Mies’ langer Schatten
Ein Besuch am Berliner Spreedreieck
Text: Meyer, Friederike, Berlin
Mies’ langer Schatten
Ein Besuch am Berliner Spreedreieck
Text: Meyer, Friederike, Berlin
Eine Ausstellung im sanierten Tränenpalast am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin erinnert an die deutsche Teilung. Der Besuch gibt Gelegenheit für einen Blick auf die Bauten der berühmten Nachbarschaft.
Drei Gruppen von Menschen gibt es im Bahnhof Berlin-Friedrichstraße. Die Roten reisen nach Ostberlin, die Blauen kommen zurück in den Westen. Die Grauen sind DDR-Bürger ohne Reisegenehmigung. So war das bis 1989. Ein Modell zeigt das Labyrinth aus Gängen, Kontrollschleusen und Laufgittern, das die DDR in den als Grenzübergang genutzten Bahnhof Friedrichstraße gefräst hatte. Die neu eröffnete Ausstellung des Hauses der Geschichte „Grenzerfahrungen. Alltag der deutschen Teilung“ erzählt vom All-tag an der Grenze, von den politischen Hintergründen ebenso wie von Schülerreisen, Schmuggelware und ausgereisten Prominenten. Und sie lässt uns mit beigefarbenen Präsentationsmöbeln, kofferförmigen Vitrinen und den originalen Passkontrollkabinen die Atmosphäre der ehemaligen Abfertigungshalle nachempfinden, in der sie aufgebaut ist. Als Tränenpalast ist diese Halle bekannt geworden. Architekt Horst Lüderitz hatte sie 1962 neben dem Bahnhof als halb im Boden versenkten Pavillon entworfen, mit Glasfassade und einem geneigten Dach.
Erfüllte Träume
Nach dem Mauerfall ist der Tränenpalast zu einem Symbol der Freiheit geworden, 15 Jahre lang diente er als Veranstaltungshalle, wurde 2003 unter Denkmalschutz gestellt. 2006 verkaufte ihn der Berliner Senat samt Grundstück an den Hamburger Investor Harm Müller-Spreer. Für die Dauerausstellung mietet das bundeseigene Haus der Geschichte den Tränenpalast nun zurück. Müller-Spreer hat ihn sanieren lassen. Die alten Fenster wurden durch neue Scheiben ersetzt; sie sind gegossen, um den ursprünglichen Eindruck zu erhalten. Die Gipselemente an der Decke wurden teilweise nachgebildet, eine Heizung wurde eingebaut, der Platz drum herum sorgfältig gepflastert. Soweit geht das in Ordnung.
Geplatzte Träume
Müller-Spreers Grundstück aber reicht bis an die Friedrichstraße. Dort steht seit einiger Zeit ein Bürohaus, in dem die Wirtschaftsprüfergesellschaft und Rechtsanwaltskanzlei Ernst & Young mehrere Etagen gemietet hat. Die Fassade mit den vertikalen Lisenen wirkt aus vielen Blickwinkeln verschlossen, die Farbe des Aluminium erschreckend dunkel, vor allem aber wirkt der Bau unproportioniert. Die vielstimmige Kritik am Haus zielte jedoch weniger auf den inzwischen verstorbenen Architekten Mark Braun oder auf das anschließend weiter planende Büro Bollinger + Fehlig. Sie waren lediglich Spielball in einem Konflikt zwischen Senat und Investor, der sich um Baurecht und Kaufverträge drehte, und zu einem Finanzskandal der Berliner Baupolitik geworden ist. Erst hatte die Stadt einen ihr gar nicht gehörenden Teil des Spreedreiecks an Müller-Spreer verkauft (Eigentümerin war die Deutsche Bahn), dann einen Teil des ohnehin geringen Kaufpreises von 17,2 Mio. Euro als Entschädigung zurückgezahlt und obendrein Zugeständnisse in der Bauhöhe gemacht. Schließlich klagten die Nachbarn wegen Verschattung, auch sie wurden entschädigt. Immer wieder änderten sich die baulichen Vorgaben, zuletzt wurde die Höhe gestutzt.
Durchschnittliche Bürobauten stehen vielerorts in der Stadt und dies alles wäre nicht weiter erwähnenswert, gäbe es da nicht noch diese berühmte Zeichnung, die Mies van der Rohe für das Grundstück im Jahr 1921 angefertig hatte. Sein Hochhaus-Entwurf gehört zu den Ikonen der Architekturgeschichte. Und obwohl Mies bei der Darstellung des gläsernen 20-Geschossers auf amöbenförmigem Grundriss aus der Perspektive der Fußgänger maßlos übertrieben hatte, gilt seine Kohlezeichnung als Messlatte für alles, was seitdem für das dreieckige Grundstück erdacht wurde. Jahrzehnte lang war das Spreedreieck Projektionsfläche für die Großstadtträume von Architekten und Stadtplanern – die Berliner Realität hat sie zunichte gemacht.
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