklung kommunaler Strategien, die durch kontinuierliche Optimierung auf gesamtstädtischer oder Quartiersebene zu erhöhter Energieeffizienz und CO2-Reduktion führen. Unter Beteiligung von 12 Mitgliedsländern – neben europäischen Staaten auch Japan, Kanada und die USA – wird zunächst der Sachstand analysiert, dazu zählen der Stand der Technik von Organisation, Umsetzungsinstrumenten und Planungswerkzeugen für Stadtverwaltung und Stadtentwickler sowie Stadtplaner. Darüber hinaus werden Fallstudien zur Energieplanung und Umsetzung von Energiekonzepten für städtische Quartiere erarbeitet, in Deutschland u.a. am Beispiel der baden-württembergischen Stadt Ludwigsburg, die seit den 1990er Jahren große Militärflächen für Wohnzwecke und öffentliche Belange nutzbar macht. Schließlich steht die Erarbeitung eines integrierten kommunalen Energie- und Klimaschutz-Konzeptes einschließlich der Umsetzungsstrategie im Mittelpunkt. Bis 2013 soll auf der Basis der Vorarbeiten ein Handbuch für erfolgreiche kommunale Energiepolitik herausgegeben werden.
Der deutsche Ansatz – Klimaschutz, globale Verantwortung und energieeffiziente Stadt
In Deutschland ist die Verwirklichung nachhaltiger Stadtquartiere in eine Strategie der „nachhaltigen Stadtentwicklungspolitik“ eingebunden, deren übergeordnete Ziele der Leipziger Charta entsprechen. Im Rahmen der Projektreihe „Für Stadt und Urbanität“ wurden seit 2008 rund 70 Projekte, unter anderem 12 Projekte im Handlungsbereich „Die Stadt von morgen bauen – Klimaschutz und globale Verantwortung“, vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) gefördert. Fünf dieser Pilotprojekte befassen sich mit der Entwicklung nachhaltiger und energiegerechter Stadtquartiere: „Energiegerechte Stadtentwicklung – Chancen für den Bestand durch energetisch innovative Neubaugebiete“ in München; „Quartier mit Weitsicht“ – Jenfelder Au in Hamburg; „Energiestadt Baumholder 2020; Wohnen am Veielbrunnen – LowEnergy als Standortfaktor“ in Stuttgart und „Zero Emission Park“ in Industriestandorten in Bremen, Kaiserslautern und Bottrop. Die Projekte aus München und Stuttgart verfolgen einen ähnlichen, relativ neuen Ansatz der Verbindung von Alt- und Neubaugebieten. So wird im Münchner Projekt die „energiegerechte Stadtentwicklung“ des 190 Hektar großen Neubaugebietes Freiham Nord mit der Sanierung der benachbarten 60er-Jahre-Bestandssiedlung Neuaubing verknüpft. Hier wird nicht nur der ökologische Anspruch an ein nachhaltiges Stadtquartier, sondern auch der soziale und ökonomische Aspekt integriert, da andernfalls im Bestandsquartier mit Wertverlusten der Immobilien und mit höheren Heizkosten durch steigende Energiepreise zu rechnen wäre.
Explizit um die Entwicklung energieeffizienter Stadtquartiere geht es hingegen bei der Forschungsinitiative „EnEff:Stadt“, die ebenfalls vom Bundeswirtschaftsministerium gefördert wird. Dieses Programm verbindet die Schwerpunkte der bisherigen Programme Energieversorgung (EnEff:Wärme) und Gebäude (Energieoptimiertes Bauen/EnoB). In Projekten wie „EnEff:Stadt Ludwigsburg“ werden integrierte Energie-Quartierskonzepte unter Einbindung innovativer technischer Ansätze entwickelt und mit der Gebäudeoptimierung kombiniert. Weitere Projekte im Rahmen der Forschungsinitiative EnEff:Stadt (in unterschiedlichen Stadien der Bearbeitung) befassen sich mit der modellhaften Stadtquartierssanierung (Freiburg Weingarten-West), der ökologischen Siedlungsentwicklung sowie der Sanierung und CO2-neutralen Wärmeversorgung von 50er-Jahre-Wohnanlagen (Kassel-Oberzwehren), dem Bau von Plusenergiesiedlungen (Ludmilla-Wohnpark Landshut) oder der Konversion von Militärbrachen zur Nullenergiestadt (Bad Aibling).
