Hamburg visionär
Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zeigt Grafiken aus den 20er Jahren, die ein Stadtbild jenseits einer moderaten Backstein-Moderne zeichnen
Text: Bartels, Olaf, Hamburg
Hamburg visionär
Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zeigt Grafiken aus den 20er Jahren, die ein Stadtbild jenseits einer moderaten Backstein-Moderne zeichnen
Text: Bartels, Olaf, Hamburg
Über die Architektur der 20er Jahre scheint alles gesagt zu sein, aber hier und da gibt es doch noch Entdeckungen zu machen. In den Zwischenkriegsjahren galt Hamburg, mit seinem einflussreichen Bau- und späteren Oberbaudirektor Fritz Schumacher, nicht unbedingt als Hochburg des Neuen Bauens. Auch wenn Gustav Oelsner, Bausenator im benachbarten, damals noch preußischen Altona, mit seinen öffentlichen Bauten radikalmoderne Akzente setzt, herrschte in beiden eng verflochtenen Städten eine moderat moderne Haltung vor – zwei beschaulich, mehr oder weniger unaufgeregte Backsteinstädte, möchte man meinem.
Vor diesem Hintergrund bergen die Funde von Kurator Jürgen Döring im Magazin und in jüngsten Inventarzugängen des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe einige Überraschungen. Unter dem Titel „Hamburg in den 20er Jahren“, zeigt das Museum mehr als 40 bislang weitgehend unbekannte oder selten gezeigte Stadtansichten und Architekturvisionen von Grafikern, Künstlern und Architekten aus den Jahren zwischen 1919 und 1934.
Am stärksten beeindrucken die großformatigen expressionistischen Stadtvisionen des Architekten Max Gerntke (1895–1964) aus den frühen 20er Jahren, der mit seinem Partner Heinrich Esselmann bis in die 30er Jahre ein erfolgreiches Architekturbüro führte. In den ärmlichen Jahren direkt nach dem Ersten Weltkrieg, aber offenbar auch seine Alltagsarbeit als Architekt begleitend, bewahrte sich Gerntke die Kraft für visionäre Entwürfe, die er in – nicht realisierten, aber sehr konkret gefassten – Vorstellungen einer mondänen Großstadt noch 1928/1930 so ernsthaft präsentierte, dass sie als direkt baubar erschienen.
Von idealen Vorstellungen einer ausdrucksvolleren Stadt künden auch die Arbeiten des Grafikers und Bühnenbildners Karl Gröning. Die Mappe „Aufbau“ belegt seinen Formwillen für ein neues Erscheinungsbild des Hamburger Hafens. Gröning entwarf Speicher und Schwimmdocks, wie sie auch in Filmen von Paul Wegener oder Fritz Lang hätten vorkommen können. Ähnlich expressiv stellt sich Rolf Nesch die Brücken seiner Heimatstadt vor, während Paul Helmsʼ Holzschnitte das Leben im damals neuen Haus der konservativen Berufsorganisation des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbands visualisieren, das die Architekten Ferdinand Sckopp und Wilhelm Vortmann 1919–21 errichteten.
Die Zeichnungen, Gouachen, Lithografien, Metalldrucke, Holz- und Scherenschnitte ergänzen bzw. korrigieren das gängige Bild von den Vorstellungen, die Hamburger Künstler und Architekten jener Zeit von ihrer Stadt entwickelten, ganz wesentlich. Zu dem Bemühen um eine zurückhaltende, bedachte, um eine moderate Erneuerung von Architektur und Stadtbild gehörte eben wohl auch ein erhebliches Maß an visionärer Kraft. Die ist in der kleinen Ausstellung gut spürbar. Man vermisst: einen Katalog.
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