Bauwelt

„Lange vor der Fertigstellung waren die Plätze in der Schule ausgebucht“

Zum Entwurfsprozess der Schule in Uto

Text: Rabe, Henrik, Berlin

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Foto: Sadao Hotta

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Diagramm (Ausschnitt): CAt

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Diagramm (Ausschnitt): CAt


„Lange vor der Fertigstellung waren die Plätze in der Schule ausgebucht“

Zum Entwurfsprozess der Schule in Uto

Text: Rabe, Henrik, Berlin

Die meisten japanischen Schulen stammen aus den 50er und 70er Jahren. Während die Schulen der 50er Jahre für die acht Millionen Schüler der sogenannten Ersten-Babyboom-Generation (Geburtsjahre 1947–1949) gebaut wurden, entstand zwanzig Jahre später der größere Teil der Schulen für deren Kinder, für die Zweite-Babyboom-Generation.
Als Zeichen der rasanten Entwicklung von Japans Wirtschaft und Ingenieurwesen erinnern diese Schulgebäude an ost­europäische Plattenbau-Schulen: lange Korridore und viele aneinander gereihte Klassenzimmer prägen das Bild. Doch nicht nur die Architektur, auch das Lernklima in diesen Bauten ist nicht mehr zeitgemäß: Die Gebäudetypen und ihre Raumanordnung vermitteln den Eindruck, als würden sie den autoritären und frontalen Unterricht geradezu bedingen und keine anderen Formen des Lernens zulassen.
Dass dieser Typus in Japan überkommen ist, ist auch der ausdauernden Forschungsarbeit von Kazuhiro Kojima, Kazuko Akamatsu und ihrem Büro CAt zu verdanken und dem Erfolg ihrer innovativen Schulbauten. Die Schulen von CAt in der neuen Tokioter Vorstadt Mihama etwa sind so beliebt, dass mehr und mehr junge Familien gerade wegen dieses Angebots dorthin ziehen. Dort konnten die Architekten inzwischen bereits die dritte Grundschule realisieren; schon lange vor Fertigstellung der Gebäude sind diese Schulen durch Vormerkungen „ausgebucht“: eine paradoxe Situation angesichts einer der niedrigsten Geburtenraten weltweit. Was unterscheidet Schulentwürfe von CAt von anderen Bauten dieses Typus’?
Hakuo Oberschule: Black and White Space
Kazuyo Sejima hat sich mit einem bemerkenswerten Statement über ihre Kollegen und deren Arbeitsweise geäußert: „I feel that our abstraction is somehow a process of constantly stripping away the excess, but the abstraction of CAt seems to be a process of incorporating various things.“ Eines der ersten räumlichen Schulkonzepte, das die Architekten von CAt im Rahmen ihrer systematischen Beschäftigung mit dem Schulbau umgesetzt haben, beruht auf der Unterscheidung in „schwarze“ und „weiße“ Räume, dem sogenannten „Black and White Space“-Vorgehen. Während des Entwurfsprozesses werden Räume mit einer festgelegten Nutzung – wie beispielsweise das Badezimmer eines Hauses – als sogenannter „Black Space“ definiert und im Grundriss schwarz eingefärbt. Räume, deren Nutzung frei bestimmt werden kann, fallen unter die Kategorie „White Space“ und bleiben in der Zeichnung weiß. Die japanischen Grundschulen der 50er und 70er Jahre – analysiert man sie nach diesem Raster – bestehen fast ausschließlich aus „Black Space“. Sowohl die Klassenzimmer als auch die Korridore, die mit ungefähr zwei Metern Breite nur der Erschließung dienen, fallen in diese Kategorie.
