Migration und Wirklichkeit
Text: Cârstean, Anca, Bonn
Migration und Wirklichkeit
Text: Cârstean, Anca, Bonn
Auf der Suche nach einer „multiethnischen Baukultur“ in Deutschland, abseits der spektakulären Schauplätze: sechs Fallbeispiele und ein Interview
Die Debatte um eine multiethnische Baukultur wird in der Öffentlichkeit gerne auf den Aspekt der Religion verkürzt: Doch nicht alle Migranten sind Muslime, und auch deren Alltag spielt sich größtenteils außerhalb von Moscheen ab. Fasst man unter dem Begriff Baukultur nicht nur Architektur, sondern auch deren Nutzung, Wahrnehmung, Umdeutung und Aneignung, ergibt sich ein anderes Bild: Migration ist ein vielfältiger, komplexer Prozess, der sich nicht in ein bestimmtes Raster einordnen lässt.
Die Gesellschaft wird zunehmend kosmopolitischer, doch als Herausforderung für Architekten und Planer werden diese Veränderungsprozesse bislang kaum gesehen. Im Zusammenhang mit Stadtentwicklung wird Migration eher als eine Frage der Integration in „Problemvierteln“ verhandelt, weniger als Gestaltungsaufgabe. Doch was geschieht zwischen den Szenarien von „Kosmopolis“ einerseits und abgehängten Quartieren andererseits, wie sieht die migrantische Realität in Deutschland aus?
Die Fallbeispiele auf den folgenden Seiten, die im Rahmen des Forschungsprogramms Experimenteller Wohn- und Städtebau recherchiert wurden, dokumentieren ein Stück gebauten Alltags. Untersucht wurden verschiedene städtebauliche Strukturen und Gebäudetypologien, vom Dorf bis zur Innenstadt, vom Einfamilienhaus- bis zum Gewerbegebiet. Die Orte liegen in Frankfurt am Main und Umgebung, im Siegerland und im Ruhrgebiet: ein unspektakulärer Querschnitt, der auch in anderen Regionen denkbar gewesen wäre. Wie nutzen Migranten Städte und Wohnorte? Wie werden bestehende Räume codiert und umcodiert? Braucht eine zunehmend von Migration geprägte Gesellschaft neue Gebäudetypologien und andere öffentliche Räume – oder sind diese vielleicht bereits ohne Planung entstanden?
Die „Formen der Neugestaltung geschehen nicht in mythischen Integrationskonzepten, sondern vor allem in den Niederungen des Alltäglichen“, schreibt der Soziologe Erol Yildiz. Mit einem unglaublichen Pragmatismus haben sich Einwanderer baulich eingerichtet, sich Räume angeeignet und umgeformt. Oft sind es Notlösungen und Provisorien, aus denen Ansätze für die Quartiersentwicklung formuliert werden können: eine Baukultur „as found“, die es weiterzuentwickeln gilt. Doch dazu müssen Planer und Architekten die „neue“ soziale Grammatik erst einmal verstehen: die Bilder, Symbole und Versatzstücke, die aus der ersten Heimat mitgebracht werden, die subtilen Zeichen, die Alltagsroutinen, die Nutzung öffentlicher und privater Räume.
Daher kann es bei der Suche nach einer migrantischen Baukultur nicht um die Reproduktion ethnischer Traditionen und Bauweisen gehen, nicht um eine Festschreibung auf bestimmte Räume und Wohnformen, wie es etwa in früheren wissenschaftlichen Überlegungen zum „Wohnungsbau für Migranten“ angedacht wurde. Das Problem der Zugehörigkeit hat mit solchen räumlichen Angeboten wenig zu tun.
Migration nicht länger als gesellschaftliches oder politisches Problem zu betrachten, sondern als Gestaltungsmöglichkeit – dieser Ansatz öffnet einen neuen Blick auf Gebäude und Stadträume. Baukultur ist dann nicht nur eine Entwurfsaufgabe, sondern auch eine Aufgabe des Erkennens, Aufgreifens und Verstehens. Es geht um eine Kultur des Bauens im Sinne einer Kultur des Zusammenlebens.
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