Bauwelt

„Manchmal wache ich nachts auf und frage mich, wie wir hierher gekommen sind“

Interview mit einer Bewohnerin des C.A.S.E.-Projekts in Sant’Elia.

Text: Kusch, Clemens F., Venedig

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Ulrich Brinkmann

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„Manchmal wache ich nachts auf und frage mich, wie wir hierher gekommen sind“

Interview mit einer Bewohnerin des C.A.S.E.-Projekts in Sant’Elia.

Text: Kusch, Clemens F., Venedig

Claudia De Domenico ist Bewohnerin des C.A.S.E.-Projekts in Sant’Elia. Clemens F. Kusch führte ein Gespräch mit ihr.
Frau De Domenico, Sie wohnten bis zum Erdbeben mit Ihrer Familie in der Altstadt von L’Aquila, wie verlief der Umzug hierher?
Unmittelbar nach dem Erdbeben am 6. April 2009 mussten wir ein Formular ausfüllen, in dem verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt wurden: Entweder man bekam eine bestimmte Summe Geld und suchte sich dann selbst eine Unterkunft, oder man nahm an diesem Projekt C.A.S.E. teil. Man konnte seine Präferenz für eines der Gebiete angeben, die auch meistens respektiert wurde. Eine andere Möglichkeit war, sich eine Mietwohnung zu nehmen, wobei die Miete mit dem Zivilschutz abgesprochen wurde, der dann auch die Zahlung übernahm. Wir haben uns für diese Unterkunft entschieden, da es die einzige erdbebensichere war. Meine Eltern haben sich eine Wohnung gemietet.

Sie sind sofort hier eingezogen, nachdem die Häuser fertiggestellt waren?

Ja, Ende Oktober 2009 sind wir hier eingezogen. Von April bis Oktober haben wir in unserem Haus am Meer gewohnt. Viele Aquilaner waren in Hotels untergebracht.

Wie setzt sich denn Ihre Nachbarschaft zusammen?
Die Wohnungen wurden als Erstes an Fami­lien mit Kindern vergeben, insbesondere an sol­che, deren Eltern in L’Aquila Arbeit hatten, dann an alte Leute und schließlich an Alleinstehende.

Wurde die Wohnung befristet vergeben?
Wir können hier wohnen bleiben, bis unser Haus in L’Aquila wieder aufgebaut ist. Das ist die Frist. Natürlich können wir jederzeit gehen, und wir ziehen das in Betracht, da sich alles sehr hinzieht.

Als Sie hier einzogen, war alles komplett eingerichtet.
Ja, das Haus war komplett eingerichtet, mit Möbeln, Waschmaschine und allem. Außerdem gab es Kisten voller Decken und allem möglichen Hausrat. Es wurde viel mehr als nur das Notwendigste bereitgestellt.

Wie hat sich der Alltag für Sie und Ihre Familie verändert?
Die Stadt gibt es nicht mehr. Es wurde so viel Energie aufgewendet, um diese Häuser hier zu bauen, dass keine Energie mehr blieb, um die Stadt wieder aufzubauen. Vielleicht hätte anders vorgegangen werden können. Wenn man mich gefragt hätte, ob ich ein Jahr lang in einem Zelt leben wolle, um dann in unser Haus zurückzuziehen, ich hätte sofort ja gesagt. Wenn ich fünf, sechs Jahr in einem Container hätte wohnen sollen, hätte ich es abgelehnt. Bezüglich dieser Häuser wurde keine klare Entscheidung getroffen. Sie haben gesagt, dass sie diese New Town bauen wollen, sie aber keine New Town sein soll. Das heißt, es gibt keinerlei Dienstleistungen. Wir haben Glück, dass in der Nähe ein Supermarkt ist, aber vielfach wurden die Häuser zwischen einsame Hügel platziert. Für viele alte Menschen ist es ein Drama. Auch in unserem Haus wohnen Ältere. Wenn ich nicht die Einkäufe für sie erledigen würde, müssten sie wegziehen.

Hat sich innerhalb des Quartiers so etwas wie ein Gemeinschaftssinn entwickelt? Gibt es gemeinsame Initiativen, die Lebensbedingungen zu verbessern?
Wir versuchen uns im Alltag zu helfen. Aber es gibt keine gemeinsamen Pläne für die Zukunft.

Eine radikale Veränderung ist wohl, dass Sie jetzt komplett vom Auto abhängig sind?

Ja, wir sind abhängig vom Auto. Und damit haben wir unsere Welt verloren. Vorher gingen die Kinder zu Fuß zur Schule. Sie sahen die mittelalterlichen Häuser und die Renaissancekirchen, die Plätze und Arkaden. Das war unsere Kultur. Wir machten alles zu Fuß, und es gab ein soziales Leben. Hier haben wir die gleichen Nachteile wie die, die in der Peripherie von Rom leben, ohne aber sagen zu können: Heute fahre ich zur Piazza di Spagna.

