Bauwelt

Offen für Zaungäste

Genossenschaften als Stadtproduzenten

Text: Crone, Benedikt, Berlin

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wagnis 1 im Ackermannbogen, München
Foto: Benedikt Crone

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"Supermarkt" im Brunnenviertel, Berlin-Mitte
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"Supermarkt" im Brunnenviertel, Berlin-Mitte

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Offen für Zaungäste

Genossenschaften als Stadtproduzenten

Text: Crone, Benedikt, Berlin

Genossenschaften stehen für bezahlbaren Wohnraum in gemeinschaftlicher Atmosphäre. Das kann auch der Nachbarschaft nutzen – wenn die Genossenschaft denn will
„Privatgrund“, warnt ein Schild vorm Betreten der Caroline-Herschel-Straße 25–27 in der Messestadt Riem. Das Schild wacht an einem Pfad, der vorbei an Blumenkübeln, bunten Kinderfahrrädern und den Haustüren zweier viergeschossiger Wohnhäuser führt. Am Ende des Weges öffnen sich Gärten zu einer Wiese. Diejenigen, die nicht wollen, dass ihnen das gesamte Neubaugebiet über den Rasen trampelt, sind Genossenschaftler der Münchener WOGENO. Mehrmals wurden die 2001 fertiggestellten Häuser für ihre naturbelassenen Freiräume ausgezeichnet, an deren Pflege sich die Bewohner gemeinsam beteiligen. Ein grünes Idyll – zumindest für die, die hier wohnen. Kann und sollte vom Gemeinschaftsglück einer Genossenschaft aber nicht auch die Stadt jenseits der Grundstücksgrenzen profitieren?
Genossenschaften sind per Definition am Gemeinwohl ihrer Mitglieder interessiert. Während Baugruppen kollektiv kaufen, um individuell zu besitzen, leistet jeder Genossenschaftler seinen Beitrag, um gemeinsam zu wohnen. Oft geht es den Mitgliedern nicht nur um ein günstiges Dach über dem Kopf, sondern auch um die sozialen Vorzüge: Gemeinschaftsräume, Nachbarschaftshilfen, Mitspracherecht. Im Kampf gegen das anonyme Großstadtleben, eine Vereinsamung im Alter und die steigende Zahl an Single-Haushalten wollen Genossenschaften gerade mit einem Wir-Gefühl punkten, versprechen dörfliche Geborgenheit und alternative Wohnformen. So serviert in Zürich eine „Küchenkomission“ den 53 Bewohnern der Genossenschaft Karthago jeden Werktag ein warmes Abendessen im Gemeinschaftsraum, und die Bewohner der Ausgburger Neue Wege eG veranstalten neben Frauenrunden und Männertreffs zwei Tage im Jahr einen gemeinsamen Garten- und Hausputz. Dem Wunsch, in der Großstadtwüste eine wohlige Gemeinschafts-Oase zu pflegen, folgt jedoch oft der Gedanke, man müsse sich nicht nur zueinander hin-, sondern auch von der Nachbarschaft abwenden.
Schutz vor der Außenwelt
Bereits in den turbulenten Zeiten des 19.Jahrhunderts, als die ersten Genossenschaften aus der Wohnungsnot geboren wurden, sollten ihre Bewohner auch vor den Gefahren der Außenwelt beschützt werden. Draußen tobte der Sturm der Moderne. Menschen strömten in die Städte, soziale Bindungen wurden gekappt, Land aufgekauft, Kapital angehäuft. Traumatisiert vom Wohnelend englischer Arbeiter, zog Victor Aimé Hubert, ein Großvater der deutschen Baugenossenschaften, von Stadt zu Stadt und predigte das Finanzierungsmodell als goldenen Weg des bezahlbaren und christlichen Zusammenlebens. In der das Abendland umwälzenden Zeit sollten Genossenschaften vor allem eins bieten: einen Ort der Beständigkeit.
