Bauwelt

„Koolhaas instrumentiert historische Materialien. Ich versuche es etwas anders“

Frankreich

Text: Kabisch, Wolfgang, Paris

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    Die Hauptattraktion im französischen Pavillon: das Modell der "Villa Arpel" aus Jaques Tatis Film "Mon Oncle" (1958)
    Andrea Avezzù Courtesy la Biennale di Venezia

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    Die Hauptattraktion im französischen Pavillon: das Modell der "Villa Arpel" aus Jaques Tatis Film "Mon Oncle" (1958)

    Andrea Avezzù Courtesy la Biennale di Venezia

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Jean-Louis Cohen

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Jean-Louis Cohen


„Koolhaas instrumentiert historische Materialien. Ich versuche es etwas anders“

Frankreich

Text: Kabisch, Wolfgang, Paris

Interview mit Jean-Louis Cohen über das Pavillonthema "Modernity: Promise or Menace?"
Bei der diesjährigen Architekturbiennale will der Direktor Rem Koolhaas die nationalen Pavillons thematisch stärker einbinden. Sind Sie damit einverstanden?
Es ist interessant, dass die Biennale stark „historisch“ ausgerichtet wird. Koolhaas will zum ersten Mal einen Gesamtüberblick über die Moderne zeigen. Bisher haben die einzelnen Länder bei den verschiedenen Biennalen ihre eigenen Tiere wie in einem Zoo gezeigt. Nun könnte es zum ersten Mal mehr wie ein Chor oder Orchester aussehen.
Welche Rolle spielt denn die Moderne für Sie?
Ich antworte auf das Programm von Koolhaas mit einer kritischen, vielleicht auch pessimistischen Darstellung der französischen Entwicklung unter dem Titel „La Modernité – Promesse ou Menace“, also die Moderne als Versprechen oder Bedrohung. Ich sehe die Moderne nicht nur als eine Architektursprache oder als einen Stil, sondern vielmehr als eine Stellungnahme gegenüber der Gesellschaft.
Und spielt die Moderne in der französischen Architektur heute eine Rolle? Gibt es überhaupt noch eine spezifisch französische Architektur?
Ich glaube nicht, dass es im Augenblick eine französische Architektur gibt. Sie kann von Franzosen oder anderen Architekten entworfen werden. Für mich ist dieses „Spannungsfeld Frankreich“ durch drei Faktoren charakterisiert: Erstens ein „konstruktives Temperament“. Sigfried Giedion hat schon 1928 die französischen Eisenskelettbauten des 19. Jahrhunderts als Vorläufer der modernen Architektur beschrieben. Der zweite Faktor ist für mich der lange Schatten der Ecole des Beaux-Arts. Die Architekturabteilung wurde zwar 1968 geschlossen, aber ihre Schüler haben immer noch Einfluss. Schließlich und drittens die Politik oder der Einfluss des Staates. Auf allen Ebenen, selbst wenn inzwischen we­niger öffentlich gebaut wird, hat der Staat durch die Festlegung von Normen und bei der Finanzierung eine Bedeutung.
Es gibt viele französische Architekten, die in diesem Zusammenhang vom „french touch“ reden. Was ist das für Sie?
Für mich ist das kein Begriff. Es ist Reklame. Ich sehe darin keinen Inhalt.
Gab es bei der Vorbereitung Ihrer Ausstellung etwas, was Sie selbst überrascht hat?
Diese Biennale ist ja „historisch“. Zeitgenössische Architektur kommt eher in dem von mir edi­tierten Katalog vor, wo ich die Hauptthemen des Pavillons breiter behandele. Im Pavillon erzähle ich eine Geschichte der Geschichte, die sich über den Zeitraum 1935 bis 1975 erstreckt. Ich stelle in den vier Räumen vier Episoden der Moderne vor. An den Wänden ist rundherum ein Film zu sehen, der das neue Bauen der 50er Jahre , Ausschnitte aus Filmen von Jacques Tati und Jean-Luc Godard zusammen mit Reklamefilmen zeigt.
Stellen Sie aber auch konkrete Architektur vor?
Ja! Vorrangig gibt es dreidimensionale Ausstellungsstücke zu vier Themen: Dazu gehört die Villa Arpel von Jaques Tati aus seinem Film „Mon Oncle“ von 1958. Die Filmarchitektur hier als Beispiel für eine verführende und gleichzeitig irritierende Moderne. Dann zeige ich Arbeiten von Jean Prouvé: acht Metallpaneele verschiedener Bauten. Prouvé war ständig auf der Suche nach einer Alternative zum Beton. Zwischen 1958 und 1973 hat er für seine Projekte und seine Vorlesungen einmal pro Woche Bauteile aus Metall entworfen und sie aufgezeichnet. Prouvé ist allerdings gescheitert, weil seine Ideen von Architekten nur als Komponenten verwendet wurden, nicht als System. Zum Dritten kann man im Pavillon „Die Platte“ sehen, als „siegreiche Alternative“. Die französische Wohnbau-Platte von Camus wurde damals übrigens in die BRD und in die DDR exportiert. Von da aus breitete sie sich weiter aus, nach Russland; von Russland nach Kuba und Chile. Schließlich wird die Siedlung „La Muette“ bei Drancy dokumentiert. Am Anfang (1935) galt sie als ein sehr raffiniertes Experiment für die Vorfertigung. Das Projekt war hoch spannend. Aber es folgte eine tragische Geschichte! Ab 1940 wurden die Bauten in ein deutsches Lager und später in ein Konzentrationslager umgewandelt. Ich will damit nicht sagen, dass alle Großsiedlungen quasi Lager sind. Aber dass die Lage, die außerstädtische Situation dieser Siedlung mit ihrer Isolation nicht „lebbar“ war. Die Gesamtstimmung im Pavillon wird also eher skeptisch sein. Ich erkenne die Qualität der Entwürfe und Arbeiten von Prouvé, Beaudouin, Lotz und auch von Camus an, aber zugleich zeige ich deren Probleme und Grenzen.
Glauben Sie, dass alle nationalen Kommissare dem Leitthema von Koolhaas folgen werden?
Koolhaas ist der vielleicht klügste Architekt unserer Zeit. Das muss man anerkennen. Ich weiß nicht, wie ich es höflich ausdrücken soll. Koolhaas ist kein Historiker. Er instrumentalisiert historische Materialien, um seine Geschichte zu erzählen. Es gibt keine Interpretation der kausalen Faktoren. Es wird alles ohne Interpretation vorgestellt. Ich versuche es ein wenig anders.
Wenn Sie heute Frankreich sehen, welche Architektur ist für die Entwicklung wichtig?
Ich sehe eine interessante Gruppe von Architekten, die keine großen Formen entwerfen, son­-dern interpretieren, was schon existiert. Ich denke an Lacaton & Vassal, an Patrick Bouchin oder Alexandre Chemetoff im Bereich der Landschaft. Das wird vielleicht eine Zukunft haben.
Das Interview führte Wolfgang Kabisch
Fakten
Architekten Cohen, Jean-Louis, New York
aus Bauwelt 21.2014
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