Wo gehen die Kinder zur Schule, und wie kommen sie dahin?
Wir bringen sie mit dem Auto. Es gibt keinen Schulbus. Der Linienbus, den mein Sohn, er ist 16, nimmt, fährt nicht direkt zur Schule, sondern dreht eine große Runde. Auch müssen die Kinder umsteigen. Heute hat er um 13.15 Uhr Schulschluss. Ich hole ihn ab, mit dem Bus wäre er erst um 15 Uhr zu Hause, mit dem Auto brauchen wir nur fünf Minuten.

Auch für die Einkäufe benötigen Sie das Auto?

Für alles. Wie gesagt, wir haben das Glück, dass es hier einen Supermarkt gibt und weiter unten eine Bar. Aber mehr ist nicht.

Der Jüngste geht in den Kindergarten?
Ja, in einen musp (Modulo unitario scolastico provvisorio – provisorische Schuleinheit). Diese Gebäude sind schön, aber wie die Häuser wurden auch sie mitten in die Landschaft gesetzt. Manchmal wache ich auf und frage mich, wie wir eigentlich hierher gekommen sind und was wir hier machen.

Gab es, seitdem Sie hier sind, noch einen Dialog mit der Verwaltung?
Nein. Zuerst war der Katastrophenschutz zuständig, dann die Gemeinde. Für jedes Problem gibt es eine Telefonnummer. Ansonsten gibt es keine Initiativen. Alles ist dem einzelnen Bürger überlassen. Und das Erdbeben hat uns auch alle Zeit genommen, die wir hatten. Ich gebe Klavierunterricht. Früher hatte ich im Zentrum ein Studio, und alle kamen zu mir, alle wohnten in der Nähe. Jetzt kommt einer von da, der andere von dort, und zu einigen fahre ich nach Hause, weil sie nicht zu mir kommen können. Es ist zum Verrücktwerden.   

Wenn man Sie nach Vorschlägen zur Verbesserung gefragt hätte, was wäre Ihrer Meinung nach machbar gewesen?

Mit Sicherheit ein Treffpunkt für die Kinder und die Jugendlichen. Und Räumlichkeiten für kulturelle Veranstaltungen.

Wissen Sie, ob die Situation in den anderen Gebieten ähnlich ist?
Sie ist schlimmer.

Abgesehen von der Tatsache, ein sicheres Dach über dem Kopf zu haben, gibt es irgendeinen Vorteil, hier zu wohnen?
Im Grünen zu wohnen und die Möglichkeit zu haben, in der Natur spazieren zu gehen, ist viel wert. Und die Ruhe.

Es wäre hier also erträglich, wenn es die Stadt geben würde?  
Zum Zeitpunkt des Erdbebens war meine Tochter zwei, sie hat keine Erinnerungen. Wenn ich ihr sage: Lass uns auf die Piazza gehen, fragt sie: Was ist das, eine Piazza? Jeden Mittwoch und jeden Samstag bringe ich sie in die Stadt. Das Problem ist, dass die Stadt leer ist. „Mama“, sagt sie, „bringst du mich wieder in diese Einöde, wo sich die streunenden Hunde beißen? Was sollen wir da?“ Die Jugendlichen fahren am Samstagabend in die Stadt. Sie haben einige Lokale eröffnet. Aber man hat mir gesagt, dass dort nur getrunken wird. In L’Aquila ist der Alkoholismus zum Problem geworden.

Und wie sieht es aus mit dem gesellschaftlichen Leben der Erwachsenen?

Gegen 22 Uhr sehe ich meine Freundin, und wir machen einen Spaziergang, vorher habe ich keine Zeit. In L’Aquila wohnten wir alle nah beieinander und sahen uns mal eben auf einen Kaffee. Jetzt leben alle weit voneinander entfernt und sehen sich kaum.

Wohnen hier viele alte Menschen?
Nein, hier gibt es nur wenige. Paradoxerweise wurden den alten Leuten die Häuser zugeteilt, die am weitesten von Läden und Geschäften entfernt sind. Also sind sie auf Unterstützung angewiesen. Abgesehen von der Arbeit und der vielen Fahrerei müssen auch noch die Eltern versorgt werden, ihnen die Einkäufe gemacht, sie zum Arzt gefahren werden.

Man hat den Eindruck, nach der ersten Phase, in der die Häuser gebaut wurden, fehlt die zweite, in der die Dienstleistungen hätten realisiert werden sollen.
Die Gemeinde wollte es so. Die Politiker sagten, wenn hier in jeder Hinsicht eine New Town entsteht, gehen die Leute nie wieder weg. Denn nicht allen geht es hier schlechter als vorher. Wer zum Beispiel früher zur Miete wohnte, muss hier nichts zahlen, oder wer nur eine winzige Wohnung in der Stadt hatte, hat hier jetzt viel mehr Platz.

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