Konzept und Notation
Bernard-Tschumi-Retrospektive im Pariser Centre Pompidou
Text: Rau, Cordula, München
Konzept und Notation
Bernard-Tschumi-Retrospektive im Pariser Centre Pompidou
Text: Rau, Cordula, München
Es ist die erste große Ausstellung über Bernard Tschumi in Europa. Dafür hat der Architekt sein reichhaltiges Archiv geöffnet und selbst als Ausstellungsgestalter Hand angelegt, wobei er ausgiebig seine Lieblingsfarbe Rot verwendete.
Der Kurator Frédéric Migayrou, Chef der Architekturabteilung des Centre Pompidou, präsentiert Tschumi, der in Lausanne geboren wurde, heute in New York und Paris lebt und arbeitet und Anfang Januar siebzig geworden ist, als Theoretiker, Lehrer und bauenden Architekten.
Tschumis bis heute wohl bekanntestes Werk: die roten „Folies“ im Parc de la Villette im Nordosten von Paris. Den prestigeträchtigen Wettbewerb gewinnt er 1982 gegen große internationale Konkurrenz. Viele weitere Projekte in aller Welt folgen: in Limoges, Dijon, Cincinnati, New York, Athen. Mit zwei Schaukästen, einer Unzahl von Bildern und einem Video widmet sich der Ausstellungsauftakt Tschumis Biografie. Er wächst in Paris und Lausanne auf, beginnt früh zu reisen, studiert Architektur an der ETH Zürich. Ab 1970 unterrichtet er an der Architectural Association in London. 1976 geht er nach New York. Von 1988 bis 2003 ist Tschumi Dekan der Architekturfakultät an der Columbia University.
Der Rundgang im Hauptraum beginnt in New York mit frühen Skizzen und theoretischen Arbeiten wie Screenplays, Advertisements for Architecture – und Tschumis ambitioniertem Theorie-Werk The Manhattan Transcripts. Mit der Serie von Zeichnungen aus den Jahren 1976 bis 1981 versucht er, die komplexe Beziehung zwischen Architektur, der Bewegung des Körpers und dem realen Raum darzustellen; im Centre Pompidou erschließt sich dem Besucher das Kapitel The Street, ausgebreitet über fast zehn Meter Länge, quasi im Vorbeigehen.
Migayrou fächert Tschumis thoretisches und gebautes Werk anhand des Begriffspaars „Konzept und Notation“ auf: Es gebe für ihn keine Architektur ohne Idee oder Konzept, ebenso wenig wie es Architektur gebe ohne eine Methode der Notation; und Architektur sei keine Formstudie, sondern eine Form der Erkenntnis. In fünf Kapiteln werden die Ideen des Architekten anhand von 45 bekannten und weniger bekannten Projekten veranschaulicht, angefangen vom Parc de la Villette – unter dem Stichwort „Space and Event“ sind Diagramme, Renderings und Modelle der roten Pavillons zu sehen – bis zu späteren Bauten wie dem Akropolis-Museum (2001–2008) im Kapitel „Concept, Context, Content“. Ende der 80er Jahre regt Tschumi an, das Wort Fassade durch das architekturhistorisch nicht vorgeprägte Envelope (Umschlag) zu ersetzen und durch den Begriff Vektoren zu ergänzen. Damit adressiert er zwei Haupfunktionen von Architektur: die schützende Hülle und die Kanalisierung von Bewegung im Raum. Im Abschnitt „Vectors and Envelopes“ werden als Beispiele die Konzerthallen in Rouen und Limoges und das Headquarter von Vacheron Constantin in Genf präsentiert.
Vitrinen, die die Projektdarstellungen begleiten, erlauben einen vertiefenden Einblick in Tschumis Schaffensprozess: Entwurfs-„Spiele“, Material-Forschung, Darstellungstechniken vor und nach dem Beginn des digitalen Zeitalters, Bücher und Quellen anderer Disziplinen, die Tschumi beeinflussten, wie Film, Literatur, Kunst und Philosophie. Man entdeckt Italo Calvinos Le città invisibili, Verweise auf Roland Barthes, James Joyce und den sowjetischen Filmregisseur Sergej Eisenstein. Wie der Parcours begonnen hat, so endet er: in Paris – mit dem kürzlich wiedereröffneten Zoo von Vincennes.
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