In der Hakuou Oberschule von CAt aus dem Jahr 2001 (Heft 46.01) wird das Konzept des White Space auf folgende Weise angewandt: Statt der Korridore gibt es 6,5 Meter breite Erschließungszonen. In dieser sogenannten „Flexible Learning Area“ (FLA) regt eine durchdachte und vielfältige Möblierung viele neue Nutzungen an: Die Schüler können ihre Pausen hier verbringen oder in Freistunden Hausauf­gaben machen; informelle Unterrichtsstunden, Lern- und Nachhilfegruppen können stattfinden. Der hier erstmals realisierte Raumtyp der Flexible Learning Area wird von CAt in den folgenden Jahren in Dutzenden von Schulen und Universitätsgebäuden in Japan, Asien, Zentralasien und Fernost eingesetzt und systematisch weiterentwickelt.
Mihama Grundschule: Open School
Parallel zur Entstehung der Flexible Learning Area arbeiten die Architekten am Konzept einer „Open School“. Ein frühes Beispiel für das Modell der offenen Klassenräume ist die Utase Grundschule, die 1995 von Kojima, Akamatsu und CAt in Mihama gebaut wurde. Diese Grundschule erhielt damals die höchste Architekturauszeichnung Japans, den AIJ-Preis. Auf eindrückliche Weise setzte sie Einsichten aus der Kritik am japanischen Schuldesign und am Bildungssystem um, die auf die 70er Jahre zurückgehen. Damals schon hatte man in Schulen mit offenen Klassenräumen experimentiert, wie etwa bei der Ogawa Grundschule in Aichi (1978) und der Miyamae Grundschule in Meguro (1985). Das Konzept der Open School fand von Anfang an Befürworter, stieß aber auch auf Gegner. Die Gründe für die Kritik lagen nicht nur in befürchteten akustischen Problemen. Die Lehrer mussten ihre Lehrmethoden der Architektur anpassen, was Unwillen hervorrief. Zudem war in den ersten Beispielen für das Open-School-Konzept der Raum zwar offen, blieb ansonsten aber meist ungestaltet.
Im Gegensatz dazu stellen Kojima, Akamatsu und CAt bei der Gestaltung der Mihama Grundschule in der Nähe von Tokio (2006) das Open-Space-Prinzip ganz in den Vordergrund. Die Klassenräume sind einseitig offen, zur erschließenden Flexible Learning Area hin. Diese verbindet alle Klassenräume miteinander. Unterschiedlich dimensionierte Räume, Möblierung und Beleuchtung unterstützen vielfältige Nutzungen. Diese wurden schon während der Entwurfsphase simuliert und direkt in die Planung übersetzt. Damit sich die Klassen nicht gegenseitig stören, wurde mit einem Akustikspezialisten der Meiji Universität eine spezielle Bauweise entwickelt – eine sorgfältige Anordnung der Wände, eine profilierte Decke und wenige minimale Glaselemente bewältigen die akustischen Anforderungen. Die Schule in Mihama demonstriert vorbildhaft, wie mit nicht-frontalen Lehrmethoden ein neues Lernklima entstehen kann.
Uto Grundschule: Das offene L
Im Februar 2008 nehmen Kazuhiro Kojima und Kazuko Akamatsu am Wettbewerb für die neu zu errichtende Grundschule in Uto in Südjapan teil. Deren altes Gebäude entspricht nicht mehr den Sicherheitsanforderungen für Erdbeben und muss deshalb abgerissen werden. Bei der Ortsbesichtigung sind die Architekten vom Baumbestand auf dem Gelände der alten Schule beeindruckt. Sie beschließen – gerade auch wegen des heißen und feuchten Klimas in Südjapan –, das Bild des Unterrichts unter einem Baum zum metaphorischen Leitmotiv ihres Entwurfs zu machen. Das Konzept, das sie aus dieser Metapher entwickeln, ist spektakulär: Nur eine einzige tragende L-förmige Wand bildet das Rückgrat für jeden Klassenraum. Die Nutzung der Klassenräume wird dadurch noch offener als in ihren früheren Entwürfen; der Unterricht kann sich jetzt über die Flexible Learning Area hinaus ausbreiten – umgekehrt können aber auch die Aktivitäten außerhalb des Unterrichts in die Klassenräume zurück verlagert werden. Das Konzept des Black and White Space wird bei dieser Raumkonzeption obsolet: Nicht nur die Erschließungszone, auch die Klassenräume werden hier zum White Space; Black Space ist kaum mehr vorhanden.