Landflüchtige fanden hier, in den begrünten Innenhöfen und den beschaulichen Wohnsiedlungen des frühen 20. Jahrhunderts, die Überschaubarkeit des Dorflebens wieder – angereichert mit dem Wunsch nach egalitären Wohnverhältnissen. „Wir bauen nicht Häuser, sondern errichten Heimstätten, die den Charakter eines geschlossenen Gemeinwesens haben“, schwärmte 1901 der Redakteur Karl Munding in der Hauspostille des Berliner Spar- und Bauvereins. „In die Weichbilder der Städte hinein schieben wir die Grundrisse neuer, in sich selbstständiger kleiner Stadtstaaten.“ Dieser Stadtstaat mit eigener Mitgliedersatzung unterhielt, was später in Teilen vom Sozialstaat übernommen wurde: Kindergarten, Bibliothek, Gesangsverein, Badeanstalt, Wirtshaus. Ein sozialer Gewinn für die Mitglieder – selten aber für die Nachbarschaft.
Das Prinzip einer schützenden „Burg“ durch­zieht die letzten 120 Jahre Genossenschafts­geschichte. Die Gestaltungsmittel der Abschottung sind dabei stets die gleichen: keine Einrichtungen zur Straßenseite, stattdessen eine Konzentration auf Hinterhöfe, Erschließung der Wohnungen nur durch innenliegende Treppen, ein abgelegener Freizeitkeller oder eine über Umwege erreichbare Dachterrasse, dazu eine Vielzahl an Hecken, Zäunen, Mauern, aber auch Grünflächen, mit denen sich vor allem die Großsiedlungen der 60er und 70er Jahre auf Distanz zur Stadt halten.
Weniger Burg, mehr Magnet
Den genossenschaftlichen Burgen steht das Prinzip „Magnet“ gegenüber, bei dem Räume und Einrichtungen wie Kitas, Cafés, Spielplätze, Arzt-Praxen oder Veranstaltungsflächen Nachbarn und Passanten anlocken. Entscheidend ist die geschickte Kombination beider Prinzipien: Das Quartier wird besser mit der Nachbarschaft vernetzt, den Mitgliedern bleiben aber weiterhin Orte als interne Gemeinschaftsräume vorbehalten. Ein Vorzeigebeispiel für ein ausgewo­genes Verhältnis von Privat-, Genossenschafts-, und Quartiersräumen wurde 2004/05 nach Plänen des Freisinger Büros A2 Architekten in München auf einem alten Kasernengelände unweit des Olympiaparks fertiggstellt. Der Wohnkomplex wagnis1 „Am Ackermannbogen“, dessen 92 Wohnungen sich auf vier Häuser verteilen, war das erste Projekt der 2000 gegründeten Wohnbaugenossenschaft wagnis eG.
Deutlich wird das Zusammenspiel von Privat- und Gemeinschaftsbereichen vor allem beim Wohnriegel Rigoletto. Hier können sich die Bewohner des 2. und 4.Obergeschosses in ihre Wohnungen und auf einen Balkon zur Parkseite zurückziehen; auf einem Laubengang an der Hofseite, der die Wohnungen erschließt, kommen Nachbarn jedoch auch regelmäßig aneinander vorbei – und ungezwungen in Kontakt. Vor dem 1,30 Meter breiten Laubengang konnten sich die Bewohner zusätzlich ein 3,50 Meter tiefes „Frühstücksdeck“ mit Sitzbänken anbauen lassen, ein beliebter Treffpunkt unter den Genossenschaftlern – nicht nur für das gemeinsame Frühstück. Vom Laubengang geht es durch die Treppen hinab in den Innenhof zu einem öffentlich zugänglichen Begegnungsort: die Kulturpassage. Die Passage, ein Durchgang zum östlichen Außenbereich, ist mit einem Scheinwerfersystem für Musik- und Theatervorstellungen ausgestattet. „Solche Events wären ohne Mitwirken des gesamten Quartiers gar nicht denkbar“, sagt Elisabeth Hollerbach, Geschäftsführerin von wagnis. Außerdem lockt jeden Mittwoch ein Wochenmarkt die Nachbarschaft in die Passage. Dazu sitzen in einem Eckcafé am Südende des Riegels die wagnis-Bewohner Tisch an Tisch mit Besuchern und Ortsfremden, verspeisen Thai-Curry, Apfelstrudel und den Salat des Hauses, Rigoletto.