Mehr und mehr deutsche Städte erarbeiten energetische Ist-Analysen und darauf aufbauend Energiekonzeptionen, begleitet von kommunalem Energiemanagement. Damit geht eine Professionalisierung einher, die eine Kontrolle der gesetzten Ziele ermöglicht und das Knowhow zur systematischen Umsetzung liefert. Manche Städte haben damit schon früh begonnen, wie etwa Freiburg, wo der Gemeinderat bereits 1996 beschloss, die CO2-Emissionen bis zum Jahr 2010 um 25 Prozent gegenüber dem Jahr 1992 zu verringern und diese Zielvorgabe zu kontrollieren und fortzuschreiben. Seit einigen Jahren fördern verschiedene Wettbewerbe diesen positiven Trend, so etwa der Wettbewerb „Energieeffiziente Stadt“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (Gewinner 2010: Delitzsch, Magdeburg, Stuttgart und Wolfhagen), die „Bundeshauptstadt im Klimaschutz“ der deutschen Umwelthilfe (2010: Freiburg) oder regionale Wettbewerbe wie „Klima-Modellstadt“ im Ruhrgebiet, dessen Gewinnerin Bottrop in einem Modellgebiet mit 67.000 Einwohnern bis 2020 den Energieverbrauch um die Hälfte senken will.
Die Werkzeuge wären vorhanden – Planungsinstrumente und Gestaltungsspielraum
Mit der Stadtentwicklungsplanung gibt es ein Planungsinstrument, Leitbilder für eine nachhaltige Entwicklung aufzustellen und darunter alle Fachplanungen zu integrieren. Dennoch werden in deutschen Städten häufig sektorale Aspekte, etwa der Umweltplanung, der technischen Infrastruktur oder des Verkehrs, einseitig verfolgt, ohne dass sie ausreichend in ein gesamtstädtisches Entwicklungskonzept eingebunden werden. Außerdem scheint bei den meisten Maßnahmen der Energieeffizienz nicht vorrangig ein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungs- und Akzeptanzproblem zu bestehen.
Zwar werden die Rahmenbedingungen für Energieeffizienz und Klimaschutz auf europäischer, nationaler und Landesebene gesetzt, dennoch haben in Deutschland die Kommunen eine wichtige Schlüsselrolle. Im Rahmen der Planungs- und Finanzhoheit erhalten sie relativ große Gestaltungsspielräume. In Süddeutschland kommt außerdem dem direkt gewählten Oberbürgermeister eine starke Position zu. Einige Stadtoberhäupter nutzen diesen Spielraum gezielt und werden somit zu Vorreitern für Maßnahmen, die auf den übergeordneten Ebenen noch nicht politisch konsensfähig sind. Zusätzlich kann eine Kommune über Einrichtungen der Daseinsvorsorge wie eigene Stadtwerke und Wohnungsbaugesellschaften die Energie- und Wohnungspolitik mittelbar beeinflussen.
In Deutschland ist ein großes energetisches Know-how vorhanden. Dieses gilt es stärker als bisher vor Ort zu vermitteln, denn Energieeffizienz, Energiesicherheit und Energieautarkie sind Standortfaktoren der Zukunft. Die Nutzung heimischer erneuerbarer Energiequellen wie Biomasse, die
dezentrale Erzeugung von Wärme und Strom durch Kraft-Wärme-Koppelung, basierend auf nachwachsenden Energieträgern, auf Solarthermie, Geothermie und Photovoltaik, verbunden mit hohen Gebäudestandards, könnten in der Summe eine günstige städtische CO2-Bilanz ermöglichen, wenn gleichzeitig die durch den Verkehrsbereich verursachten Emissionen durch gute Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr möglichst gering gehalten werden, Maßnahmen für den nicht-motorisierten Verkehr und begleitende restriktive Maßnahmen erfolgen sowie eine hohe Kompaktheit der Stadt erreicht wird.
