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Leben mit Weitsicht

Ein Berliner Symposium lotete das Potenzial von Großwohnsiedlungen aus

Text: Grünzig, Matthias, Berlin

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Großsiedlung als Chance. Grafik auf dem Symposiumsflyer

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Großsiedlung als Chance. Grafik auf dem Symposiumsflyer


Leben mit Weitsicht

Ein Berliner Symposium lotete das Potenzial von Großwohnsiedlungen aus

Text: Grünzig, Matthias, Berlin

Die Liebe zu den Großwohnsiedlungen „etwas hitziger“ werden zu lassen, wie es Senatsbaudirektorin Regula Lüscher formulierte, also das Bewusstsein für den Wert dieser Stadtteile zu stärken – das war Ziel eines Symposiums mit dem Titel „Leben mit Weitsicht – Großwohnsiedlungen als Chance“, zu dem die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung in Vorbereitung der IBA 2020 eingeladen hatte.
Während der Veranstaltung wurde schnell deutlich, dass die Großsiedlungen, zumindest international betrachtet, in der Tat ein zukunftsfähiges Stadtmodell darstellen: Laut Michael Koch von der HCU Hamburg werden derzeit mehr Großsiedlungen gebaut als jemals zuvor; in China und Indien stampft man sie ebenso aus dem Boden wie in Russland oder Singapur.

Ola Broms Wessel vom Stockholmer Architekturbüro Spridd versuchte der ungebrochenen Beliebtheit der Stockholmer Siedlungen auf den Grund zu gehen: Sie zeichneten sich durch eine attraktive Lage und eine gute Verkehrsanbindung aus. Zugleich räumte Wessel mit dem Vorurteil auf, Großsiedlungen müssten monostrukturelle Gebilde sein. Die Stockholmer Siedlungen seien von vornherein als sogenannte „ABC-Städte“ konzipiert worden, mit Wohnungen, Gewerbeflächen und öffentlichen Einrichtungen.
Auf den ökologischen Wert von Großsiedlungen wies die Stadtplanerin Ursula Flecken von der TU Berlin hin. Forscher der TU haben in Kooperation mit dem Berliner Kompetenzzentrum Großsiedlungen den Energieverbrauch in einer Großsiedlung und in einem benachbarten Gründerzeitviertel untersucht und miteinander verglichen – mit einem eindeutigen Ergebnis: Während das Gründerzeitviertel im Jahr 175 Kilowattstunden pro Quadratmeter (kWh/m2/a) an Heizenergie verbraucht, benötigt die Großsiedlung nur 100 kWh/m2/a. Ein Niedrigenergiehaus in der Großsiedlung verbraucht sogar nur 39 kWh/m2/a.
Dass Bauten in Großsiedlungen wandlungsfähiger sind, als man ihnen im Allgemeinen zutraut, bewies einmal mehr Jean-Philippe Vassal, der den Umbau eines Hochhauses in Paris vorstellte, das Lacaton & Vassal mit begrenzten Mitteln zu einem eleganten Wohnturm aufgewertet haben. Und Tobias Armborst vom New Yorker Büro Interboro referierte über den Umbau von Hochhauskomplexen in New York zu altersgerechten Wohnanlagen, deren Programm neben Wohnungen auch Geschäfte, Gaststätten, Arztpraxen und Pflegeangebote umfasst.

Gebautes Gesellschaftsmodell

Allerdings wurde auch deutlich, dass die Vorstellungen von Stadtplanern und die Wünsche der Bewohner mitunter weit auseinanderklaffen. Anschauungsmaterial dafür boten die kontrovers diskutierten Beiträge von Michelle Provoost vom International New Town Institute Almere und der Rotterdamer Architektin Jeanne van Heeswijk. Die beiden Planerinnen imaginierten Großsiedlungsbewohner, die ihre Umwelt aktiv gestalten, schwärmten von der „Organisation von Konfrontation“ , von „Vitalität“ und von „zivilem Ungehorsam“. Frank Bleika von der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft degewo, die mehrere Berliner Großsiedlungen besitzt, konfrontierte diese Vorstellung mit der praktischen Erfahrung, die er mit seinen Mietern gemacht hat: Viele wollten gerade keine „vitale“ und „betriebsame“ Stadt, sondern verlangten nach Ruhe, Ordnung und Bequemlichkeit. Die Bewohner würden die von Stadtplanern oft als steril empfundene Atmosphäre in den Großsiedlungen nicht als Problem, sondern als Vorzug betrachten.

Diese Kontroverse verweist auf eine grundsätzliche Fragestellung, die während des Symposiums nur angetippt wurde. Großsiedlungen verkörpern eben nicht nur eine bestimmte Auffassung von Städtebau, sondern auch ein Gesellschaftsmodell. Sie sind der gebaute Ausdruck des fürsorglichen Wohlfahrtsstaats. Zu diesem Modell gehört nicht nur die einheitliche Planung der Siedlungen, sondern auch ihre einheitliche Verwaltung durch Wohnungsgesellschaften, die den Bewohnern viele Dinge abnehmen. Diese Strukturen bieten weniger Freiräume für Spontaneität und Selbstorganisationsprozesse, aber ein Mehr an Bequemlichkeit und Service, was viele Menschen offenbar wünschen. Eines zeigte das Symposium ganz deutlich: Die Debatte über das Potenzial von Großwohnsiedlungen steht erst am Anfang. Weitere Veranstaltungen sind geplant.
Fakten
Architekten Spridd, Stockholm; Lacaton & Vassal, Paris; Interboro, New York
aus Bauwelt 14.2012
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