Abfallprodukte vermeiden
Zu den Zielen der wagnis eG gehört autoreduziertes Wohnen – doch der geforderte Stellplatzschlüssel führte dazu, dass am Ende die Tiefgarage doppelt so viel Parkfläche bot, wie benötigt. Mit den Bundes-Fördergeldern des ExWoSt-Programms konnte nachträglich ein Teil der Tiefgarage zur KreativGarage mit Werkstatt, Musikstudio und Medienraum umgebaut werden. Seit 1994 trafen sich die zukünftigen Bewohner von wagnis regelmäßig. Ab 2001 planten sie in Arbeitsgruppen und Workshops mit Zeichnungen, Bauklötzen und Schuhkartons an ihrem neuen Zuhause. „Man muss sich dabei nicht immer lieben“, sagt Hollerbach, aber gerade durch das Arbeiten am gemeinsamen Ziel entstanden erste Freundschaften. Wichtig war: Gemeinschaftsräume sollten keine Abfallprodukte werden, an abgelegenen Orte verstaut, sondern von allen Bewohnern leicht zu erreichen sein. Doch eine gute Planung allein reicht nicht; nach dem Bau muss ein Kreis an Zustän­digen dafür sorgen, dass Gemeinschaftsräume auch genutzt werden können.
In wagnis regelt das die „NachbarschaftsBörse“, organisiert vom Verein Ackermannbogen. Die Vereinsmitglieder, die allesamt im Viertel wohnen, planen Veranstaltungen und verwalten die Raumbelegungen. Auf der Webseite des Vereins können Freizeiträume im gesamten Viertel des Ackermannbogens gebucht werden – unabhängig davon, ob man Mitglied bei wagnis ist. Gerade der gemeinsame Auftritt des Viertels im Internet und eine halbjährige Quartierszeitschrift machten das lokale Netz für alle Anwohner sichtbar. Den Großteil der dafür nötigen Arbeit stemmen Ehrenamtliche. Inzwischen hat aber auch die Stadt das gemeinschaftsbildende Potenzial erkannt und zahlt dem Verein die halbe Stelle einer „Quartiersmanagerin“, unterstützt von 400-Euro-Kräften. Wegen der guten Erfahrung hat München in der Messestadt Riem für das Folgeprojekt wagnis 3 der Genossenschaft das Grundstück für einen Nachbarschaftstreff kostenfrei überlassen.
Öffentliche Privatsache
Es dauerte eine Weile, bis sich die Stadt auf wagnis zubewegte. Schließlich ist eine Genossenschaft nach wie vor ein Unternehmen und eine Sonderbehandlung bedarf einer guten Begründung. Kommunen, die gemeinschaftlichen Wohungsbau fördern, erhoffen sich in der Regel nicht nur bezahlbaren Wohnraum, sondern mit dem Geist der Baugemeinschaften das öffentliche Leben auch am Leben zu erhalten. So bevorzugt Freiburg seit den Neunzigern beim Verkauf eigener Grundstücke die Baugruppen, die eine starke soziale und ökologische Ausrichtung haben. Tübingen vergibt Land ebenfalls vorrangig an Baugemeinschaften, solange im Erdgeschoss Raum für Gewerbe vorgesehen ist. Hamburg unterstützt seit 2003 mit der „Agentur für Baugemeinschaften“ Menschen, die gemeinschaftlich bauen wollen, mit Beratungen bei Planungen und dem Grundstückskauf. Die Hansestadt verspricht sich davon, vor allem junge und lokalinteressierte Bewohner in ihren Kerngebieten zu halten und so zu verhindern, dass diese zur Wohlstandsödnis verkommen. Bereits 20 Prozent der städtischen Wohnbaufläche sind für Baugemeinschaften reserviert.