dezentrale Erzeugung von Wärme und Strom durch Kraft-Wärme-Koppelung, basierend auf nachwachsenden Energieträgern, auf Solarthermie, Geothermie und Photovoltaik, verbunden mit hohen Gebäudestandards, könnten in der Summe eine günstige städtische CO2-Bilanz ermöglichen, wenn gleichzeitig die durch den Verkehrsbereich verursachten Emissionen durch gute Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr möglichst gering gehalten werden, Maßnahmen für den nicht-motorisierten Verkehr und begleitende restriktive Maßnahmen erfolgen sowie eine hohe Kompaktheit der Stadt erreicht wird.
Jenseits der grünen Wiese – Bewertungssysteme für nachhaltige Städte
Die bekannteste Zertifizierung für den Grad der Energieeffizienz in Städten ist der „European Energy Award“. Aber bislang fehlen für Deutschland geeignete Instrumente, um die Nachhaltigkeit von Planungen im Sinne der Leipziger Charta zu bewerten. Auch unter den internationalen Zertifizierungsmethoden erschien keine geeignet, den hohen interdisziplinärenAnsprüchen zu genügen. Nach der Einführung des Zertifizierungssystems der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) für Gebäude, das als einziges Nachhaltigkeitszertifizierungssystem in Deutschland vom BMVBS empfohlen wird, wurde verstärkt ein solches Instrument auf städtischer Ebene diskutiert. Fast zeitgleich bildeten sich eine Arbeitsgruppe aus der DGNB heraus und eine Arbeitsgruppe unter Beteiligung des Deutschen Verbands. Die Arbeitsgruppe der DGNB in Stuttgart hat einen Kriterienkatalog erarbeitet (Hauptkriterien sind die ökologische, ökonomische, soziokulturelle, funktionale und technische Qualität sowie die Prozessqualität) und prüft dessen Wirksamkeit derzeit anhand ausgewählter Pilotprojekte in Deutschland, Luxemburg und Lettland. Anschließend werden die gewonnenen Erkenntnisse aus der Pilotphase eingebunden.
Diese Bemühungen verdeutlichen die Komplexität nachhaltiger Planungen auf einer größeren Maßstabsebene und die Notwendigkeit, dafür geeignete Strategien auf städtischer Ebene zu finden. Denn das Nullenergiehaus fernab jeder Siedlung vernachlässigt den Aspekt des induzierten Energieverbrauchs, der beispielsweise durch zusätzliches Verkehrsaufkommen und fehlende Infrastrukturausstattung entsteht und damit wieder das Ziel der kompakten Stadt der Leipzig Charta unterstreicht.
So optimal wie möglich – Anwendungsbeispiel Scharnhauser Park
Wie eine nachhaltige und energieeffiziente Stadt der Zukunft aussehen könnte, zeigt der Stadtteil „Scharnhauser Park“ in Ostfildern bei Stuttgart, der 2006 den Deutschen Städtebaupreis erhielt. Hier haben Stadtplaner, Stadtwerke, Investoren und Wissenschaftler zusammengearbeitet, um einen ganzen Stadtteil so optimal wie möglich nach nachhaltigen Gesichtspunkten zu gestalten. Das Quartier ist Teil des EU-Projekts POLYCITY, das vom Forschungszentrum Nachhaltige Energietechnik (zafh.net) an der Hochschule für Technik Stuttgart koordiniert wird. Durch die Konversion eines 150 Hektar großen Militärgeländes entsteht hier seit 1996 ein ökologisches Stadtviertel für etwa 8000 Bewohner mit 2000 Arbeitsplätzen. Die mittlere Dichte der Geschosswohnungsbauten liegt bei einer GFZ von 1,2. Im Norden wurden die lang gestreckten ehemaligen Offiziersgebäude saniert und durch neungeschossige schlanke Türme ergänzt. Eine Landschaftstreppe durchzieht den Stadtteil mit einer Breite von 40 Metern auf mehr als einem Kilometer Länge, sie ist Landschaftspark und zugleich wesentliches Element des Oberflächenwassermanagements. Westlich der Landschaftstreppe wurden im Rahmen von Workshopverfahren und Wettbewerben verdichtete Neubauquartiere mit verschiedenen Wohntypologien entwickelt. Hier wurden mit einer GFZ von bis zu 1,8 die höchsten Dichtewerte im Wohnungsbau des Quartiers erzielt. Im Osten wurden auf kleinen Grundstücken die Struktur der ehemaligen Mannschaftsquartiere mit Reihenhäuser nachempfunden. Den südlichen Abschluss bilden Gewerbe- und Mischstrukturen. Eine von der Gebäudetypologie abhängige Höhendifferenzierung führt zu optimaler Besonnung der Gebäude. Die Stadtbahn, realisiert zum Siedlungsbeginn, verbindet den Stadtteil mit dem Stadtzentrum und den Gewerbestandorten auf den Fildern.
