Bauwelt

Nest mit doppeltem Boden

Über das Wohnen im Alter

Text: Lüdtke, Insa, Berlin

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Foto: Uwe Dettmar

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Nest mit doppeltem Boden

Über das Wohnen im Alter

Text: Lüdtke, Insa, Berlin

Die Frage, wie Menschen im Alter wohnen wollen, ist rhetorischer Art: „So lange es geht – am liebsten zu Hause.“ Und siehe da, der Wunsch ist schon Wirklichkeit! Laut einer Studie des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung von 2011 leben hierzulande 93 Prozent der Menschen jenseits der 65 im privaten Haushalt. Ist also alles gut?
Aktuell erfüllen laut Erhebungen der Wohnungsverbände etwa 550.000 Wohneinheiten in Deutschland, also 1,5 Prozent des Wohnungsbestands, einen „barrierearmen Standard“. Nach Prognosen des Ku­ratoriums Deutsche Altershilfe (KDA) wird in 15 Jahren ein Viertel der Bewohner deutscher Privathaushalte 70 Jahre und älter sein. Gilt das Bauen im demografischen Wandel für Architekten also längst als Arbeitsfeld mit Zukunft? „Ganz und gar nicht“, sagt die Kuratorin Annette Becker, „bei der Projekt-Recherche stießen wir bei Architekten auf ein erschreckend stereotypes Bild vom Alter.“
In die Ausstellung führt den Besucher eine Portraitserie alter Menschen von Barbara Klemm ein. Wenn auch schwarz-weiß, so zeigen die Aufnahmen die ganze Buntheit des Alters. Was aber hat das gläserne „Picture Window House“ von Shigeru Ban mit der Thematik zu tun? Wie der Erläuterungtsext mitteilt, lebt hier ein Witwer, allein. Neben einem Töpferatelier war eine ausreichende Anzahl von Gästezimmern gewünscht. Sonst ließ der Bauherr dem Architekten freie Hand. Der schmale zweigeschossige Riegel wurde selbst zum Rahmen für den eindrucksvollen Panoramablick auf den Pazifik. Das „Alter“, sinnbildlich als Frage der weiten Perspektive? Gerade heute, wenn mit dem Eintritt ins Rentenalter nicht zwangsläufig das leibliche Ende nahen muss, sondern im Gegenteil mit der dritten Lebensphase für immer mehr sogenannte „best ager“ eine höchst aktive Lebensphase beginnt. So ist es nur konsequent, dass auch eine Villa in Berlin (David Chipperfield Architects, 1996) gezeigt wird. Sie liegt am Hang und ist für die Bauherren – ein mittlerweile in die Jahre gekommenes Ehepaar – nur über eine langgestreckte Freitreppe zu erreichen.
Bauten aus aller Welt unterstreichen trotz aller kultureller Unterschiede die Universalität des Themas: Japan etwa weist eine noch problematischere Demografie auf als Deutschland. Neben Villen von Shigeru Ban, Sou Fujimoto, Atelier Bow-Wow und David Chipperfield für ältere Bauherren stehen Mehr­familienhäuser mit Gemeinschaftsflächen von Will Alsop, Baumschlager Eberle und Fink + Jocher im Blickpunkt. Altersgerechter Umbau in der Schweiz und Deutschland wird ebenso thematisiert wie betreutes Wohnen in Luxemburg sowie ein ganzes revitalisiertes Dorf in Italien.
„Die 35 präsentierten Wohnungsbauten zeigen, dass Wohnen im Alter im besten Fall die bestehenden Lebensgewohnheiten fortsetzen kann“, unterstreicht Museumsdirektor Peter Cachola Schmal das Konzept der Ausstellung. Die Projekte stehen beispielhaft für die unterschied­lichen Lebensmodelle: alleinstehend im Einfamilienhaus, zusammen mit anderen im gemeinschaftlichen Wohnprojekt oder im mehrgeschossigen Wohnbau mit selbstorganisierter Nachbarschaftshilfe. So unterschiedlich die bau­lichen Lösungen auch sein mögen, die Erwartungen ihrer Bewohner scheinen sich zu ähneln: mit Bett, Sofa, stilisierten Sesseln, Esstisch und Küchenzeile wird in der Ausstellung eine gediegene Wohnlichkeit simuliert. Auf einer Ebene gruppieren sich großzügig angelegte, lichtdurchflutete Raumzonen um das verglaste Atrium des DAM und lassen eine Vielzahl von Blickbeziehungen entstehen. So erschließt sich die Blaupause einer Wohnung und die Erkenntnis, dass Wahlmöglichkeiten zwischen Rückzug und Gemeinschaft, hell und dunkel, innen und außen die Basis guten Wohnens schaffen – für jedes Alter.
„Alter“ wird häufig mit Rückzug assoziiert. Die Schau verweist zu Recht auf die sozialen Aspekte jenseits der Architektur: Wohnen im Alter erfordert ein generationenübergreifendes soziales Netzwerk als doppelten Boden. Dies bedingt einen individuellen, aber eben auch einen kollektiven Bewusstseinsprozess, der nicht früh genug beginnen kann. Damit in Zeiten wachsender Pluralisierung selbstbestimmte Lebensformen gelingen können, braucht es Anregung und Austausch. Das Begleitprogramm der Ausstellung bietet zahlreiche Podiumsdiskussionen und Vorträge bis hin zur individuellen Wohnberatung.
Statisch gesehen beginnt mit rund 75 Jahren der so genannte vierte Lebensabschnitt, und Aspekte körperlicher und geistiger Einschränkung, Krankheit und Abschied kommen hinzu. Was dann? Wie sollte eine Architektur beschaffen sein, die diesen Entwicklungen gerecht wird? Was also, wenn Demenz das Leben in der bisherigen Umgebung unmöglich macht? Das, so antworten die Macher der Ausstellung, sei dann wohl eher eine medizinische Frage und wäre ein anderes Ausstellungsthema. Die gezeigten Bauten bekräftigen letztlich nur einen schmalen Ausschnitt des Panoramas einer älter werdenden Gesellschaft. Um vitale und kaufkräftige Senioren muss man sich wenig Sorgen machen. Spannend wäre es, wenn aus dem sozialen Umbruch, der hierzulande ohne historisches Vorbild abläuft, auch neue architektonische Impulse entstehen würden.
Fakten
Architekten Chipperfield, David, London/Berlin; Ban, Shigeru, Tokio; Fujimoto, Sou, Tokio; Atelier Bow-Wow, tokio; Alsop, Will, London; Baumschlager Eberle, Lochau; Fink+Jocher, München
aus Bauwelt 13.2013
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