Die meisten Genossenschaften aber bauen nicht einfach nur neu, sondern müssen sehen, wie sie in ihren gigantischen Beständen von bis zu 15.000 Wohnungen das Gemeinschaftsklima mit gezielten Eingriffen aufrecht erhalten. So ließ zum Beispiel die Pro Leipzig eG 2006 fünf Gebäude ihrer 70er-Jahre-Großsiedlung in Grünau wegen Leerstands abreißen. Als Lückenfüller der 3200 Quadratmeter großen Fläche planten Mieter und Anwohner mit dem Archi­tek­turbüro cet-01 Gemeinschaftsgärten. Nach Fertigstellung 2008 wurden die Grünräume zum Treffpunkt, für die Genossenschaftler und für die Nachbarn. Eine Grundschule nutzt das Areal an sonnigen Tagen als „grünes Klassenzimmer“.
Begegnungen im Supermarkt
Für diese Integrationsmaßnahmen sind Genossenschaften oft auf ein Entgegenkommen der Stadt angewiesen. Ideen und Anregungen liefern dagegen die Bewohner selbst. Dass die nicht mal Mitglied der Genossenschaft sein müssen, zeigt eine Privatinitiative im Brunnenviertel des Berliner Stadtteils Wedding. Im Erdgeschoss eines 80er-Jahre-Wohnriegels eröffneten Ela Kagel, David Farine und Zsolt Thomas Szentirmai 2012 ihren „Supermarkt“ in den Räumen eines ehemaligen Einkaufmarktes. Ihre Vermieterin, die degewo, besitzt in dem Quartier 70 Prozent des von Sozialwohnungsbau geprägten Bestandes. Im Sinne eines „Straßenbelebungskonzeptes“ will die Genossenschaft hier vor allem das lokale Gewerbe ausbauen, darunter auch Cafés, Galerien und Modegeschäfte – schon wird gemunkelt, die Kreativen eroberten das Brunnenviertel, wovon bisher aber wenig zu spüren ist.
Auch der Supermarkt wirkt auf den ersten Blick wie eine klassische Gentrifizierungs-In­stitution, will aber dem gesamten Quartier und nicht nur den üblichen Kreativen dienen. Auf 600 Quadratmeter Fläche entstand ein Café und ein Veranstaltungsraum mit Platz für Konferenzen, Workshops und dem sogenannten Co-Working, bei dem Menschen in einem Raum aber unabhängig voneinander arbeiten. Die Zielgruppe: junge Freiberufler und Start-Ups der Umgebung. Damit die erhofften Entwicklungen an den übrigen Anwohnern aber nicht vorbei oder über sie hinweg gehen, stehen auch immer wieder Diskussionsabende zur Zukunft der Stadt und des Brunnenviertels auf dem Programm des Supermarkts – mit den Bewohner des Viertels und Vertretern der degewo.
Wenn Projektentwickler kein Interesse am Funktionsmischen haben und private Häuslebauer sich in den als Townhouse bezeichneten Reihenhäuser verbarrikadieren, ist das eine Sache. Genossenschaften haben die Möglichkeit, es anders zu machen – und ihr Stückchen Land nicht nur als „Privatgrund“ zu sehen. Dass diese Einstellung auch von den Mitgliedern konsequent vertreten werden muss, zeigt ein Leserbrief in der Quartierszeitschrift des Münchener Ackermannbogen. Darin bedauert eine Anwohnerin, dass ein Vater angeklagt wurde, der auf dem Spielplatz einer Genossenschaft sein Kind schaukeln ließ – was nun andere Kinder vom Spielplatz fernhalten würde. Der Vorschlag, den Spielplatz fortan mit „Privat“ zu kennzeichnen, wurden von den Genossenschaftlern allerdings mehrheitlich abgelehnt.

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