Energieeffiziente Maßnahmen für Neu- und Altbau
Das Besondere an diesem Stadtteil ist, dass hier keine Energie-Bestandsanalyse nach bestimmten Kriterien hochgerechnet wurde, sondern sämtliche Energieflüsse gemessen wurden.
Energie für Heizung, Warmwasser und Strom liefert ein Biomassekraftwerk mit einer elektrischen Leistung von 1 MW und einer thermischen Leistung von 6,3 MW, das mit Landschaftspflegeholz und Waldholz aus der Region befeuert wird. Die Stromerzeugung erfolgt über einen sogenannten Organic-Rankine-Cycle (ORC), einen Dampfturbinenprozess mit organischem Arbeitsmedium, der ohne hohe Temperaturen und Drücke betrieben wird und sich somit gut mit Biomassefeuerungen kombinieren lässt. Die Leistung des ORC-Biomasseheizkraftwerks wurde über die Jahre im Detail analysiert: Mehr als 80 Prozent der Heizenergie und 50 Prozent des Strombedarfs wird durch das KWK-System gedeckt, so dass man von einem fast energieautarken Stadtteil sprechen kann.
Für den Energieverbauch hatte die Stadt Ostfildern bereits 1995 Gebäudeenergiestandards von 25 Prozent unter dem zu diesem Zeitpunkt existierenden nationalen Standard (WärmeSchutzVerOrdnung 1995) für das Gelände festgelegt. EU-Zuschüsse gab es allerdings nur für Gebäude mit noch niedrigeren Standards: einem Verbrauch, der 40 Prozent unter dem durchschnittlichen Endenergieverbrauch der seinerzeit geltenden EnEV 2002 von etwa 90 kWh/mµa liegen sollte (und damit schon der heutigen Gesetzeslage in Deutschland entsprach). Für Wohngebäude bedeutete dies 56 kWh/mµa und für Bürogebäude 50 kWh/mµa Heizenergie. Die Projektziele für den Stromverbrauch lagen für Wohngebäude bei 28 kWh/mµa und für Bürogebäude bei 35 kWh/mµa. Für die Kühlung von Bürogebäuden galt es 30 kWh/mµa einzuhalten. Verschiedene Gebäude im Bereich Wohnen, ein Jugendzentrum und ein Bürogebäude wurden unter diesen optimierten energetischen Gesichtspunkten geplant und gebaut und unterliefen ein detailliertes Monitoring.
Ein Bürogebäude mit einer Fläche von 3280 mµ wird durch die Wärme des ORC-Biomassenheizkraftwerkes geheizt und gekühlt. Im Winter strömt die Heizenergie durch die thermisch aktivierten Decken und wird zusätzlich den Luftkonvektoren zugeführt. Die sommerliche Kühlung erfolgt ausschließlich über die Betonkerndecke und funktioniert mittels einer wärmebetriebenen Absorptionskältemaschine mit einer Kühlleistung von 105 kW. Diese ist direkt mit dem Fernwärmenetz verbunden und liefert etwa zwei Drittel des gesamten Kühlenergiebedarfs des Gebäudes (180 MWh).