Der Innenraum wird von einer flexiblen Fassade aus gläsernen Faltelementen umschlossen. Je nach Jahreszeit, Temperatur und Windstärke werden nur einige oder viele Elemente geöffnet. Bei heißem Wetter kann der Innenraum auch ganz zum Außenraum werden. Um dieses Konzept umsetzen zu können, wurden während des Entwurfsprozesses mit Hilfe von CFD (Computational Fluid Dynamics) Windströme simuliert und die Anordnung der L-Wandscheiben so lange verschoben, bis sie der Anforderung – Durchlüften ohne Zugluft – genüge taten. Nach langen Tests konnte in Uto auf künstliche Klimatisierung fast vollständig verzichtet werden. Das Gebäude wird während der meisten Zeit des Jahres natürlich belüftet.
Auskragende Decken sorgen für Schatten und ermöglichen zugleich, dass die Faltelemente auch während der häufigen und starken Regengüsse des japanischen Sommers geöffnet bleiben können. Trotz der weit auskragenden Decken erhalten die Klassenräume natürliches Licht: Im Knick der L-förmigen Wand befindet sich ein Oberlicht, dessen Seitenwände die direkte Sonnenstrahlung als indirektes Tageslicht reflektieren. So ist es möglich, dass sich die Kinder an der hellsten Stelle des Raumes, im Zentrum des L, um ihren Lehrer gruppieren.
Umsetzung und Realisierung
Auf den Wettbewerbsgewinn folgt eine 12-monatige Entwurfsphase. Viele kritische Fragen an den Entwurf müssen beantwortet und praktisch erprobt werden. Eine besondere Herausforderung liegt in der Auseinandersetzung mit den beteiligten Lehrern. Zu Beginn der Umsetzung müssen viele Fragen geklärt werden: Würden die Lehrer überhaupt bereit sein, das Angebot offenerer Unterrichtsformen anzunehmen?
Und würden sie zustimmen, gemeinsam mit den Schülern jeden Tag die notwendige Regulierung des Raumklimas mit Hilfe der Schiebe­elemente vorzunehmen? Schließlich die wichtige Frage der Akustik: Würde die entwickelte kon­struktive Lösung dem Problem gerecht?
In Workshops mit Lehrern und Schülern bearbeiten die Architekten das Konzept in Uto. Kinder und Eltern können in Befragungen, in Gesprächsrunden und auf Zeichnungen ihre Wünsche äußern. Der Unterricht in den L-Klassen­räumen wird zusammen mit den Schülern in 1:1-Modellen getestet. Während dieser Phase ziehen der Projektleiter Kazuma Yamao und zwei weitere Mitarbeiter in das fast 1000 Kilometer von Tokio entfernte Uto um. In der Kleinstadt mit 40.000 Einwohnern am südlichsten Zipfel Japans leiten sie eineinhalb Jahre den Bau der Grundschule, bis sie im Juli 2011 eröffnet wird.
Im Herbst 2011 – die Uto Grundschule ist bereits einige Monate in Betrieb und die drei Mitarbeiter von CAt nach Tokio zurückgekehrt – beteiligen sich die Architekten an einem Schulwettbewerb in Chiba bei Tokio: Es geht um die dortige Nagareyama Schule, eine Grund- und weiterführende Schule. Der Entwurf stellt die Architekten vor neue Herausforderungen: Das Gebäude ist mit 22.000 Quadratmetern mehr als doppelt so groß wie jenes in Uto, der Altersunterschied der Schüler – und damit auch die Lernbedürfnisse – differieren stark, und im Norden Japans stößt das Open-School-Modell von Uto an klimatische Grenzen. Die Architekten greifen das System der L-Wände auf und passen es an. Die Funktion des Daches wird wichtiger. Die von den L-Wänden getragenen Geschossplatten zwischen den Baumgruppen erinnern an die goldenen Wolken japanischer Gemälde der Edo-Zeit. Die Architekten gewinnen auch diesen Wettbewerb – der Bau befindet sich zurzeit in der Planung. 
Fakten
Architekten Kazuhiro Kojima + Kazuko Akamatsu/CAt, Tokio
aus Bauwelt 25.2013
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