Auch im Gebäudebestand wurden Verbesserungen der Energieeffizienz erfolgreich praktiziert, wobei die Einsparpotenziale bei Neubauten mit hohem Dämmstandard vor allem im Bereich der Regelungstechnik und beim elektrischen Energiebedarf lagen. Beispielsweise stand im Stadthaus, wo die Volkshochschule, eine Bibliothek, eine Kunstgalerie und ein Teil der Stadtverwaltung untergebracht sind, die Reduzierung des Stromverbrauchs von einem Niveau von mehr als 40 kWh/mµa im Blickpunkt. Mit geringem materiellem Einsatz konnten hier beachtliche Einsparresultate erzielt werden. Neben der Installation eines Energiemonitorings und einzelner Veränderungen bei der Beleuchtungssteuerung sowie einer LED-Ausstattung des Aufzugs wurde vor allem durch einfache Maßnahmen wie abschaltbare Steckdosenleisten, Zeitschaltuhren und entsprechende Anleitungen für die Nutzer eine Reduktion von mehr als 50.000 kWh pro Jahr erzielt, was einer Kosteneinsparung von rund 10.000 Euro pro Jahr entspricht. Ebenso wie das Stadthaus hatte auch die Sporthalle im Scharnhauser Park in der Vergangenheit hohe Kennwerte zu verzeichnen, die im Laufe des Projekts um 30.000 kWh/a deutlich gesenkt werden konnten.
Mit Hilfe des Energiemonitorings konnten die Verbrauchswerte bei allen in das Projekt einbezogenen Bestandsgebäuden auf niedrigem Niveau gehalten bzw. weiter abgesenkt werden. Einsparmaßnahmen oder Verbrauchsanstiege sind durch automatische Zähleraufschaltungen mit Alarmmeldungen zeitnah erkennbar, und weitere Schritte können eingeleitet werden.
Ein ungewöhnlicher Bestandteil des Projekts ist neben der tatsächlichen Messung die Transparenz der Verbrauchsdaten. Die Energieverbrauchsdaten für alle Gebäude im Stadtteil werden in ein Geoinformationssystem eingegeben und auf der Projekt-Homepage (www.polycity.net) öffentlich visualisiert. So können die Anwohner den jährlichen Wärmeverbrauch für ihren Gebäudetyp einsehen und prüfen, ob ihr Haushalt unter oder über dem durchschnittlichen Verbrauch liegt. Auch zusätzliche Informationen wie das Solarpotenzial aller Dachflächen für Photovoltaik-Anlagen sind individuell für jedes Gebäude im Projektgebiet online abrufbar.
Nicht für die Schublade planen
Die Stadt Ostfildern hat bei der Entwicklung des Scharnhauser Parks vor über fünfzehn Jahren bereits Grundlagen für einen nachhaltigen Stadtteil geschaffen und kann heute die Vorteile einer solch vorausschauenden Planung nutzen. Der Stadtteil erreicht eine hohe Versorgungsautarkie. Das Gesamt-Monitoring des Scharnhauser Parks hat gezeigt, dass Niedrigenergie-Gebäudestandards im städtischen Maßstab erreicht werden können. Bei den öffentlichen Gebäuden zeigt sich, dass ein gutes Energiemanagement bereits mit teils recht kostengünstigen Maßnahmen sehr gute Resultate bringt. Die CONCERTO-Gemeinden arbeiten gegenwärtig an einer gemeinsamen Datenbank, die sämtliche innovative Versorgungstechnologien und Gebäudekonzeptionen vorstellt und Planern einmal eine Entscheidungshilfe sein kann. Gute Ideen sollen schließlich nicht in der Schublade verstauben. Vor allem nicht, wenn die Ziele hochgesteckt sind und die Zeit drängt: das Jahr 2020 ist nicht einmal mehr eine Dekade entfernt.
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